»Moby Dick«: Die letzte Fahrt der Essex
Mit seinen 23 Jahren hatte Owen Chase wahrscheinlich mehr gesehen und erlebt als die meisten Gleichaltrigen. Mindestens dreimal, wenn nicht öfter, hatte er Kap Hoorn umrundet. Er wusste, wie man dem größten räuberischen Säugetier der Erde, dem Pottwal, die Lanze in die Eingeweide trieb, damit er an inneren Blutungen erstickte. An Bord der Essex mit 21 Mann Besatzung hatte er es zum Ersten Steuermann gebracht, dem Ranghöchsten nach dem Kapitän. Doch was er jetzt zu Gesicht bekam, verschlug ihm die Sprache. Ein vielleicht 80 Tonnen schweres, mehr als 25 Meter langes Ungetüm rauschte, weiße Gischt vor sich herschiebend, schnurstracks auf sein Schiff zu.
»Vergeltung, Rache, ewige Arglist standen ihm an der Stirn geschrieben, und allem Menschenwerk zum Trotz rammte der weiße Kloben dieser Stirn den Steuerbordbug des Schiffs, dass Masten und Mannschaft taumelten. Manche warf es längelang hin aufs Gesicht […] Drunten hörten sie den Wildbach des Wassers durch das Leck einströmen.« So schilderte drei Jahrzehnte später Herman Melville im letzten Kapitel des Romans »Moby Dick« die Attacke des weißen Wals auf das Schiff seines Protagonisten Kapitän Ahab. Was den Männern der Essex am Vormittag des 20. November 1820 inmitten des Pazifiks zustieß, war freilich keine literarische Fiktion. Und während sie fassungslos auf das sinkende Wrack starrten, ahnten sie nicht, dass ihnen das Schlimmste erst bevorstand.
Dürftige Ausbeute im Atlantik
Ein Jahr und etwas mehr als drei Monate war es her, dass die Essex den Heimathafen auf Nantucket, einer Insel an der US-Atlantikküste, verlassen hatte. Übermäßig erfolgreich war die Reise anfangs nicht verlaufen. Bereits nach drei Tagen auf See war der Dreimaster in einer heftigen Windbö gekentert, hatte sich zwar von selbst wieder aufgerichtet, aber erheblichen Schaden erlitten und zwei der fünf mitgeführten Fangboote eingebüßt. Bei einem Zwischenstopp auf den Kapverden konnte die Mannschaft nur ein Ersatzboot auftreiben.
Ein einziges Mal war es im Atlantik gelungen, einen Wal zu erlegen. Etwas später wäre wegen der miserablen Verpflegung fast eine Meuterei ausgebrochen. Bei Sturm, peitschendem Regen und Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt hatte sich das Schiff mehr als vier Wochen lang um die Südspitze des amerikanischen Kontinents Kap Hoorn herumgekämpft und im Januar 1820 die Insel Santa María vor der chilenischen Küste erreicht. Bei einem Zwischenstopp im heutigen Ecuador war ein Mann der Besatzung von Bord desertiert. Immerhin waren mittlerweile 800 Fässer, die Hälfte der mitgeführten Behältnisse, mit Walöl gefüllt, und Kapitän George Pollard war guten Mutes, am Ende mit einer vollen Ladung der kostbaren Substanz nach Hause zu kommen. Bevor seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Erdölvorräte der Welt in größerem Umfang erschlossen wurden, war das ausgelassene Fett der Wale der heiß begehrte Brennstoff des frühindustriellen Zeitalters. Er hatte die gut 7000 Einwohner Nantuckets reich gemacht.
Die Insel vor der Küste des US-Bundesstaats Massachusetts ist heute ein mondäner Badeort. Im frühen 19. Jahrhundert galt sie als die Welthauptstadt des Walfangs. Englische Siedler hatten sich erstmals 1659 auf dem Eiland niedergelassen und zunächst versucht, als Landwirte dem Sandboden ihren Lebensunterhalt abzutrotzen. Einen deutlich lukrativeren Erwerbszweig erschlossen sie sich, wesentlich unterstützt durch die Expertise der einheimischen Wampanoag-Indianer, mit denen sie noch auf Jahrzehnte die Insel teilten, als sie 1690 mit der Jagd auf Glattwale begannen. In jedem Herbst tauchten die Tiere in den umgebenden Gewässern auf.
