News: Die Welle
Vielleicht ließen sich die Spieler auf dem Platz ja zu sehr von der Euphorie der Zuschauermassen mitreißen? Aber es sei ihnen zugestanden, denn die Weltmeisterschaft von 1986 bot neben Fußballzauber auf dem Rasen auch etwas anderes magisch Mitreißendes auf den Rängen: La Ola – die Welle.
Ausgehend von einer kleinen Zahl von Zuschauern auf der Tribüne, die spontan aufstanden und ihre Arme hochrissen, breitete sich die kollektive Streckübung über alle Ränge aus und drehte in der Tat wellenartig im Stadion ihre Runden. Südländisches Temperament? Sicherlich, aber das alleine war wohl nicht ausschlaggebend. Denn manchem Reporter half das Spektakel eher darüber hinweg, dröge Spielzüge kommentieren zu müssen. Und auch Tamas Vicsek von der University Budapest vermutet, dass La Ola eher in den ermüdenden Phasen eines Spiels entsteht – quasi als Beschäftigungstherapie für gelangweilte Fans.
Vicsek hatte zusammen mit seinen Kollegen Illés Farkas – ebenfalls aus Budapest – und Dirk Helbing von der Technischen Universität Dresden das Phänomen der Welle untersucht. Dazu analysierten die Forscher anhand von Videoaufzeichnungen zunächst einmal 14 Erscheinungen von La Ola in Stadien mit mehr als 50 000 Zuschauern. Es zeigte sich, dass die Welle in der Regel im Uhrzeigersinn durch das Stadion rast und zwar im Schnitt mit zwölf Metern pro Sekunde – oder anders ausgedrückt: 20 Sitzen in der Sekunde. Die Breite der nahezu linearen Wellenfront entspricht im Regelfall sechs bis zwölf Meter.
Nun ist so eine Analyse für sich genommen sicherlich schon recht interessant, aber wie steht es mit der Reproduktion, lässt sich das La-Ola-Phänomen auch simulieren? Farkas, Helbing und Vicsek versuchten es mit zwei Modellen, die eigentlich dazu dienen, Waldbrände oder wellenförmige Anregungen im Herzgewebe nachzuempfinden. Aber auch für die An- und Aufregung auf der Tribüne scheint sich der Ansatz zu eignen.
So werden also die Menschen im Stadion als leicht erregbare Einheiten aufgefasst – wohl wahr! –, die sich durch einen äußeren Reiz anstecken lassen und aufspringen. Dazu muss aber ein abstands- und konzentrationsabhängiger Schwellenwert überschritten werden, denn nicht alle Menschen hüpfen in die Luft, bloß weil sich jemand in die Höhe streckt, um besser zu sehen. Einmal aktiviert folgt die jeweilige Person dann einem bestimmten Ritual, das sich in drei Phasen einteilen lässt: die aktive Phase – also das Aufspringen und die Arme-in-die-Luft-werfen; die passive Phase, in der der Zuschauer seine Arme fallen und sich auf seinen Sitz zurück plumpsen lässt; und schließlich die ruhende, aber leicht erregbare Phase.
Das einfache Modell berücksichtigt das individuelle Verhalten, indem es für jede Person eine gewisse Übergangswahrscheinlichkeit zwischen den verschiedenen Phasen annimmt – schließlich ist Onkel Fritz nicht mehr ganz so schnell wie sein kleiner Neffe, und Martin, der mehr mit seinem Butterbrot beschäftigt ist als mit dem Spielverlauf, bleibt gleich ganz sitzen. Das umfangreichere Modell legt für derartiges Verhalten reale Aktivitätsmuster zugrunde.
Tatsächlich können die Modelle das beobachtete Verhalten der Zuschauer gut nachstellen, wie jeder auf der Webseite der Forscher leicht selbst ausprobieren kann. So zeigt sich, dass eine Welle nicht von einem einzelnen Menschen ausgelöst wird. Es bedarf vielmehr einer "kritischen Anzahl" von Personen, um die Masse anzustecken. Wie groß dieser Wert im Verhältnis zur gesamten Menge sein muss, lässt sich mit der Simulation erschließen – zwei Dutzend sollten es demnach mindestens sein.
Schön zu wissen, aber welchen Sinn haben solche Forschungen, außer Kommentatoren und Reportern ein paar nette Fakten zu liefern? Die praktische Relevanz sehen die Forscher in zweierlei Hinsicht: Zum einen sei es damit gelungen, mit naturwissenschaftlichen Methoden sozialpsychologische Phänomene zu beschreiben. Analogien zu anderen Bereichen zum Beispiel innerhalb der Verkehrswissenschaften lägen auf der Hand. Auch die Entstehung von Staus im Straßenverkehr könnten künftig mit derartigen Modellen beschrieben werden. Zum anderen machten es die Simulationsmodelle möglich, Phänomene wie Massenhysterie und Panik zu beschreiben.
Na, da bleiben wir doch lieber bei purer Begeisterung und warten ab, inwieweit es uns 2006 gelingt, für friedliche Stimmung in den Stadien zu sorgen. Kaiser Franz würde wohl sagen: "Schaun mer mal!"
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