Amazonas: Dieser Turm soll die Zukunft des Regenwaldes enthüllen
Bevor Cléo Quaresma und David Adams auf die erste Treppenstufe steigen, nehmen sie noch einen tiefen Atemzug. Es ist halb neun Uhr morgens, die beiden Wissenschaftler stehen in einem gelben Sicherheitsgeschirr mit Helmen auf dem Kopf vor dem orange-weißen Stahlgerüst. Ingenieur Sipko Bulthuis checkt, ob alles sitzt. Dann hakt Quaresma die Verbindung vom Gurt in der Schiene ein, die sich an der Treppe entlang durch das 325 Meter hohe Stahlskelett zieht. 1500 Stufen liegen vor ihnen, ein schweißtreibender Aufstieg.
Das Max-Planck-Institut für Chemie und seine brasilianischen Partner ließen den Stahlturm des Amazon Tall Tower Observatory, kurz ATTO 2014 errichten, um die Geheimnisse des Regenwaldes zu lüften. Dort oben, sagt David Adams, sei die Luft so rein wie über dem Ozean. Normalerweise.
Nur verändert sich, was für diesen Regenwald als normal gilt. Statt ozeanreiner Luft sammelte sich in der Brandsaison von 2023 Ruß und Rauch im Wald. Winde trugen Rußpartikel von der Küste bis zum Turm, die Sensoren verzeichneten neue Rekorde. Teilweise reichte der Rauch der Feuer bis in das Camp hinein, erzählen die Forschenden, die hier leben. »Das war gruselig«, sagt ATTO-Wissenschaftlerin Hella van Asperen.
Der nahende Kipppunkt?
Der mächtigste Regenwald der Welt ist bedroht. Abholzung, Waldbrände und illegale Minen vernichten jedes Jahr unberührten Primärwald, im Jahr 2024 kommt noch El Niño hinzu. Mit dem Klimawandel scheint sich das Wetterphänomen zu intensivieren, dieses Mal hat es der Region den Regen genommen und Hitzerekorde gebracht. In der vergangenen Trockenzeit im Oktober und November fielen die Wasserpegel, Flussdelfine verendeten, Rauch zog durch den Wald. Selbst der noch intakte Primärwald brannte, auch das unterscheidet diese Brandsaison von jenen früherer Jahrzehnte. Die Trockenzeit von 2024 geht auf ihren Höhepunkt zu und könnte ähnlich verheerend werden wie das Jahr zuvor.
Temperaturen von 40 Grad, Dürre, Feuer. Fühlt sich so der nahende Kipppunkt an?
Es ist kaum möglich, über den Amazonas zu forschen, ohne dass der Begriff Kipppunkt auftaucht. Kipppunkte bezeichnen kritische Grenzen für ein Ökosystem. Jenseits dieser Grenzen schlägt es abrupt aus einem bis dahin stabilen Zustand in einen anderen ganz unterschiedlichen um. Klimaerwärmung, Abholzung oder ein Ausbleiben des Niederschlags gelten als mögliche Faktoren, die ein Kippen verursachen könnten. Ein Zehntel bis zur Hälfte der Ökosysteme im Amazonas könnte bereits in den kommenden Jahrzehnten kollabieren, der Regenwald sich in Savanne verwandeln, warnte etwa ein Forschungsteam aus Brasilien, Europa und den USA in einer im Februar 2024 in »Nature« veröffentlichten Studie.
»Es könnte sein, dass dieses Jahr noch schlimmer ausfällt als letztes Jahr«Santiago Botía, Max-Planck-Institut für Biogeochemie
Bald veröffentlichten andere Forschende Gegenreden: Bei solchen Kipppunkt-Studien seien sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch der Grad der Erderwärmung »oder anderer Faktoren, unter denen dies geschehen könnte, höchst ungewiss«, erklärt etwa ein Team um Maya Ben-Yami von der Technischen Universität München wenige Monate später in der Fachzeitschrift »Science Advances«. Die Prognosen beruhten auf Modellen, die physikalische Prozesse vereinfachten. Und es sei generell schwierig, zukünftiges Verhalten aus historischen Daten abzuleiten. »Unser Verständnis der Funktionen des Amazonas im Erdsystem ist bei Weitem nicht ausreichend«, merkten japanische Fachleute im September 2024 in einer Publikation in »Nature Communications« an. Kurzum: Es ist nicht einfach, in die Zukunft zu sehen, wenn die Menschheit noch Probleme damit hat, die Gegenwart zu erklären.