Etwas weiter auf hoher See erlegten Fänger aus Nantucket 1712 ihren ersten Pottwal, der höherwertiges Öl lieferte als der Glattwal. Bis 1760 hatten sie freilich alle Gewässer in erreichbarer Nähe leer gefischt. Die Fahrten führten in immer größere Entfernungen hinaus, sie dauerten jetzt zwei bis drei Jahre, und die Schiffe wurden mit Ziegelöfen ausgestattet, um das Walfett auf hoher See auszukochen. Erstmals 1791 stießen Walfänger aus Nantucket in den Pazifik vor, doch auch dort hatten sich in küstennahen Gewässern gut drei Jahrzehnte später die Bestände schon erheblich gelichtet. Allerdings war seit 1818 bekannt, dass es weit draußen auf dem Ozean noch ertragreiche Fanggründe gab. In deren Richtung ließ Kapitän Pollard Ende Oktober 1820 von den Galapagosinseln aus Segel setzen.
Der Angriff des Pottwals
Nach einem knappen Monat kam 1000 Seemeilen weiter westlich eine Gruppe Pottwale in Sicht. Ein erster Angriff endete mit dem Verlust eines Bootes, das zu Bruch ging, als eines der Tiere es in die Luft schleuderte. Die verbliebenen Ruderboote wurden am Morgen des 20. November erneut zu Wasser gelassen. Wieder gab es ein Unglück. Ein harpunierter Wal schlug das Fangboot leck, auf dem Owen Chase das Kommando führte. Fluchend kehrte der Erste Steuermann mit seinen Leuten zur Essex zurück, um den Schaden mit Segeltuch notdürftig zu flicken. Während er damit noch beschäftigt war, fiel ihm auf, wie keine 100 Meter entfernt ein riesiger Wal, der größte, den er je gesehen hatte, auf dem Wasser schwamm und das Schiff zu beobachten schien. Das Tier tauchte ab und etwa 30 Meter vor der Essex wieder auf.
Der Wal schnappte mit den Kiefern, ließ »wie rasend vor Wut und Zorn« den Schwanz aufs Meer klatschen und nahm einen neuen Anlauf
»Am Anfang beunruhigte uns weder sein Aussehen noch sein Verhalten«, schrieb Chase später. Dann aber wurde der Wal lebendig. Er peitschte mit der Schwanzflosse das Wasser und »kam mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu«. Auf dem Schiff gellten Entsetzensschreie. Chase kommandierte auszuweichen. Aber es war zu spät: »Kaum hatte ich die Stimmen gehört, als es auch schon einen gewaltigen Knall gab«, erinnerte sich Thomas Nickerson, der Schiffsjunge, dem das Ruder anvertraut war, während die übrige Besatzung auf Walfang war. Männer purzelten durcheinander. Riesenschildkröten, als lebender Proviant von den Galapagosinseln mitgeführt, schlitterten über Deck. »Wir sahen uns völlig perplex an, waren regelrecht sprachlos«, so Chase.
Der Wal tauchte unter dem Kiel der Essex durch und dümpelte eine Weile benommen auf der Steuerbordseite. Einen Moment dachte Chase daran, ihm die knapp vier Meter lange Harpune in den Leib zu rammen, ließ es aber bleiben, weil er fürchtete, das Tier könnte in Todeszuckungen das Steuerblatt des Schiffs zertrümmern. Es wurde auch bald wieder munter, schwamm einige hundert Meter weg, schnappte mit den Kiefern, ließ »wie rasend vor Wut und Zorn« den Schwanz aufs Meer klatschen und nahm einen neuen Anlauf. Chase schaute unter Deck nach einem Wassereinbruch, als ihn ein Schrei aufschreckte: »Da kommt er – er will uns wieder rammen!« Doppelt so schnell wie beim vorherigen Mal stürmte der Wal heran, krachte mit gewaltigem Getöse in den Backbordbug und schob das Schiff mehrere hundert Meter nach Achtern. Dann entschwand er.
