IS-Terror: "Diese Frauen brauchen kein Mitleid, sondern Respekt"
Anmerkung der Redaktion: Achtung, dieses Interview enthält Schilderungen von Gewalttaten!
Herr Professor Kizilhan, Sie leiten ein Projekt, das mehr als 1000 schwer traumatisierte Frauen und Kinder, die in der Gefangenschaft des IS waren, für eine Traumatherapie nach Deutschland geholt hat. Dafür sind Sie viele Male in den Irak gereist und haben dort mit Überlebenden, aber auch mit Tätern gesprochen. Was fragen Sie einen IS-Kämpfer, wenn er vor Ihnen sitzt?
Mich interessiert in erster Linie, was für eine Person das ist, und nicht sein Verbrechen. Ich möchte mein Gegenüber – ganz gleich ob Täter oder Opfer – zunächst kennen lernen. Wie geht es diesem Menschen? Was hat er für Ansichten? Letztlich suche ich aber nach Erklärungen, warum er derart grausam sein konnte. Wir müssen die Motive der Täter verstehen, um das Morden langfristig zu beenden.
Wie gehen Sie bei Ihren Gesprächen vor?
Ich fange bei der frühesten Kindheit an. Ich vertrete sogar die Ansicht, dass man auch transgenerationale Aspekte berücksichtigen sollte, vor allem bei Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten, denn dort spielen Stämme und Hierarchien noch eine große Rolle. Mich interessiert etwa, welcher religiösen Gruppe mein Gesprächspartner angehört oder ob er früher selbst Gewalt oder Demütigung erfahren hat.
Finden Sie die Erklärungen, die Sie suchen?
Ja, zum Teil schon. Dafür muss man einerseits die Biografie des Täters erfassen, andererseits die Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist. Im letzten Jahrhundert hat sich die Legitimation von Gewalt in Europa stark gewandelt. Sie gilt mehrheitlich als nicht mehr akzeptabel, um Ziele zu erreichen. Vor gut 100 Jahren war das noch anders. Im arabischen Raum fand diese Veränderung noch nicht statt. Dort gibt es seit rund 1400 Jahren offene wie auch subtile Kriege, zum Beispiel den Kampf der Schiiten gegen die Sunniten. Gewalt spielt in diesen Gesellschaften eine große Rolle, um politische und wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Solche Ansichten übernehmen auch die jüngeren Generationen. In einer Studie aus dem Jahr 2001 wurden palästinensische Kinder gefragt: Was wollt ihr später werden? 37 Prozent sagten "Selbstmordattentäter".
Und unter solchen Bedingungen können wir alle zu Mördern werden?
Man muss leider ganz klar sagen: Wenn die Umstände passen, sind wir Menschen in der Lage zu töten. Ich bin der Ansicht, dass sich, wenn wir wieder eine Diktatur in Deutschland hätten, auch heute noch ausreichend Leute fänden, die bereit wären, für das Regime zu foltern und zu morden.
"In den Händen des IS" – eine 14-jährige Jesidin berichtet von ihrer Verschleppung durch den "Islamischen Staat"
Aus welchen Motiven?
Es gibt immer Personen, die nach Ordnung suchen und es als große Erleichterung empfinden, wenn andere ihnen sagen, was zu tun ist. Sie gehorchen, wenn sie dafür ausreichend belohnt werden. Manchen Menschen bereitet es zudem regelrecht Freude, andere zu erniedrigen und zu quälen. Außerdem wissen wir aus verschiedenen Studien, dass Menschen, die misshandelt worden sind, später häufig selbst zu Gewalt neigen. Aber einige der Täter sind sozial und biografisch völlig unauffällig. Sie sind zuvor weder aggressiv in Erscheinung getreten noch waren sie selbst Opfer von Gewalt.
Wie erklären Sie sich das?
