Tiefe Biosphäre: Die Wesen aus der Unterwelt
"Wer hätte sich in seinen wildesten Träumen ausgemalt, dass unter der Kruste unserer Erde ein echter Ozean existiert – ein Lebensraum für unbekannte Lebewesen?", so schrieb vor 150 Jahren Jules Verne in seinem Roman "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde". William Orsi von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) würde ihm wohl zustimmen: "Da unten existiert eine gewaltige Biosphäre", ist der Biologe überzeugt. Lange war jedoch unklar, ob die in großer Tiefe gefundenen Bakterien und Archaeen überhaupt aktiv sind. Da sie quasi in Zeitlupe leben, dabei ein unvorstellbares Alter erreichen und sich nur selten teilen, wirken sie tatsächlich oft mehr tot als lebendig. Inzwischen ist klar: "Die meisten Zellen leben, haben aber einen extrem verlangsamten Stoffwechsel", erläutert Axel Schippers von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover.
Die Bewohner der Unterwelt sind sogar deutlich aktiver als bislang angenommen, wie nun Orsi und seine Kollegen mit einem neuen Verfahren nachgewiesen haben [1]: In Sedimentproben aus dem Peru-Graben westlich von Südamerika untersuchten sie die Boten-RNA (mRNA) – jene Erbsubstanz, die die Information zum Bau von Proteinen zu den Ribosomen bringt, wo diese zusammengesetzt werden. Im Gegensatz zur DNA zerfällt sie relativ schnell – damit ist ausgeschlossen, dass die Erbsubstanz in Wahrheit von im Sediment konservierten, längst abgestorbenen Mikroben stammt. In den RNA-Schnipseln fanden die Forscher zahlreiche Sequenzen mit Anweisungen für die Zellteilung. "Dies ist der erste Beweis für eine aktive Zellteilung in der tiefen Biosphäre", sagt Orsi. In Proben aus allen Tiefen stießen sie auf Spuren der Vermehrung – vor allem dort, wo die Zellzahlen am höchsten waren. Die Sedimente scheinen hier also voller Leben zu sein, denn die gefundene Zellmenge dürfte eng mit einer sehr aktiven Teilung zusammenhängen.
"Da unten existiert eine gewaltige Biosphäre."William Orsi
Eine Parallelwelt voll Leben
Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte damit jedoch überhaupt niemand gerechnet. Zwar wurden bei Erdölbohrungen schon früh Zellen entdeckt, doch man hielt sie für fossile Überreste. Erst mit Beginn des Integrated Ocean Drilling Program – eines seit 2003 laufenden internationalen Bohrprojektes – wurde das Leben in der ozeanischen Kruste und den darüber liegenden Sedimentschichten systematisch erforscht. Bedenkt man, dass zirka zwei Drittel der Erdoberfläche von Sedimenten bedeckt sind, ergibt sich ein riesiger, nahezu unerforschter Lebensraum, wohl einer der letzten weißen Flecken der Biologie.
In bis zu zwei Kilometer Tiefe unter dem Meeresgrund wurden Forscher bisher fündig. Ab wann Leben endgültig unmöglich wird, bleibt unklar. "Der wichtigste limitierende Faktor ist die Temperatur – über 130 Grad Celsius findet man kein mikrobielles Leben, da lebenswichtige Proteine zerfallen", erklärt Orsi. In welcher Tiefe diese kritische Temperatur erreicht wird, variiert von Ort zu Ort. Forscher um Bo Barker Jørgensen vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen fanden zudem heraus, dass die Zellzahl mit der Tiefe rapide abnimmt: Bereits 400 Meter unter dem Meeresgrund war nur mehr ein Tausendstel der Konzentration in oberen Sedimentschichten zu finden [2].
Vermutlich bieten sich auch manche Habitate besonders an, so etwa die mit zahlreichen Rissen durchzogenen Mittelozeanischen Rücken. Hier zirkuliert mit Mineralien angereichertes Wasser durch die obere Erdkruste: ein gigantischer Mikrobenbrüter. Katrina Edwards, Geomikrobiologin an der University of Southern California in Los Angeles, fand hier in der ozeanischen Kruste zu ihrer Überraschung Bakterienkonzentrationen, die 1000-mal größer waren als im darüberliegenden Wasser [3]. Abseits dieser Oasen des Lebens dürften die Lebensbedingungen deutlich karger sein – und mit ihnen die mikrobielle Besiedlungsdichte. Dies macht seriöse Schätzungen über den Anteil der Unterweltmikroben an der globalen Biomasse sehr problematisch. Jens Kallmeyer von der Universität Potsdam schätzt, dass 30 Prozent der globalen mikrobiellen Biomasse in der tiefen Biosphäre steckt [4]. Das ist deutlich weniger als früher angenommen – der Mikrobiologe William Whitman von der University of Georgia in Athens vermutete gar über 75 Prozent aller Prokaryoten in der tiefen Biosphäre [5]. Frühere Schätzungen basierten jedoch vor allem auf Bohrkernen aus nährstoffreichen Habitaten. "Ungefähr die Hälfte des Ozeans ist extrem nährstoffarm. Die Biomasse unter dem Ozeanboden wurde also deutlich überschätzt", erklärt Kallmeyer.
