Chronometrie: Die Zeit der Schaltsekunde läuft ab
"The times", sang Bob Dylan, "they are a-changin." Und in der Tat: Die Zeiten werden sich im wahrsten Sinn des Wortes ändern, sobald die Weltfunkkonferenz in Genf sich Anfang nächsten Jahres darüber einigt, unsere "UTC", die koordinierte Weltzeit, neu zu definieren. Sie würde dann vom Lauf der Sonne, mit der sie derzeit noch synchronisiert wird, unabhängig werden.
Im Kern dreht sich die Genfer Abstimmung darum, die "Schaltsekunde" abzuschaffen – eine alle Jahre wieder addierte Extrasekunde, welche die UTC mit den geringfügigen und unvorhersehbaren Abweichungen der Erde von ihrer Bahn abgleicht. Die UTC – sie dient als Referenzzeit, an der sich sämtliche Zeitzonen der Erde ausrichten – ermittelt sich aus einem Durchschnittswert von rund 400 Atomuhren; Schaltsekunden gleichen aus, dass die UTC nach 90 Jahren rund eine Minute von der Sonnenzeit abweicht.
Aber: "Schaltsekunden machen Ärger", findet Elisa Felicitas Arias, die Leiterin des Zeit-Departements am Internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) im französischen Sèvres. Denn die Sekunden können nicht automatisch per Software eingeführt werden, schon weil der verantwortliche Internationale Dienst für Erdrotation und Referenzsysteme in Frankfurt sie normalerweise erst rund sechs Monate im Voraus angekündigt. Und werden die Sekunden inkonsistent in die verschiedenen Systeme eingespeist, kann das die Synchronizität der Uhren kurzzeitig durcheinanderbringen und Aussetzer verursachen, die Computersysteme abstürzen lassen oder Einfallstore für Attacken auf die globalen Finanzmärkte öffnen könnten.
"Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass eine falsch eingespeiste Schaltsekunde irgendetwas Dramatisches auslöst"Peter Whibberley
Trotz alledem möchten einige Nationen – vor allem China, Kanada und Großbritannien – die Schaltsekunden und damit die Verknüpfung der Zeit mit dem Sonnenlauf beibehalten. Dahinter stehen auch philosophische Überlegungen: "Viele chinesische Wissenschaftler halten es aus unserer Tradition heraus für geboten, die Zeitmessung mit astronomischen Vorgängen verbunden zu halten", erklärt Chunhao Han vom Global Information Center of Application and Exploration in Peking. Wie China im kommenden Jahr abstimmen wird, sei allerdings noch nicht entschieden.
Gerade erst haben sich Wissenschaftler und Regierungsvertreter auf dem Kavli Royal Society International Centre bei Milton Keynes in Großbritannien getroffen, um die Streitfrage auszudiskutieren – allerdings ergebnislos. Der Ausgang der Abstimmung im Januar bleibt somit schwer vorherzusagen. Arias, die das Treffen mit organisiert hat, argumentiert, dass die Schaltsekunden überholt seien, seit GPS-Systeme mit ihren unabhängigen Zeitskalen die Solarzeit in ihrer Bedeutung für die Navigation oder präzise wissenschaftliche Messungen abgelöst haben – etwa für die Bestimmung der Erdplattenbewegung oder der erdmassebedingten Krümmung der Raumzeit.
In die multiplen Zeitmesser eines Satellitennetzwerks inkonsistent einzelne Sekunde einzuführen, kann das System lang genug lahmlegen, um Unfälle im Flugverkehr heraufzubeschwören, warnt der Physiker Włodzimierz Lewandowski vom BIPM. Das US-amerikanische GPS ignoriert aus genau diesem Grund Schaltsekunden ganz, während im russischen GLONASS-System in der Vergangenheit tatsächlich schon schaltsekundenbedingte Probleme auftraten. Auch das europäische Galileo-System, dessen erste Satelliten gerade ins All gebracht wurden, sowie das chinesische Beidou-System messen ebenfalls ihre eigene Zeit mit internen Uhren.
Nach Ansicht des Informatikers Markus Kuhn von der University of Cambridge können die meisten der Probleme umgangen werden, indem man das Additionsprozedere der Zusatzsekunden vorher konsistent festlegt. So hätten etwa Linux-Betriebssysteme in der Vergangenheit Probleme verursacht, wenn die gesamte Sekunde in einem abrupten Schritt um Mitternacht eingefügt wurde, was die Software verwirrte. Im September dieses Jahres hat Google ein alternatives, sanftes, schrittweise addierendes Verfahren angekündigt, bei dem Betriebssysteme einzelne Sekundenbruchteile fließend über eine längere Zeitspanne hinweg hinzufügen. Das, so Kuhn, "sollte zum Standardprozedere werden".
Peter Whibberley, Physiker am National Physics Laboratory in Teddingon, Großbritannien, weist darauf hin, dass auch nach zehn Jahren intensiver Diskussion noch immer "keinerlei Beleg dafür gefunden wurde, dass tatsächlich irgendetwas Dramatisches passiert, wenn man eine Schaltsekunde einmal fälschlich in ein System einspeist". Die Schaltsekunde abzuschaffen verlagere nur ein etwaiges Problem: "In einem Jahrhundert müssen wir sonst eine Schaltminute einführen. Und dann wird niemand mit wirklich gutem Grund ausschließen können, dass das nicht am Ende noch viel größeres Unheil anrichtet."
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