Wir alle haben ein Potenzial für Gewalt und eines für Liebe. Welches wir nutzen, hängt von vielen Faktoren ab. Töten wir einen Menschen, müssen wir unser Handeln rechtfertigen. Dafür dient eine Ideologie, sei sie religiöser, ethnischer oder nationalistischer Natur. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der mit seiner Frau und seinen zwei Kindern von Bosnien nach Rakka gezogen ist, um sich dem Heiligen Krieg anzuschließen. Tagsüber köpfte er Menschen und vergewaltigte jesidische Mädchen, abends war er ein fürsorglicher Familienvater, der seine Kinder liebte, wie ich meine.
Empfand er kein Mitleid mit seinen Opfern?
Nein. Wir kennen solche Prozesse aus dem Nationalsozialismus. Das Gegenüber wird zu einem Objekt erklärt, ihm wird jegliche Form von Menschlichkeit abgesprochen. Ein christliches oder jesidisches Kind zu töten, ist für den Mann dann, wie wenn man ein Huhn schlachtet. Gemäß seiner Ideologie haben nur die, die zum sunnitischen Islam gehören, das Recht auf Leben. Alle anderen können versklavt oder getötet werden. Ein ehemaliger IS-Henker erzählte mir, seine größte Sorge vor der ersten Enthauptung wäre gewesen, mit dem Messer an einem Knochen hängen zu bleiben. Er hatte also Angst, die Technik nicht gut zu beherrschen und sich vor den anderen zu blamieren, während er sich keinerlei Gedanken um sein Opfer machte. Mit der Zeit bereitete ihm das Töten sogar Freude. Er schwärmte davon, wie ihm das warme Blut ins Gesicht spritzte.
Wie erklären sich Psychologen diese Lust am Töten?
Diese so genannte appetitive Aggression tritt in kriegerischen Extremsituationen auf. Sie hat mit Macht und Kontrolle zu tun, also damit, über andere zu herrschen. In der Türkei existierte nach dem Militärputsch 1980 das berüchtigte Foltergefängnis Diyarbakir. Der Leiter dort sagte zu den Insassen: "Ich bin euer Gott." Denn er konnte über Leben und Tod entscheiden. Interessant ist, dass die Opfer oft ebenfalls Allmachtsfantasien entwickeln und so werden möchten wie ihre Peiniger. Ich habe einige Menschen behandelt, die gefoltert worden waren und später selbst folterten. Auch Abu Bakr al-Baghdadi, der Anführer des IS, wurde zuvor in einem irakischen Gefängnis wohl misshandelt und gequält.
Sie unterhalten sich mit Tätern, die häufig schon eine Weile im Gefängnis sitzen. Entwickeln sie mit der Zeit Schuld- oder Schamgefühle?
Möglicherweise einige, die ideologisch noch nicht so gefestigt waren, sondern sich eher aus Spaß und Abenteuerlust dem IS angeschlossen haben. Ich erlebe aber sehr selten eine Form von Reue. Die Täter sind stark auf ihre Ideologie eingeengt. Psychologisch gesehen ist das durchaus sinnvoll. Studien an Soldaten haben gezeigt, dass jene, die ihr Verhalten nach dem Krieg reflektieren und sich schuldig fühlen, weil sie Menschen getötet haben, eine Traumafolgestörung entwickeln. Wer sein Tun hingegen verleugnet oder verdrängt, wird nicht krank.
In Syrien und dem Irak wächst eine Generation heran, die nur Krieg und Verfolgung kennt. Wir wissen aus der Forschung, dass diese Kinder später selbst oft zu Tätern werden. Wie kann man den Teufelskreis durchbrechen?
Durch Frieden und Versöhnung. Wir müssen den Kindern die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft geben. Ich sehe auch uns Europäer und die westliche Welt in der Verantwortung. Es ist ein globales Problem, dass wir uns nicht ausreichend mit Gewalt und ihrer Prävention auseinandersetzen. Wir sollten erkennen, dass wir die deutsche Demokratie nicht nur in Berlin schützen, sondern ebenso in Rakka und Mossul. Und wir müssen viel stärker dazu stehen, dass diese Regierungsform erstrebenswert ist. Sie ist nicht perfekt, aber eben das beste System, das wir haben.
Wie könnte die Hilfe konkret aussehen?