Karge Kost
Ohnehin stellt sich die Frage, wovon sich die Lebewesen in der dunklen Parallelwelt ernähren und wie ihr Stoffwechsel abläuft, denn Fotosynthese und Zellatmung mit Sauerstoff fallen aus. Unter den extremen Bedingungen haben die Bakterien und Archaeen jedoch alternative Stoffwechselwege entwickelt: "Sie 'atmen' Sulfat", erklärt Orsi. Außerdem nutzen sie Methan oder Nitrate bei der Umsetzung von organischem Kohlenstoff, dem "unverdaulichen Rest", der aus höheren Wasserschichten stammt und im Lauf der Zeit von Sedimenten bedeckt ins Reich der tiefen Biosphäre gelangte. Die Mikroben benötigen tausende Jahre, um dieses schwer verdauliche organische Material umzusetzen [6]. Sie sind dabei auch sehr genügsam: Ihr Stoffwechsel ist bis zu 10 000-mal langsamer als bei ihren oberirdischen Verwandten. Dafür erreichen sie ein biblisches Alter: Manche Zellen könnten Millionen von Jahren alt sein, spekuliert Katrina Edwards. Die Wesen der Unterwelt müssen mit ihren knappen Ressourcen haushalten. Eine hohe Vermehrungsrate wäre dabei kontraproduktiv, daher teilen sie sich nur alle 100 bis 1000 Jahre [7]. Vermutlich läuft in der tiefen Biosphäre nicht nur das Leben in Zeitlupe ab, sondern auch die Evolution neuer Arten.
Ein anderer Prozess könnte die Grenzen mikrobiellen Lebens jedoch noch deutlich ausweiten: "Die ozeanische Kruste ist von schmalen Adern durchzogen, durch die Wasser zirkuliert. Dieses reagiert mit Mineralien wie Olivin und spaltet dabei Wasserstoff ab, den die Mikroben nutzen, um Kohlendioxid in organisches Material umzusetzen", sagt der Mikrobiologe Mark Lever von der Universität Aarhus [8]. Diese so genannte Chemosynthese macht die Lebensgemeinschaften in der Tiefe unabhängig vom Sonnenlicht. "Je tiefer wir bohren, umso mehr wird Wasserstoff die einzige verbleibende Nahrungsquelle sein", meint auch Steven D'Hondt von der University of Rhode Island. Er vermutet, dass natürliche Radioaktivität eine Rolle spielen könnte: Die Radiolyse zerlegt Wasser in seine Komponenten Sauerstoff und Wasserstoff. "Wir finden überall dort Leben, wo es anzapfbare Energiequellen gibt", ist sein Kollege Bo Barker Jørgensen überzeugt.
Trotz des Energie- und Nährstoffmangels dämmern nicht alle Bewohner der tiefen Biosphäre einfach vor sich hin. Orsi und sein Team stießen in der mRNA auch auf Abschnitte, die Anweisungen für den Bau von Flagellen enthalten. Je enger die Gesteinsporen wurden, desto seltener wurden diese Gene. "Wenn es Raum genug für Bewegung gibt, dann bewegen sie sich auch", folgert Orsi. Winzige Lebewesen, die sich aktiv teilen und durch den Porenraum schwimmen – das stellt alle bisherigen Vorstellungen von der tiefen Biosphäre auf den Kopf.
"Sie 'atmen' Sulfat."William Orsi
Die Pilze des Schattenreiches
Bislang konzentrierten sich Wissenschaftler auf Bakterien und Archaeen, also vergleichsweise primitive einzellige Organismen ohne Zellkern. Jüngste Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass auch Eukaryoten dort unten hausen: Tief im Ozeanboden wachsen offenbar Pilze. Auf einen ersten Hinweis stießen Forscher um Magnus Ivarsson vom Schwedischen Museum für Naturkunde völlig unerwartet in Bohrkernen vom Emperor Seamount nahe Hawaii: Im Basaltgestein vom Meeresgrund fanden sie fadenförmige Strukturen, bei denen es sich womöglich um fossile Pilzhyphen handelt [9]. "Die Präsenz von Pilzen in Basalt vom Ozeanboden widerlegt das gegenwärtige Verständnis der tiefen Biosphäre. Man dachte, hier können nur Bakterien und Archaeen gedeihen – das war ein Irrtum", schließt Ivarsson. Eine von Forschern um William Orsi durchgeführte Analyse der ribosomalen RNA in Bohrkernen bestätigt den Verdacht: Pilze sind ein Bestandteil der Lebensgemeinschaften in der tiefen Biosphäre [10]. "Bis vor Kurzem wurde die Rolle der Pilze völlig übersehen", stellt Orsi fest. Sie sind anscheinend nicht auf Sauerstoff angewiesen und ernähren sich, wie der Biologe vermutet, durch Fermentation von abgestorbenem organischem Material – ähnlich wie Schimmelpilze bei der Bier- und Brotherstellung. Ivarsson nimmt an, dass manche der Schattenpilze in einer Symbiose mit Bakterien leben, andere hingegen könnten sich von den winzigen Mikroben ernähren.
