News: Die Welt ist doch nicht so klein
Milgrams Studie wurde schnell aufgegriffen und verallgemeinert, und bald hieß es, jeder Mensch sei mit jedem anderen auf der Erde über sechs Ecken bekannt. Bei Filmstars sollen es sogar noch weniger Personen, wie Steven Strogatz von der Cornell University 1998 zeigte. Dabei gibt die eingeführte Bacon-Zahl an, wieviele Bekanntschaften ein Schauspieler vom Filmstar Kevin Bacon entfernt ist. Strogatz ermittelte für über 90 Prozent der Filmschauspieler seit Erfindung der bewegten Bilder eine Bacon-Zahl von vier oder weniger.
Auch das Internet wurde auf seine Verbindungen untersucht. Hier sind die Seiten immerhin 19 "Klicks" voneinander entfernt, wie Albert-Laszlo Barabasi von der University of Notre Dame 1999 zeigte. Die Unterteilung komplizierter Strukturen in untereinander verbundene Teilbereiche, konnte auch beim Stromnetz der USA, bei den Gehirnzellen eines Wurms und anderen Netzwerken nachgewiesen werden.
Es ist Milgram kaum vorzuwerfen, dass seine Studie so großen Anklang fand und von dem relativ überschaubaren Raum im Norden der USA direkt auf die ganze Welt verallgemeinert wurde. Allerdings entdeckte Judith Kleinfeld, eine begeisterte Milgram-Anhängerin der University of Alaska, bei der Lektüre der Originalunterlagen im Archiv der Yale University viel schwerwiegendere Unstimmigkeiten. So versendete Milgram in einer ersten unveröffentlichten Studie unscheinbare Briefe, von denen nur fünf Prozent ankamen. Erst als er in einer zweiten Studie wichtig aussehende fingierte Ausweise der Harvard University mit Goldinschrift und eindrucksvollen Unterschriften verschickte, erreichten mehr Sendungen ihr Ziel – allerdings auch nur 30 Prozent.
Zudem spricht Milgram bei Empfängern und Absendern von zufällig durch Zeitungsannoncen ausgewählten Personen. Die Anzeigen waren jedoch auf besser verdienende, sozial aktive Personen zugeschnitten, die sich mit ihren Kontakten und der Fähigkeit, soziale Schranken überwinden zu können, brüsteten. Zusätzlich bediente sich Milgram käuflicher Adressenlisten, in denen Personen mit höherem Einkommen und ausgezeichneten Beziehungen aufgelistet waren. Ein Drittel der Absender waren deshalb Aktionäre, die ein persönliches Interesse besaßen, den Empfänger zu erreichen – denn dieser war augenscheinlich ein erfolgreicher Börsenmakler. Schließlich konnte Milgram die Ergebnisse nicht reproduzieren und die Personengruppen waren viel zu klein und die Erfolgsquote zu gering, als dass sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügten.
Das wirft allerdings die Frage auf, warum die Studie so dankend angenommen und kaum in Frage gestellt wurde. Denn nur wenige Wissenschaftler versuchten, die Untersuchung zu wiederholen, und obwohl sie scheiterten, veröffentlichten sie ihre Ergebnisse nicht.
Kleinfeld vermutet, dass man sich geradezu danach sehnt, in einer kleinen Welt zu leben. Denn die Vorstellung, mit allen Menschen dieser unüberschaubaren und komplexen Gesellschaft irgendwie verbunden zu sein, beruhige ungemein. Selbst unreligiöse Menschen sähen in unvorhergesehenen Begegnungen keinen Zufall, sondern eine Art Vorherbestimmung.
Kleinfeld fordert deshalb, dieses "Kleine-Welt"-Phänomen wieder psychologisch und nicht mehr nur mathematisch zu untersuchen. Denn obwohl das Problem der Psychologie entstammt, hat diese es bisher eher vernachlässigt. Es ist einleuchtend, dass soziale Gruppen wie Schauspieler eng vernetzt sind, aber gilt dies auch für den kleinen Mann auf der Straße und den Wirtschaftsboss in der obersten Etage? Und viel wichtiger, macht es überhaupt einen Unterschied, ob alle Menschen untereinander verbunden sind oder nicht?
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