Wir dürfen die Kinder und Jugendlichen nicht terroristischen Organisationen überlassen, sondern müssen ihnen echte Perspektiven bieten. Denn auch ein Kind weiß, dass Gewalt nichts Gutes ist. Ich würde mir mehr Goethe-Institute wünschen, mehr NGOs, mehr humanitäre Hilfe, Theater, Musik, Schulen und Brunnen.
Halten Sie ein militärisches Eingreifen für sinnvoll?
Inwiefern Gewalt legitim wird, um Gewalt zu reduzieren, ist eine schwierige Frage. Im Idealfall findet man auf friedlichem Weg einen Kompromiss. Das funktioniert aber nur, wenn beide Seiten bereit sind, miteinander zu sprechen. Der IS ist das nicht und begeht nach wie vor Völkermord. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass man eine friedliche Lösung finden kann.
Sie waren mit der jesidischen Überlebenden Nadia Murad und der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney bei den Vereinten Nationen, um diese davon zu überzeugen, dass der IS Völkermord begeht. Ist Ihnen das gelungen?
Wenn Nadia vor den Vereinten Nationen über ihre Zeit in Gefangenschaft spricht, dann ist die Anteilnahme groß. Da kommen auch erfahrenen Politikern die Tränen. Und die UN hat im Jahr 2016 das Vorgehen des IS gegen die Jesiden als Völkermord deklariert. Auf der anderen Seite erlebe ich Starre und Unflexibilität, wenn es ums Handeln geht. Da geht es zu wie auf einem Basar mit vielen internationalen und regionalen Akteuren. Ich habe mit etlichen Geheimdienstlern und Militärs vor Ort gesprochen. Sie sind der Ansicht, der IS sei innerhalb weniger Monate zu besiegen, wenn alle Koalitionen zusammenarbeiten würden. Das passiert aber nicht.
"Wir müssen die Motive der Täter verstehen, um das Morden langfristig zu beenden"
Ist das nicht furchtbar frustrierend?
Absolut. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich sonst nicht allzu sehr mit Politik beschäftige. Stattdessen versuche ich, den Menschen vor Ort zu helfen.
Was haben die Frauen und Kinder erlitten, die Sie nach Deutschland geholt haben?
2014 griff der IS die überwiegend von Jesiden und Christen bewohnten Gebiete Ninive und Sindjar im Nordirak an. Erst im Nachhinein erkannte man eine Systematik hinter den Verfolgungen und Tötungen. Am 3. August sind IS-Kämpfer etwa in das jesidische Dorf Kocho einmarschiert. Sie haben die Bewohner mehrmals aufgefordert, zum Islam zu konvertieren. Die Dorfgemeinschaft hat das abgelehnt. Daraufhin haben die IS-Milizen erst den Bürgermeister und dann 413 Männer auf einem Hügel hinter der Schule erschossen. Neun haben schwer verletzt überlebt, weil sie unter den Leichen der anderen vor dem Kugelhagel geschützt waren. Mit einigen von ihnen habe ich gesprochen. Die restlichen Bewohner teilten die IS-Kämpfer in Gruppen auf: Jungen bildeten sie zu Kindersoldaten aus. Mädchen und Frauen verkauften sie an Kämpfer und Interessenten aus Saudi-Arabien, Katar und Tunesien. Die jüngste meiner Patientinnen, die das erleiden musste, war acht Jahre alt.
Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?
Letztlich wenden wir die moderne Psychotraumatologie kultursensibel an. Wir beachten also, woher die Patienten stammen. Jede Kultur hat unterschiedliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und eigene Erklärungen und Strategien. Prinzipiell treten Posttraumatische Belastungsstörungen in allen ethnischen Gruppen auf, aber die Symptome variieren.
Welche Symptome zeigen die jesidischen Patienten?
In Kulturen, die keine psychischen Erkrankungen kennen, äußern sich traumatische Erfahrungen häufig durch körperliche Beschwerden, etwa Rücken- oder Bauchschmerzen. Folteropfer aus dem Mittleren und Nahen Osten leiden oft an Magenkrämpfen und -blutungen, vergewaltigte Kinder an Unterleibsbeschwerden. Ein kleiner Teil entwickelt psychotische Symptome. Je nachdem aus welcher Kultur sie kommen, kann auch das Trauma etwas anderes für sie bedeuten.
