Sinne und Organe: Die zweite Haut aus dem Labor
Nach sieben Tagen geschehen in den Kulturschalen in Günther Weindls Labor erstaunliche Dinge. Die Zellen in den Schalen "wissen" plötzlich, was zu tun ist – und bilden ein winziges Stückchen des Organs, das sonst den Menschen mit einer Fläche von zwei Quadratmetern schützend umhüllt und uns bis zu zwölf Kilogramm schwerer macht: die Haut. Weindl züchtet im Institut für Pharmazie der Freien Universität Berlin verschiedene Arten von Hautmodellen. Dafür wurde er im vergangenen Jahr vom Land Berlin ausgezeichnet. Denn dank Weindls Methoden lässt sich die Anzahl von Tierexperimenten für Forschungszwecke deutlich verringern.
Weindl verwendet für seine "Haut aus dem Labor" Abfälle, die bei der kosmetischen Chirurgie anfallen. "Wir nehmen die Haut auseinander, um sie dann wieder zusammenzubauen", sagt Weindl. Die Bauteile sind im Wesentlichen zwei verschiedene Zelltypen, die Keratinozyten und die Fibroblasten. Bei seiner Prozedur vermischt Weindl zuerst die Fibroblasten mit einer Lösung aus Kollagen, das dem Hobbybäcker als Hauptbestandteil von Gelatine bekannt sein dürfte. Die Fibroblasten müssten sich dabei wie zu Hause fühlen. Denn dort, wo sie sich hauptsächlich aufhalten, in der unteren Hautschicht, der Dermis (Lederhaut), stellen sie selbst massenweise Kollagen und Elastin her, zwei Eiweiße, die die Haut elastisch und gleichzeitig stabil machen (und von der alternden Haut leider nicht mehr so häufig produziert werden). "Auf das Gel aus Kollagen und Fibroblasten werden nach drei bis fünf Tagen die Keratinozyten gegeben", erklärt Weindl das Verfahren.
Die Keratinozyten befinden sich beim Menschen in der obersten, sehr dünnen Hautschicht, der Epidermis. Stabile Proteinfasern in diesen Zellen, die Keratine, verleihen der Haut ihre Widerstandskraft und Stärke. Die Keratinozyten heften sich an die gelartige Grundstruktur aus Kollagen und Fibroblasten und nach weiteren ein bis zwei Tagen folgt der wichtigste Schritt: Das flüssige Nährmedium, das die Zellen bisher komplett umgeben hat, wird teilweise entfernt, und die oberste Zellschicht dadurch an die Luft gesetzt. Der Luftkontakt ist das entscheidende Signal für die Zellen, weiter auszureifen und ihre endgültige Position und Funktion einzunehmen. "Ein dreidimensionales Gebilde entsteht, das nach außen, wie bei der menschlichen Haut von einer schützenden Hornschicht abgeschlossen wird", sagt Weindl.
Künstliche Haut spart Tierexperimente
Was zunächst einfach klingt, ist das Ergebnis langer Tüfteleien. Die Menge der Zellen, die Inkubationsdauer und vor allem die Zusammensetzung der zugegebenen Wachstumsfaktoren und Signalstoffe entscheiden über das Resultat. Weindls Spezialität sind die Immunzellen der Haut. Ein dichtes Netz aus so genannten dendritischen Zellen und Langerhans-Zellen wacht hier über Freund und Feind. Auch diese Abwehrzellen lassen sich in das Modell einbauen.
Allein für die Entwicklung und Testung neuer Medikamente gegen Entzündungen der Haut könnte man in Deutschland mit künstlichen Modellen auf mehrere tausend Tierexperimente pro Jahr verzichten
Ein bis zwei Wochen lang kann dann an der Laborhaut untersucht werden, was eigentlich passiert, wenn zum Beispiel Pilze wie Candida albicansdie menschliche Haut erobern. "Das Hautmodell hat hier einen deutlichen Vorteil gegenüber Experimenten an der Maus, die sich ohne massive Immunschwächung gar nicht mit dem Pilz anstecken lässt", sagt Weindl. Allein für die Entwicklung und Testung neuer Medikamente gegen Entzündungen der Haut, könnte man in Deutschland mit Hilfe der Modelle auf Experimente an mehreren tausend Tieren pro Jahr verzichten.
