Artensterben: Die Wandertaube starb auch wegen ihrer Gene aus
Am 1. September starb 1914 "Martha" einsam in ihrem Käfig im Zoo von Cincinnati – als die Letzte oder zumindest eine der Letzten ihrer Art. Nur wenige Jahrzehnte zuvor galten Wandertauben (Ectopistes migratorius) dagegen als die häufigste Wirbeltierart an Land. Milliarden von ihnen zogen über den Himmel im Osten Nordamerikas, was sie natürlich zur begehrten Beute von Jägern machte, die mit ihren Schrotflinten Dutzende Vögel auf einmal vom Himmel holen konnten. Da gleichzeitig die Wälder abgeholzt wurden, in denen die Wandertauben kolonienartig nisteten, war das Rezept für das Desaster perfekt. Die Menschheit hatte es geschafft, selbst eine Art mit einem Bestand von bis zu fünf Milliarden Individuen innerhalb kurzer Zeit auszurotten. Das Erbgut der Tiere spielte jedoch ebenfalls eine Rolle, wie Gemma Murray von der University of California in Santa Cruz und ihr Team in "Science" diskutieren.
Anders als man es für eine Art mit derart umfangreicher Population erwarten würde, wies die Wandertaube keine besonders große genetische Vielfalt auf. Oder anders ausgedrückt: Die Vögel waren genetisch relativ stark verarmt, so wie man es eher bei Spezies erwarten würde, deren Bestand wenigstens einmal zusammengebrochen war und sich davon erholt hat. Das war bei der Wandertaube jedoch nicht der Fall. Die Analyse von Murray und Co hatte ergeben, dass die Art zumindest während der letzten 20 000 Jahre sehr zahlreich vorkam und keine größeren Populationsschwankungen durchgemacht hat. Nicht einmal während der letzten Vereisung, als sich das Klima und die Vegetation im Nordosten der USA – dem späteren Kernlebensraum der Tauben – drastisch veränderten, brachen ihre Zahlen ein.
Stattdessen habe gerade ihre riesige Anzahl dafür gesorgt, dass es zu einer deutlichen natürlichen Selektion gekommen sei, so Murray und Co. Viele Mutationen hätten sich deshalb rasch herausgekreuzt; die genetische Drift war sehr klein. Die Art war zwar perfekt an ihren Lebensraum angepasst, doch als mehrere negative Einflüsse zusammenkamen, fehlte die genetische Vielfalt. Die Wandertauben konnten sich deshalb nicht mehr schnell genug anpassen, als ihre Wälder schwanden und die Schwärme kleiner wurden. Sie brüteten nur erfolgreich, wenn sie in alten Wäldern in großer Zahl ihre Brut großziehen konnten. Nachdem der Bestand unter einen bestimmten Schwellenwert gesunken war, genügten schon wenige stochastische Ereignisse – etwa extrem schlechtes Wetter oder eine Krankheit –, um das Aus der Wandertaube endgültig zu besiegeln.
Die Studie dürfe aber nicht falsch verstanden werden, mahnt Koautorin Beth Shapiro, ebenfalls von der University of California in Santa Cruz gegenüber der "Washington Post": "Mit unserem Massentöten über Jahrzehnte hinweg konnte die Evolution einfach nicht Schritt halten." Die Wandertaube müsse als trauriges Beispiel gelten, dass selbst superzahlreiche Arten durch Menschenhand ausgerottet werden können.
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