Inwiefern?
Bei den Jesiden sprechen wir von drei Typen von Traumata, die sich gegenseitig beeinflussen und alle in der Therapie behandelt werden sollten. In den letzten 800 Jahren hat diese Volksgruppe mehr als 70 Genozide erlebt. Jedes jesidische Kind kennt die Geschichten, Lieder und Gebete über ihre Verfolgung. Das ist ihr transgenerationales Trauma. Sie leiden seit dem 3. August auch unter einem kollektiven Trauma, als der IS begann, ihre Gemeinschaft systematisch auszulöschen. Und jeder von ihnen hat seine eigenen schrecklichen Erlebnisse, die er verarbeiten muss: sein individuelles Trauma. Jesiden leben in einer kollektiven Gesellschaft, daher ist es wichtig, das gemeinschaftliche Trauma viel stärker in den Fokus zu nehmen als bei Europäern.
Wie behandeln Sie das kollektive und transgenerationale Trauma in der Therapie?
Ich frage sie in der Therapie zum Beispiel nicht nur über ihre Biografie, sondern auch über ihre Vorfahren. Woher kommen sie? Wie haben sie überlebt? Denn das, was ich heute bin, ist beeinflusst davon, wie frühere Generationen meiner Familie gelebt haben und welche Strukturen und Erziehung ich als Kind erfahren habe. Und das alles beeinflusst wiederum, wie ein Mensch in einer traumatischen Situation reagiert. Gerät er in eine Schockstarre, oder bleibt er handlungsfähig? Und wie geht er später mit den Erlebnissen um? Man kann es als eine Form der Resilienz sehen, dass eine Minderheit von etwa einer Million Jesiden innerhalb von 400 Millionen Muslimen nach jeder Verfolgung in der Lage war, aufzustehen und neu anzufangen.
Welche kulturspezifischen Bewältigungsstrategien bringen die Frauen mit?
Zum Beispiel das Geschichtenerzählen, das fest in der jesidischen Kultur verankert ist. Wir nutzen das in der Therapie als Ressource. Ich bitte die Patienten oft: Erzählen Sie mal, wie lange waren Sie in Gefangenschaft? Was haben Sie in dieser Zeit gemacht? Und dann höre ich zu. Die Narration ist eine Konfrontation auf niedrigem Niveau. Denn ich muss schauen, wie weit ich gehen kann, und wiederhole das so lange, bis sich der Patient daran gewöhnen konnte. Ich gebe ihm aber auch die Erlaubnis, einfach mal zu schweigen. Wir Verhaltenstherapeuten sind stark darauf getrimmt, Erfolge zu erzielen. Aber das gelingt nicht immer durch mehr Reden und mehr Tun. Oft ist es hilfreicher, Geduld zu haben und dem Patienten die Zeit zu geben, die er braucht.
Ist bei der Therapie ein Dolmetscher anwesend?
Wenn es irgendwie geht, dann versuchen wir, in der Muttersprache zu behandeln. Wir haben das Glück, dass neben mir auch noch andere aus dem Team kurdisch sprechen. Wenn wir Dolmetscher einsetzen, müssen sie geschult werden. Denn der Übersetzer hört sich die Geschichten der Frauen genauso an wie ich. Ich bin aber ausgebildet und kann damit umgehen. Wir hatten in diesem Projekt dennoch einige Ausfälle von Dolmetschern, die die Berichte nicht mehr ertragen konnten.
Sie behandeln also einige der Frauen selbst?