Selbst Tiere könnten dort unten existieren: In tiefen Sedimentschichten trafen Forscher um Roberto Danovaro von der Università Politecnica delle Marche in Ancona (Italien) auf Vertreter des obskuren Tierstammes der Loricifera, die derzeit von Systematikern zur Gruppe der Häutungstiere (Ecdysozoa) gezählt werden: Die weniger als einen Millimeter großen Tierchen haften an den Körnchen des Sediments und zeigen eigentlich wenig Lebensaktivität. Was Danovaro aber besonders erstaunte: "Sie scheinen ihr ganzes Leben ohne Sauerstoff auszukommen." Dies wäre tatsächlich einzigartig im Tierreich. Und wirklich fehlen ihren Zellen sogar die Mitochondrien für die aerobe Zellatmung – stattdessen verfügen sie über so genannte Hydrogenosomen, die mit Hilfe von Schwefelwasserstoffen Energie erzeugen [11]."Wahrscheinlich warten unter dem Meeresgrund noch weitere Überraschungen. Es könnte etwa Vielzeller wie Nematoden geben, aber mit den gegenwärtigen Methoden konnten sie noch nicht gefunden werden", glaubt auch Ivarsson. In der terrestrischen Biosphäre, tief in einer südafrikanischen Goldmine, wurden immerhin schon solche Unterweltwürmer gefunden [12].
"Sie scheinen ihr ganzes Leben ohne Sauerstoff auszukommen."Roberto Danovaro
Erst langsam entdecken Forscher den enormen Artenreichtum dieser faszinierenden Schattenwelt. Es bleibt viel für sie zu tun: "Nach wie vor hat das gegenwärtige Wissen über die tiefe Biosphäre auf einem Stecknadelkopf Platz", meint Katrina Edwards. Die Mikrobiologin plant, eine Art mikrobielles Laboratorium am Meeresgrund zu errichten. So soll erforscht werden, wie die Mikroben mit ihrem Stoffwechsel das Gestein chemisch verändern. Auch William Orsi will den Einfluss der Winzlinge auf die biogeochemischen Stoffkreisläufe genauer verstehen, denn immerhin setzen sie gewaltige Mengen an organischem Kohlenstoff in Zeiträumen von tausenden Jahren um. "Die brennendste Frage ist für mich, wie das Leben in der tiefen Biosphäre mit dem globalen Kohlenstoffkreislauf zusammenhängt." Axel Schippers interessiert sich auch für das biotechnologische Potenzial der exotischen Wesen: So könnten sie eine Quelle für neue Antibiotika sein oder an der Produktion von Erdgas (Methan) beteiligt sein.
"Nach wie vor hat unser Wissen über die tiefe Biosphäre auf einem Stecknadelkopf Platz."Katrina Edwards
Auch woher die Mikroben in der tiefen Biosphäre stammen, ist nach wie vor umstritten. "Sie wurden wahrscheinlich vor tausenden bis Millionen von Jahre von ihren Vettern aus der Oberwelt abgeschnitten", mutmaßt Orsi. Die genauen Verwandtschaftsverhältnisse sind dabei noch längst nicht geklärt. Doch eine gewagte These gibt es schon: Das Leben könnte sogar im Gestein in der Tiefe entstanden sein [13]. Einiges spricht dafür: Die Lebensbedingungen waren zu Zeiten der Urerde hier in der lichtlosen Tiefe wohl deutlich lebensfreundlicher als an der Oberfläche, die einem ständigem Meteoritenhagel, Vulkanausbrüchen und kosmischer Strahlung ausgesetzt war. Dieser Zustand könnte sich nach Meinung des britischen Astrobiologen Jack O'Malley James von der University of St. Andrews wiederholen: Wenn sich nämlich in ein paar Milliarden Jahren die Sonne zu einem roten Riesen aufgebläht hat und jegliches Leben vom Antlitz der Oberfläche verschwunden ist, bietet die tiefe Biosphäre wohl ein allerletztes Refugium für das irdische Leben – eine Ironie des Schicksals gewissermaßen.
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