Hersteller von Kosmetika müssen seit fünf Jahren komplett ohne Tierversuche auskommen. Um zu testen, ob und wie die verwendeten Stoffe von der Haut aufgenommen werden, nutzt man daher Labormodelle. Das sind meistens solche, die nur die äußerste Schicht der Haut nachbilden. Ein Gerät zur Herstellung derartiger Epidermismodelle haben Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart entwickelt. Laut Heike Walles, der Leiterin des Projektes, stehe man kurz vor einem Technologietransfer an eine große Firma.
Mit Hilfe dieser Hautfabrik können innerhalb von drei Wochen 500 Hautmodelle gleichzeitig hergestellt werden. In jedem Fall ist das billiger als eine langwierige Prozedur per Hand. Als Ausgangsmaterial verwendet das Gerät Vorhäute, die bei der Beschneidung von Knaben anfallen. "Das Verfahren funktioniert aber auch mit Hautproben älterer Menschen aus verschiedenen Körperregionen", erklärt Walles. Ein kleiner Greifarm schiebt die Hautstückchen zunächst in die Anlage. Dort werden sie zerkleinert und mit Hilfe von Enzymen in zwei Zellfraktionen aufgetrennt und in körperwarmem, feuchtem Milieu verwahrt. Sind die etwa eincentgroßen Hautstückchen fertig, soll die Maschine zukünftig auch das Verpacken übernehmen.
Neue Hoffnung für Patienten mit Verbrennungen
"Mit dem Gerät lässt sich im Prinzip auch transplantierfähige Vollhaut herstellen", sagt Walles. Für die Transplantatentwicklung suchen die Leute vom Fraunhofer-Institut gerade einen Kooperationspartner. Viele regulatorische Hürden machten die Forschung hieran aufwändig und teuer, erläutert die Forscherin. Beispielsweise dürfe das Enzym, das zum Isolieren der einzelnen Hautzellen verwendet wird, später nicht mehr im Endprodukt nachweisbar sein. "Außerdem dürfen sich im Gerät natürlich die Zellen von Patient A, für den gerade ein Hautersatz hergestellt wird, nicht mit denjenigen von Patientin B vermischen", sagt Walles.
Was Chirurgen noch fehlt, ist ein Hautersatz, der sicher und praktisch mit nur einer Operation übertragbar ist und möglichst wenig Narben ausbildet
Walles ist zuversichtlich, in ein paar Jahren komplette Vollhautstückchen auch automatisiert herstellen zu können. Für die Versorgung von Patienten mit lebensbedrohlichen Verbrennungen oder anderen großen Verletzungen wäre so ein Ersatz aus dem Labor ideal. In den letzten Jahren hat sich die Behandlung von schweren Verwundungen deutlich verbessert. Starb in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch die Hälfte aller Kinder mit Verbrennungswunden, die mehr als die 50 Prozent der Körperoberfläche betrafen, überlebt heute die Hälfte, sogar wenn 98 Prozent des Körpers betroffen sind.
Das liegt an besseren Möglichkeiten, Infektionen der Wunde zu verhindern und zu behandeln, und an insgesamt verbesserten Techniken. Meist wird den Betroffenen mittels einer Spalthauttransplantation geholfen. Dabei wird eigene Haut an einer gesunden Stelle entnommen (Epidermis und ein kleiner Anteil Dermis) und auf die Wunde aufgebracht. Damit die übertragene Haut überlebt, müssen sich die Gefäße im Transplantat möglichst schnell mit denen im Wundbett verbinden.
Doch auch die Spalthautübertragung hat ihre Grenzen. Spätestens dann, wenn bei schweren Verbrennungen weite Teile der Körperoberfläche zu Schaden gekommen sind. Seit einigen Jahren stehen daher verschiedene Produkte mit künstlichem Hautersatz für die Wundbehandlung zur Verfügung. Diese bestehen meist aus dünnen Lagen von Hautzellen, die entweder vom Patienten selbst oder einem fremden Spender stammen. Auch Produkte, die die Lederhaut (Dermis) nachahmen sollen, gibt es auf dem Markt. Große Wunden können damit früh und großflächig abgedeckt werden. Allerdings sind auch die Anwendungsmöglichkeiten dieser Materialien begrenzt. Fremde Hautzellen bieten nur eine vorübergehende Lösung, weil sie letztendlich vom Immunsystem des Empfängers abgestoßen werden. Und selbst wenn eigene Zellen genutzt werden, sind die Langzeitergebnisse oft nicht überzeugend. Häufig sind viele Operationen nötig, und störende Narben bleiben zurück.
