Quantenmechanik – Das Beste von »Spektrum.de«: Die Zeit könnte eine Illusion der Quantenphysik sein
Seit Jahrhunderten rätselt die Menschheit über die wahre Natur der Zeit. Sie scheint viel mysteriöser als der uns umgebende Raum. Selbst die modernsten physikalischen Theorien wie die Quantenphysik können das Phänomen der Zeit nicht erklären – im Gegenteil. Die Zeit nimmt darin eine Sonderrolle ein, die sich von allen anderen physikalischen Größen drastisch unterscheidet. Es ist, als würde eine allmächtige Uhr unaufhaltsam ticken und dazu führen, dass sich Systeme verändern; aber es gibt keine zufrieden stellende Erklärung dafür, was diese Uhr ist.
Dieses »Problem der Zeit« führt unter anderem zu Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Weltformel. Denn anders als in der Quantenphysik ist die Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie eng mit dem Raum verwoben: Dort bilden die beiden Größen gemeinsam die Raumzeit, deren Krümmung die von uns wahrgenommene Schwerkraft verursacht. Damit sind die Zeit wie auch der Raum in Einsteins Theorie »relativ«, also formbar, während die Quantenphysik von einer universellen, absoluten Zeit ausgeht.
Da diese beiden Bilder nicht zusammenpassen, haben die Physiker Don Page und William Wootters bereits im Jahr 1983 eine radikale, neue Erklärung vorgeschlagen: Demnach gibt es keine Zeit; sie ist bloß eine Illusion, die sich aus der Verschränkung von quantenphysikalischen Systemen ergibt. Und nun hat ein Team um die Physikerin Paola Verrucchi von der Universität Florenz anhand eines konkreten Beispiels gezeigt, dass sich Verschränkung tatsächlich als Zeitfluss auffassen lässt. Seine Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift »Physical Review A« veröffentlicht.
Wie das Ablesen einer Uhr, nur mit Verschränkung
Die Idee des Page-Wootters-Formalismus ist in ihren Grundzügen einfach: Anstatt ein System wie einen auf einer schiefen Ebene hinabrollenden Ball für sich allein zu betrachten, zieht man ein zweites Referenzsystem hinzu – etwa ein Pendel. Man kann die Position des Balls zu den Pendelbewegungen in Beziehung setzen und somit die Bahn des Balls ganz ohne eine Größe namens Zeit beschreiben. Page und Wootters trieben diese Idee aber auf die Spitze: In ihrer Theorie gibt es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene physikalische Systeme, die auf quantenphysikalische Weise miteinander verbunden (verschränkt) sind und sich relativ zueinander verändern. Die Rolle der Zeit nimmt also ein Referenzsystem ein, das die Physiker als »Uhr« bezeichnen und das mit anderen physikalischen Systemen verschränkt ist.
Diese Interpretation der Zeit scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht allzu abwegig, doch tatsächlich ergeben sich daraus seltsame Konsequenzen. Zum Beispiel würde es bedeuten, dass ein System, das mit keinem anderen verschränkt ist, für immer unverändert bleibt. Sprich: Für ein solches System vergeht keine Zeit. Das gilt etwa für das Universum. Da dieses als Ganzes alles umfasst, lässt es sich durch eine statische, unveränderliche Wellenfunktion beschreiben. Möchte man nun die zeitliche Veränderung eines Systems innerhalb des Universums beschreiben, muss man zunächst das Referenzsystem messen (die Uhr auslesen) und erst dann das damit verschränkte System. Die konkrete Berechnung entspricht einer bedingten Wahrscheinlichkeit: Unter der Voraussetzung, dass die Uhr einen bestimmten Wert anzeigt, lässt sich der Zustand des Systems vorhersagen.
Den Page-Wootters-Formalismus vollständig in die Quantentheorie zu integrieren, erweist sich als äußerst schwierig. Doch in den 40 Jahren seit seiner Entstehung haben die Fachleute Fortschritte gemacht – wenn auch langsam. Nun haben sich Verrucchi und ihre Kollegen ein konkretes Beispiel angeschaut: Sie haben zwei verschränkte Quantensysteme untersucht, um zu prüfen, ob der Page-Wootters-Formalismus auch wirklich deren zeitlichen Verlauf korrekt beschreibt. Das Team aus Florenz hat dabei insbesondere analysiert, ob der Formalismus außerdem die richtigen Vorhersagen im Makroskopischen liefert; also in einem Bereich, bei dem die Quanteneffekte vernachlässigbar sind.
Die Fachleute haben als Referenzsystem winzige Magnete gewählt, die sich gegenseitig beeinflussen und entsprechend ausrichten; diese übernehmen die Rolle einer Uhr. Als das zu untersuchende System wählten sie einen harmonischen Oszillator, den man sich als quantenphysikalische Version einer schwingenden Feder vorstellen kann. Die beiden Systeme haben keine tiefer gehende Bedeutung; sie stellen bloß aus mathematischer Sicht recht einfach zu beschreibende Strukturen dar.
Die Forschenden koppelten die Systeme über das quantenphysikalische Prinzip der Verschränkung. Als sie die sich ergebenden Formeln nach und nach vereinfachten, fanden sie ein ihnen vertrautes Ergebnis vor: die Schrödingergleichung für einen harmonischen Oszillator. Diese beschreibt in der Quantenmechanik, wie sich ein System mit der Zeit verändert. Im Fall von Verrucchi und ihrem Team wies die Gleichung jedoch keine Abhängigkeit von der Zeit auf, sondern von den Zuständen der Magnete. Der Effekt ist aus mathematischer Sicht aber der gleiche: Das System würde sich durch den Page-Wootters-Formalismus so verändern, wie es die gewöhnliche Quantenmechanik (mit einer Zeit) vorhersagt.
Anschließend wollte die Forschungsgruppe prüfen, ob der Page-Wootters-Formalismus auch die richtigen Ergebnisse für makroskopische Systeme liefert. Dafür beschrieb sie die Magnete des Referenzsystems und den Oszillator als klassische Objekte, deren Eigenschaften nicht durch Quanteneffekte beeinflusst werden. Wie sich herausstellt, erlaubt es der Page-Wootters-Formalismus dennoch, die richtigen Bewegungsgleichungen für eine schwingende Feder zu liefern, allerdings in Abhängigkeit von den Magneten statt von der Zeit.
Damit haben die Forschenden gezeigt, dass der Page-Wootters-Formalismus zumindest für zwei beispielhafte Systeme funktioniert. Ob sich auch kompliziertere Systeme auf diese Weise beschreiben lassen, ist unklar. Um den Formalismus im Labor testen zu können, muss die Theorie weiter ausgearbeitet werden: Vor allem müsste sie Vorhersagen liefern, die sich von den gängigen Theorien unterscheiden.
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