Über den Dächern des Regenwaldes
Deshalb gibt es diesen Turm, 150 Kilometer entfernt von der Metropole Manaus. Der ATTO-Turm soll die empirischen Daten liefern, soll Treibhausgase und Aerosole messen, um die Schreckensszenarien der Klimamodelle zu bestätigen oder zu widerlegen. Das ist der Grund, warum Cleo Quaresma und David Adams hier sind. Quaresma ist Physiker am brasilianischen Institut IFPA, der US-Amerikaner Adams forscht an der Universidad Nacional Autónoma in Mexiko. Zusammen planen sie ein neues Projekt, um die Wolkenbildung über dem Amazonas zu beobachten.
Schritt für Schritt geht es aufwärts, alle 30 Meter wechselt die Farbe des Stahlgerüsts von Orange zu Weiß. Die Karabiner des Sicherheitsgurts schlagen gegen den Stahllauf, das Klong schallt in den Wald. Einige Vögel antworten, Insekten zirpen.
An der Forschungsstation gibt es noch zwei kleinere Türme, etwa 80 Meter hoch. Doch nur das orange-weiße Gerüst des höchsten Turms reicht über die Baumkronen hinaus und in die atmosphärische Grenzschicht hinein. Nur hier lässt sich beobachten, was im Amazonas zwischen der vom Boden beeinflussten Luftmasse und der freien Atmosphäre passiert.
Adams und Quaresma steigen weiter, über den Schutz der Baumkronen empor. Schlagartig wird es heißer. Kleine, weiße, flockige Wolken sind über den Turm aufgezogen. »Kleine Stürme«, nennt Atmosphärenforscher Adams sie.
In der Theorie schickt der Atlantik Wasser und Wind von der Küste landeinwärts, wo die Wolken abregnen. Das Wasser verdunstet und formt neue Wolken, die von dem Wind landeinwärts und dann bis in den Süden des Kontinents transportiert werden. So entsteht ein Band aus Wasser, das von der Küste bis nach Argentinien reicht, wies der brasilianische Forscher Enéas Salati erstmals in den 1970er Jahren nach. Von »fliegenden Flüssen« sprechen Wissenschaftler heute. »Checker Tobi« von der gleichnamigen Kindersendung ging gar in einem Kinofilm auf Reise zu diesen Flüssen, gedreht – natürlich – auf dem ATTO.
»Aber«, sagt Adams, »aus diesen kleinen Stürmen wird kein großer.« Und damit keine Regenwolke. Es brauche eben doch noch Feuchtigkeit vom Atlantik, sagt Adams. Und der sei nun zu warm oder der Wind zu stark. Es ist trocken, selbst für die Trockenzeit. Und auch andere Mechanismen im Wald scheinen gestört.
Wohin das Kohlendioxid fließt
In regelmäßigen Abständen kommt das Kletterteam nun an Antennen und Trichtern vorbei. »Das, was aussieht wie zwei Krallen«, sagt Quaresma und zeigt auf einen Stahlträger, der vom Turm absteht, »misst den Flux.« Per Ultraschall und Infrarot können die Krallen, Eddy-Kovarianz-System genannt, turbulente Gasbewegungen erfassen und analysieren. Quaresma nutzt sie vor allem, um die Bewegung von CO2 zu beobachten – und daraus Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie gut der Dschungel das Klimagas speichert. Wenn der Wald eine Senke ist, dann bewegt sich das Gas meist von der Atmosphäre Richtung Wald. Sollte er mehr CO2 abgeben, würde das Gas nach oben steigen.
Später, nach Aufstieg und Mittagessen und noch mit leicht zitternden Beinen, treffen sich Forschende und Angestellte im Camp. Einige halten Siesta in ihren Hängematten im Schlafsaal, andere flüchten vor der Hitze in die klimatisierten Bürocontainer, in denen Analysegeräte und Computer stehen.
Cléo Quaresma hat es sich auf einem Plastikstuhl vor seinem Laptop bequem gemacht und zeigt, was er aus den Messinstrumenten ableiten kann. Er deutet auf ein Diagramm mit verschiedenen farbigen Kurven, sie stehen für den Net Economic Exchange, kurz NEE. Ist die Größe negativ, dann funktioniert das Ökosystem als Senke. Ist sie positiv, dann stößt der Wald mehr CO2 aus, als er speichert.