Was noch fehlt im Handwerkskasten der Chirurgen, ist ein komplexer Hautersatz aus Epidermis und Dermis, der sicher und praktisch mit nur einer Operation übertragbar ist und möglichst wenig Narben ausbildet. Nah dran an diesem Wunschtraum sind die Forscher von der Tissue Biology Research Unit am Kinderspital Zürich. Gerade haben an der Klinik drei kleine Patienten mit schweren Vernarbungen bis zu sieben mal sieben Zentimeter große Hautersatzstücke übertragen bekommen, die zuvor im Labor aus den eigenen Zellen hergestellt wurden.
Blutgefäße sind eine Herausforderung
Die übertragene Haut besteht zwar aus Ober- und Unterhaut. Sie hat jedoch noch eine wesentlich Einschränkung. "Das Transplantat hat keine eigene Blutversorgung, die Gefäße müssen vom Wundbett in die neue Haut einwachsen", sagt Daniela Marino von der Schweizer Forschungsgruppe. Die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen erfolgt zunächst aus dem umliegenden Gewebe. Das sei noch nicht optimal, so die Forscherin. Im Labor sind die Zürcher Pioniere aber schon einen Schritt weiter. Im Experiment an Ratten gelang es, ein menschliches, komplett im Labor hergestelltes Hautstückchen inklusive Blut- und Lymphgefäße erfolgreich auf den Rücken der Tiere zu verpflanzen. "In diesem neu entwickelten Hautersatz gelangen die Nährstoffe, die für das Überleben des Transplantats nötig sind, rasch in das neue Gewebe", erklärt Marino.
Besonders wichtige Aufgaben erfüllen die Lymphgefäße bei der Wundheilung. Jeder kennt es, wenn nach kleinen Verletzungen Wundwasser durch das Pflaster sickert. Handelt es sich um große Wunden, wird entsprechend mehr Flüssigkeit frei. Damit das Wundwasser bei einer Hautübertragung abfließen kann, werden klassischerweise Schnitte in das Transplantat gemacht. "Eigentlich will man aber gar nicht das zerstören, was man gerade mühevoll aufgebracht hat", sagt Marino. Sind die Lymphgefäße bereits im Hautersatz enthalten, wie bei dem aktuellen Prototypen der Zürcher, übernehmen sie die Drainage der Flüssigkeiten.
Die Herstellung der Vollhaut dauert im Zürcher Labor mindestens 18 Tage, die der Variante mit Gefäßen minimal 22 Tage. Zu lange für den Patienten? "Nein", sagt Marino. Auch bei den zurzeit genutzten Methoden brauche es erst einmal bis zu eine Woche, bis die Wunde für das Aufbringen eines Ersatzes bereit sei. Dann würde häufig wie bei einer Patchworkarbeit vorgegangen, die Haut also in mehreren Operationen nacheinander Stück für Stück verpflanzt. "Wir stellen mit unserer Methode innerhalb von 20 Tagen ein großes Hautstückchen her", erklärt Marino. Die Methode ist maßgeschneidert und teuer, doch insgesamt werden wohl Kosten eingespart werden. Marino: "Es werden weniger Operationen nötig sein, weil die übertragene Haut einfach besser funktioniert, sie zum Beispiel mit den kleinen Patienten mitwächst, und das ästhetische Ergebnis von vornherein besser ist."
Dies ist der letzte Teil unserer sechsteiligen Serie über unterschätzte "Sinne und Organe" des Menschen. Bisher erschienen:
Teil 1: Riechen – ohne die Nase ist alles Mist
Teil 2: Schilddrüse – unscheinbarer Führungsspieler
Teil 3: Über Fett lässt sich streiten
Teil 4: Der Darm – das Organ der Superlative
Teil 5: Fühlen – "Der Tastsinn ist ein Lebensprinzip"
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.