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Traumafolgen: Jede Form von Dissoziation hat ihr eigenes Muster

Dissoziative Symptome entstehen in der Regel nach schweren Kindheitstraumata. Hirnscans können diese Spuren nicht nur sichtbar machen, sondern auch die verschiedenen Symptome unterscheiden.
Eine Frau steht neben sich
Ein typisches dissoziatives Erleben ist das Gefühl, »neben sich« zu stehen oder das eigene Tun wie in einem Film wahrzunehmen. (Symbolbild)

Dissoziationen können viele Formen annehmen: von emotionaler Taubheit bis hin zu wechselnden Identitäten. Ursache ist meist ein Trauma in der Kindheit. Für unterschiedliche Formen von Dissoziationen hat ein US-Forschungsteam nun bei Frauen typische Aktivitätsmuster im Gehirn gefunden. Das berichtet die Gruppe um Lauren Lebois vom McLean Hospital in Belmont in der Fachzeitschrift »Neuropsychopharmacology«.

Mit einem bildgebenden Verfahren, der funktionellen Magnetresonanztomografie, suchte das Team bei 91 Probandinnen nach Auffälligkeiten in der Aktivität von bestimmten neuronalen Netzwerken, die in Vorversuchen individuell bestimmt wurden. Zur Stichprobe zählten Frauen mit oder ohne Kindheitstrauma, die eine dissoziative Störung oder eine Posttraumatische Belastungsstörung mit oder ohne dissoziative Symptome entwickelt hatten.

Bei Frauen mit Dissoziationen fanden die Forschenden eine vermehrte Konnektivität, also eine verstärkte Koaktivierung oder gekoppelte Aktivität von drei Netzwerken, deren Zusammenarbeit dem »Triple-Network-Modell« zufolge bei vielen psychischen Störungen eine Rolle spielt, etwa bei Depressionen und Autismus. Beteiligt waren: erstens das zentrale exekutive Netzwerk zwischen Stirn- und hinterem Scheitellappen, das Informationen im Arbeitsgedächtnis verarbeitet. Zweitens das »Default-mode«-Netzwerk, das Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen verbindet und dann aktiv wird, wenn gerade keine Informationen zielgerichtet verarbeitet werden, etwa beim Tagträumen. Und drittens das Salienz-Netzwerk, zu dem die Mandelkerne zählen: Es reagiert auf auffällige Reize und beeinflusst die Interaktion der beiden anderen Netzwerke.

Dissoziationen sind messbar

Bei den Versuchspersonen mit Dissoziationen war die Konnektivität der drei Netzwerke stärker ausgeprägt, die mit anderen Regionen hingegen war schwächer. Außerdem entdeckten die Forschenden typische Koaktivierungsmuster für verschiedene dissoziative Syndrome, zum Beispiel für die dissoziative Identitätsstörung im zentralen exekutiven Netzwerk. »Die typischen Dissoziationen bei PTBS und bei dissoziativen Identitätsstörungen sind jeweils mit eigenen Hirnsignaturen verbunden«, erläutert Lebois, Direktorin des Forschungsprogramms für dissoziative Störungen und Traumata am McLean Hospital, in einer Pressemitteilung.

Solche Auffälligkeiten hatte die Psychologin schon 2020 in ersten Daten ihrer Patientinnen beobachtet: Je mehr die Aktivitäten von Default-mode-Netzwerk und dem zentralen exekutiven Netzwerk miteinander verbunden waren, desto schwerer waren die dissoziativen Symptome. Auch andere Studien hatten bereits Hinweise auf eine verstärkte Konnektivität bei Dissoziationen gefunden.

Einige Fachleute zweifeln allerdings bis heute daran, dass dissoziative Störungen überhaupt existieren. Die neuen Befunde könnten dazu beitragen, die Zweifel zu beseitigen. »Dissoziationen und dissoziative Störungen werden unterschätzt, oft nicht erkannt oder fehldiagnostiziert«, sagt Lebois. Die Forschung mache die unsichtbaren Spuren der Traumata sichtbar und zeige, dass dissoziative Symptome messbar sind.

Kurz erklärt: Dissoziationen

Bei einer Dissoziation spalten sich psychische Funktionen voneinander ab, die eigentlich zusammengehören. Ursache sind in der Regel schwere Kindheitstraumata wie Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch: Die Psyche schützt sich gegen diese Erfahrungen zum Beispiel, indem sie sie aus dem Gedächtnis verdrängt oder die damit verbundenen Gefühle dämpft. Eine solche Dissoziation kann zu einem dauerhaften Schutzmechanismus und so zu einer eigenen Störung werden, wie im Fall der dissoziativen Identitätsstörung oder der Depersonalisations-/Derealisationsstörung. Sie kann aber auch ein Symptom im Rahmen einer anderen Traumafolgestörung bilden, wie die emotionale Taubheit bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.

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