Auf dem Weg in die zweite Katastrophe
Den 20 Männern blieben drei knapp acht Meter lange Boote, die sie mit Material der ramponierten Essex zu kleinen Seglern umrüsteten. Aus dem langsam sinkenden Wrack konnten sie nautische Handbücher und Gerätschaften sowie 600 Pfund Schiffszwieback, einige Riesenschildkröten und reichlich Trinkwasser bergen. Die Frage war: wohin? Der Wind blies stetig aus Südosten. Es wäre ein Leichtes gewesen, im Westen nach Tahiti oder Hawaii zu gelangen. Das war die Idee des Kapitäns. Er ließ sich aber von seinen beiden Steuermännern umstimmen, die fürchteten, in den Archipelen der Südsee von Menschenfressern verspeist zu werden. Lieber wollten sie versuchen, im Osten die Küste Südamerikas zu erreichen, was freilich bedeutete, gegen den Wind zu segeln. Ein Risiko – ein für die meisten Männer tödliches, wie sich zeigen sollte.
Die Essex war knapp südlich des Äquators gerammt worden. Der Plan lautete, zunächst weiter nach Süden zu gelangen, um die gemäßigte Klimazone zu erreichen und durch die dort herrschenden wechselnden Winde womöglich in Richtung Osten getrieben zu werden. Es wurde ein Desaster. Tage der Windstille wechselten mit Orkanen ab, in denen Salzwasser den Schiffszwieback durchnässte und fast ungenießbar machte. Das Boot, auf dem Kapitän Pollard das Kommando führte, wurde unterwegs von einem Orca, einem Killerwal, angegriffen. Derweil wurden die Schiffbrüchigen immer weiter nach Südwesten abgetrieben und waren schließlich 3000 Seemeilen vom Festland entfernt, als sie fast verhungert und verdurstet am 20. Dezember das Koralleninselchen Henderson erreichten. Hier gab es Süßwasser, Fische, Krebse, Seevögel – Frischfleisch.
Die Freude währte nicht lange. Schon nach fünf Tagen hatten die ausgehungerten Männer das Eiland leer gegessen und stachen am 27. Dezember wieder in See. Drei Männer blieben zurück. Vor den anderen lagen noch acht endlose Wochen auf See, in denen die drei Boote den Kontakt untereinander verloren und das Drama sich vollendete. Als am 10. Januar 1821 der Zweite Steuermann Matthew Joy starb, erhielt er noch ein christliches Seemannsgrab. Später gingen die Überlebenden dazu über, die Leichen ihrer toten Kameraden zu verzehren.
Die Erinnerungen des Ersten Steuermanns
Auf dem Boot, in dem Pollard mit drei Männern unterwegs war, spielte sich am Anfang Februar 1821 eine gruselige Szene ab. Das Los wurde gezogen, wer den Kameraden als Nahrung dienen sollte. Es traf den 17-jährigen Neffen des Kapitäns, Owen Coffin, der sich willig erschießen ließ. Am Ende waren von 20 Männern noch acht am Leben. Fünf wurden am 18. und am 23. Februar unweit der chilenischen Küste auf See geborgen, drei weitere im April von der Insel Henderson.
Im Jahr 1840 heuerte der junge Herman Melville auf einem Walfänger an. Er begegnete dort William Henry Chase, dem Sohn des Ersten Steuermanns der Essex, der ihm etwas zu lesen zusteckte. Es war ein Buch unter dem Titel »Erzählung vom Schiffbruch des Walfängers Essex«, die Erinnerungen, die der Vater bereits im November 1821 über seine schauderhaften Abenteuer veröffentlicht hatte.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.