Ja, da ist zum Beispiel eine 26-jährige Jesidin. Sie hatte drei Kinder, eine zwei- und eine fünfjährige Tochter und einen sechsjährigen Sohn. Die IS-Kämpfer erschossen ihren Mann und viele Familienangehörige vor ihren Augen. Sie selbst wurde mehrmals verkauft, zuletzt an einen Mann, der sie und die Kinder in unvorstellbarer Weise quälte. Er verlangte von ihr, jeden Tag arabische Verse auswendig zu lernen, obwohl sie die Sprache nicht beherrschte. Machte sie Fehler, schlug und bestrafte er sie und die Kinder. Irgendwann steckte er die Zweijährige in eine Blechbox. Und das im Sommer in Rakka, wo es bis zu 60 Grad heiß wird. Meine Patientin durfte sie eine Woche lang nicht befreien und versorgen. In einem Gewaltexzess hat er dem Kind schließlich das Rückgrat gebrochen. Es hat noch zwei Tage gelitten, ehe es gestorben ist. Diese junge Frau lebt nun in Baden Württemberg, und sie sagt mir: "Jeden Tag, wenn ich meine Kinder in die Schule und in den Kindergarten bringe und dort andere Kinder im Alter meiner Tochter sehe, dann sehe ich sie vor mir. Und ich finde keine Erklärung, warum dieser Mensch sie getötet hat."
"Es erschwert die Behandlung, dass der Völkermord noch nicht beendet ist"
Wie konnten Sie dieser Frau helfen?
In der ersten Phase ging es vor allem darum, sie zu stabilisieren und einen strukturierten Alltag aufzubauen. Ihre beiden überlebenden Kinder sind natürlich eine tolle Ressource; gleichzeitig war ihre Sorge groß, dass sie auf Grund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage wäre, ihre Kinder zu versorgen und man sie ihr wegnehmen könnte. Das wäre eine erneute Traumatisierung.
Wie geht es ihr heute?
Als sie nach Deutschland kam, trug sie nur schwarze Kleider. Jetzt trägt sie Hosen, und sie pflegt und schminkt sich wieder. Das ist für mich eine große Entwicklung. Letztens erzählte sie mir stolz, dass ihre Kinder nun Rad fahren können. Ich fragte sie, ob sie das nicht mal selbst versuchen möchte. Doch sie lehnte ab, weil sich das für Frauen nicht gehöre. Zwei Wochen später kam sie ganz aufgeregt zu mir. Sie hatte mit einer Nachbarin geübt und es innerhalb eines Tages gelernt. Jetzt fährt sie mit ihren Kindern morgens mit dem Fahrrad zur Schule und in den Kindergarten. Solche Erfahrungen sind manchmal wichtiger als die Konfrontation mit dem Trauma. Denn die klassische Expositionstherapie kann vor allem bei älteren Menschen aus kollektivistischen Kulturen unter anderem auf Grund der erheblichen Schamgefühle auch dazu führen, dass diese die Behandlung abbrechen.
Welche weiteren Probleme treten in der Therapie auf?
Viele Patienten aus dem Mittleren und Nahen Osten haben eine sehr unkritische Haltung gegenüber Medikamenten. Sie meinen, bestimmte Mittel könnten ihre Erinnerungen löschen. Viele Frauen konsumieren starke Schmerzmittel, Jugendliche vor allem Alkohol, Nikotin und andere Drogen. Außerdem erschwert es die Behandlung, dass der Völkermord noch nicht beendet ist. Die Patienten selbst sind in Sicherheit, aber rund 3000 Frauen und Kinder sind nach wie vor in Gefangenschaft. Viele wissen nicht, ob ihre Verwandten und Freunde noch leben.
Kam es vor, dass Patientinnen sich nicht von Ihnen behandeln lassen wollten, weil sie auf Grund ihrer Kultur nicht mit einem Mann über so intime Dinge sprechen möchten?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe in den letzten 20 Jahren in verschiedenen Ländern gearbeitet und traumatisierte Frauen aus Tschetschenien, Ex-Jugoslawien oder Ruanda behandelt. Aber natürlich würde ich so einen Wunsch respektieren. Ich glaube allerdings, es geht vielmehr darum, die Patientinnen anzunehmen und ihnen Zeit zu lassen, um mich kennen zu lernen. Wir sollten diesen Frauen mit Respekt begegnen und nicht mit Mitleid. Gleichzeitig dürfen wir keine Angst haben, uns die Geschichten anzuhören.
Werden die Frauen und Kinder hierbleiben?