Quaresmas Finger fahren die Linie auf dem Bildschirm nach, erst runter, dann hoch. »Am Anfang des Jahres hatten wir noch Regen, der Wald hat Kohlendioxid gespeichert«, erklärt Quaresma. Aber am Ende des Jahres, in der Trockenzeit, schnellt die Kurve nach oben. Der Wald nahm weniger CO2 auf, teils war er sogar eine Quelle des Treibhausgases.
Anruf bei Santiago Botía vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie, er ist Erstautor der Studie, für die Quaresma zuliefert. Wenn es zu heiß ist, dann fahren die Bäume ihren Stoffwechsel runter, sagt Botía. »Der Wald schaltet auf einen Wassersparmodus.« Im vergangenen El Niño, 2015 und 2016, konnten sich die Bäume von diesem Sparmodus kaum erholen, da kam schon die nächste Trockenzeit. »Es könnte sein, dass dieses Jahr noch schlimmer ausfällt als letztes Jahr«, befürchtet Botía deshalb.
Botía hat im Juli 2024 eine Analyse eingereicht, für die er Daten des ATTO und von anderen Messstationen ausgewertet hat. Die Daten legen nahe, dass der Regenwald weniger CO2 speichert als zuvor. Einige Regionen stoßen mittlerweile CO2 aus, wies ein Forschungsteam um die brasilianische Chemikerin Luciana Gatti in einer 2021 veröffentliche Studie nach. Das gilt insbesondere für die Ränder des Regenwalds, wo viel abgeholzt wird, der Rest unter Hitzestress steht oder unter den zunehmenden Feuern wegbrennt.
Eine drohende Abwärtsspirale
Von der Gefahren ist vom Turm aus mit bloßem Auge wenig zu sehen, zumindest zu dieser Jahreszeit. Der Regenwald unter Quaresma und Adams ist auf Minitaturgröße zusammengeschrumpft. »Das sieht aus wie Brokkoli«, sagt Adams. »Und ein bisschen Kohl.« Könnte auch dieses Teil des Amazonas kippen? Wird der Brokkoli bald braun und trocken oder von Feuern verwüstet? Versiegen dann die fliegenden Flüsse über dem Wald?
Diese Fragen zu beantworten, damit tun sich auch die ATTO-Forschenden schwer. »Es ist schwierig zu sagen, wie nah wir an einem Kipppunkt sind«, sagt Hella van Asperen. »Der Kipppunkt ist höchst ungewiss«, pflichtet Santiago Botía bei. »Vielleicht kann ein Teil des Waldes den Klimawandel bewältigen, wenn wir nicht noch mehr abholzen.« Adams fügt hinzu: »Das sind alles Modelle. Aber wir brauchen empirische Daten, um diese Modelle zu verifizieren.«
»Der Kipppunkt ist höchst ungewiss. Vielleicht kann ein Teil des Waldes den Klimawandel bewältigen, wenn wir nicht noch mehr abholzen«Santiago Botía, Max-Planck-Institut für Biogeochemie
Was diese Modelle vorhersagen, ist folgendes: Mit Hitze und weniger Wasser würden Bäume langsam sterben. Der Wald würde lichter, die eh schon nährstoffarmen Böden würden noch öder und trockener werden, sich langsam in Savanne verwandeln. Das könnte die fliegenden Flüsse stören. »Dann würde auch der Landwirtschaft im Süden Brasiliens und Argentiniens der Regen fehlen«, sagt Quaresma.
Wenn die Vegetation zerfällt, dann könnte sich der in Bäumen und Boden gebundene Kohlenstoff freisetzen. Im Fall des Amazonas sind das schätzungsweise zwischen 80 bis 120 Milliarden Tonnen – die gesamten menschlichen Emissionen im Jahr liegen bei gerade mal elf Milliarden Tonnen. »Wenn Teile davon frei würden, könnte das eine Spirale erzeugen«, sagt Botía.
Quaresma und Adams wollen nun mehr empirische Daten sammeln. »Da wollte ich die GPS-Antenne anbringen«, sagt Quaresma und zeigt auf die äußerste Ecke des Stahlgerüsts. »Mit einer Verlängerung«, sagt Adams. Feuchtigkeit verzögert die GPS-Signale, daraus können Adams und Quaresma Rückschlüsse über den Wasserdampf über dem ATTO ziehen. Doch die Instrumente liegen noch beim brasilianischen Zoll. Also lassen sie den Blick schweifen. Ein paar sanfte Hügel, ein schmaler Fluss lässt sich erahnen. Sonst ist da, bis zum Horizont und darüber hinaus, nur Regenwald.
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