Zum jetzigen Zeitpunkt möchten über 90 Prozent hierbleiben. Und sie dürfen das auch, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Diese Regelung war mir sehr wichtig, um ihnen langfristig Sicherheit bieten zu können. Denn ich weiß aus der Flüchtlingsarbeit, dass eine Traumatherapie kaum möglich ist, wenn der Aufenthaltsstatus unklar ist. Die Kinder sind inzwischen gut angekommen. Schule und Kindergarten sind für sie oft schon Psychotherapie, denn sie erleben endlich einen strukturierten, vorhersehbaren Alltag. Ebenso haben die jüngeren Frauen angefangen, sich zu integrieren. Sie merken, dass sie in Deutschland respektiert werden. In ihren Herkunftsländern werden vergewaltigte Frauen ausgegrenzt. Ältere Frauen haben mit ihrer Trauer oft noch nicht abgeschlossen. Sie haben auch immer noch das Gefühl, durch die Vergewaltigungen ihre Ehre verloren zu haben. Solche kulturellen Ansichten sitzen tief.
Was tun Sie bei solchen Überzeugungen?
Ich stelle sie in der Therapie in Frage. Wer hat denn die Ehre verloren – Sie oder der Täter? Hat er nun mehr Ehre und Sie weniger? So rege ich zum Umdenken an.
Sie sagten einmal: "Jedes Mal, wenn man denkt, man hat bereits das Schlimmste gehört, was man sich so vorstellen kann, erzählt einem jemand etwas noch Schlimmeres." Schaffen Sie es, die Schicksale Ihrer Patienten nicht mit nach Hause zu nehmen?
Wenn ich das tun würde, hätte ich mit meiner Arbeit schon aufgehört. Denn es bringt nichts, wenn ich selbst krank werde. Ich habe auch noch nie von einem Fall geträumt. Aber die Geschichten machen mir immer wieder schmerzlich bewusst, wie weit weg wir noch von einer gewaltlosen und friedlichen Gesellschaft sind.
Was hilft Ihnen dabei, die Distanz zu wahren?
Es hilft mir, dass ich wissenschaftlichen Fragen nachgehe, etwa der, warum Menschen zu derartiger Gewalt neigen. Außerdem veröffentliche ich Bücher und Publikationen. Und ich empfinde es als tröstend, mir klarzumachen, dass diese Grausamkeiten nichts Neues sind. Sie sind das vielleicht für mich, in der Geschichte der Menschheit kamen sie allerdings immer wieder vor.
Sie haben vor Kurzem in der nordirakischen Stadt Dohuk den Masterstudiengang "Psychotherapie und Psychotraumatologie" ins Leben gerufen und halten dort selbst Lehrveranstaltungen.
Genau. Die Studierenden erwerben eine Doppelqualifikation. Sie absolvieren gleichzeitig einen Masterstudiengang und eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. Im Frühjahr 2017 haben die ersten 30 begonnen. Sie sollen später ihre Landsleute in der Muttersprache behandeln. Natürlich werden 30 Traumatologen nicht Millionen traumatisierter Menschen behandeln können. Doch es ist ein erster Schritt, um die Psychotherapie und Psychotraumatologie langfristig in die Gesundheitsversorgung des Landes zu integrieren und den Menschen die Furcht vor psychischen Erkrankungen zu nehmen.
Wer studiert dort?
Männer und Frauen, Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen. Alle haben einen Bachelorabschluss in Psychologie, Pflege-, Erziehungs- oder Sozialwissenschaften. Wir haben bewusst Studierende unterschiedlichster Herkunft ausgewählt, damit sie sich ihren Vorurteilen stellen müssen und lernen, dass Versöhnung möglich ist. Aber wir Dozenten geben nicht nur unser Knowhow weiter, wir lernen im Austausch auch ganz viel von den Studenten. Zum Beispiel: Wie wird Krankheit in ihrer Kultur verarbeitet? Welche Vorstellungen von Psyche und welche Bewältigungsstrategien bringen die Patienten mit? Dieses kulturspezifische Wissen können wir nutzen, um die Behandlung von Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland zu verbessern.
Die Fragen stellte Liesa Klotzbücher, Diplompsychologin und Redakteurin bei "Gehirn&Geist".
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