1918: Dolchstoß in die Republik
28. September 1918 im belgischen Kurort Spa: Im Großen Hauptquartier des Deutschen Kaiserreichs herrscht hektische Betriebsamkeit. Pausenlos laufen die Meldungen von der Westfront ein. Es sieht nicht gut aus für die Deutschen. Wenige Wochen zuvor hatten sie bei Amiens den bislang schwersten Schlag hinnehmen müssen. Auf breiter Front mussten sich die Truppen zurückziehen. Seitdem setzt es Angriff auf Angriff. Den Attacken der Alliierten haben die Soldaten kaum noch etwas entgegenzusetzen.
Die Überlegenheit der Angreifer wird immer deutlicher: Sie hatten zwei Millionen Soldaten, Waffen und Verpflegung aus Amerika bekommen, das – provoziert von deutschen U-Boot-Angriffen – 1917 in den Krieg eingetreten ist. Die deutschen Soldaten sind ausgehungert und von langen, zermürbenden Grabenkämpfen demoralisiert. Alle Hoffnung, den Krieg doch noch zu gewinnen, hatte man in die Frühjahrsoffensive 1918 gesetzt. Doch deren Anfangserfolge waren, auch wegen strategischer Fehler der Heeresleitung, schon vor Monaten verpufft. Zudem künden Hiobsbotschaften aus der Heimat von einer Kriegswirtschaft, die kurz vor dem Kollaps steht.
Revolution von oben
In dieser aussichtslosen Situation arbeitete das Auswärtige Amt fieberhaft an einer Lösung. Wie konnte man angesichts der sich abzeichnenden Niederlage den Krieg möglichst ohne Gesichtsverlust für das Deutsche Reich beenden? »Der Übergang von Sieg auf Niederlage, so die Überlegungen, sollte der Bevölkerung so schonend wie möglich beigebracht werden«, erklärt der Potsdamer Historiker Christian Müller.
Dabei waren sich die Diplomaten in der Berliner Wilhelmstraße darüber im Klaren, dass die angestrebte Verständigung mit den Alliierten ohne vorherige institutionelle Reformen des Kaiserreichs nicht machbar war. Staatssekretär Paul von Hintze kam zu der nüchternen Analyse, dass im Zeichen der Niederlage nur eine Regierung auf breiter demokratischer Grundlage alle Kräfte zusammenfassen und eine glaubwürdige Friedensaktion einleiten könne. »Begrenzte politische Reformen«, so sein Kalkül, »sollten die immer größer werdende Gefahr einer ›Revolution von unten‹ nach russischem Vorbild in Deutschland bannen und die Dynastie retten« (Christian Müller). Mit diesem Programm einer »Revolution von oben« reiste Hintze in der Nacht vom 29. September ins Große Hauptquartier nach Spa.
Suche nach einem Sündenbock
Dort hatte tags zuvor Erich von Ludendorff, Erster Generalquartiermeister in der Obersten Heeresleitung, mit ähnlichen Plänen aufgewartet. Der mehr als vier Jahre dauernde Krieg, in den das Kaiserreich siegesgewiss gegangen war, sei nicht mehr zu gewinnen, da die Armee »schon schwer durch das Gift spartakistisch sozialistischer Ideen verseucht« sei. Damit das geschlagene Heer den »revolutionären Bazillus nicht nach Deutschland trage«, sei es deshalb dringend geboten, so der militärische Falke, umgehend Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen. Dabei sollte alles vermieden werden, was dem Waffenstillstandsersuchen auch nur den Anschein einer Kapitulation verlieh.
Auch Ludendorff drang – ähnlich wie Hintze – darauf, die Regierung auf eine parlamentarische Basis zu stellen. Allerdings aus ganz anderen Gründen: Ihm ging es nicht darum, mit Hilfe der Reform die Alliierten an den Verhandlungstisch zu bekommen. Ludendorff verfolgte ganz andere Pläne.
Diese formulierte er am 1. Oktober in einer internen Sitzung vor Stabsoffizieren der Obersten Heeresleitung so: »Ich habe aber Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.« Mit seinem perfiden Plan, die Mehrheitsparteien im Reichstag in die Regierung einzubinden und sie so für die zu erwartende Kapitulation verantwortlich zu machen, bereitete Ludendorff den geistigen Nährboden für eine Verschwörungstheorie, die im Nachkriegsdeutschland begierig aufgenommen werden sollte – mit fatalen Folgen für die weitere historische Entwicklung: die »Dolchstoßlegende«.
Am 30. September unterzeichnete Wilhelm II. den so genannten Parlamentarisierungserlass, in dem er verkündete, »dass nun Männer, die von dem Vertrauen des Volkes getragen sind, in weiterem Umfang teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung«. Mit diesem Regierungsumbau wurden die Parteien der Reichstagsmehrheit nicht nur an der Regierung beteiligt, sondern auch in die Verantwortung für den Ausgang des Kriegs genommen.
Washingtons kalte Schulter
In der Erwartung, durch den Regierungsumbau einen gewissen Verhandlungsspielraum bei den anstehenden Waffenstillstandsverhandlungen zu haben, wandte sich Berlins neuer Reichskanzler, Prinz Max von Baden, an US-Präsident Woodrow Wilson. Von ihm erhoffte man sich moderatere Friedensbedingungen als von Großbritannien und insbesondere Frankreich. Am 4. Oktober, während an der Front noch immer Tausende starben, telegrafierte der deutsche Gesandte in Bern den Text der deutschen Note ins Weiße Haus: »Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstands zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen.« In der Folgezeit kam es zwischen beiden Seiten zu einem langwierigen telegrafischen Notenwechsel, wobei man in Berlin alles daransetzte, die schmähliche Rolle des um Frieden Bittenden zu vermeiden. Doch Wilson zeigte der Reichsregierung die kalte Schulter und erteilte ihrem Ansinnen, die Bitte um Waffenstillstand als humanitären Akt eines ungeschlagenen Heers darzustellen, eine Absage. Am 23. Oktober teilte er dem Auswärtigen Amt mit, dass er nur einen Waffenstillstand vermitteln könne, der »eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten seitens Deutschlands unmöglich« machen würde. Auch sei die Abdankung des Kaisers hierfür eine Conditio sine qua non. Die Hoffnung auf einen moderaten Verständigungsfrieden war vom Tisch.
Erst als mit der Abdankung des Kaisers am 9. November 1918 das »autokratische Junkerregime« in Berlin abgeschafft war, empfahl US-Präsident Wilson dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, Ferdinand Foch, eine deutsche Waffenstillstandsdelegation zu empfangen.
In heikler Mission
Nur zögernd erklärte sich der 77-jährige Marschall dazu bereit; zu tief saß das Ressentiment gegenüber den »perfiden Boches«. Er ließ den Deutschen lakonisch mitteilen, dass lediglich an einem schmalen, genau bestimmten Frontabschnitt in der Picardie das Feuer für wenige Stunden eingestellt würde. Während dieser kurzen Frist hätten die deutschen Unterhändler die Linien zu überschreiten. Am 7. November 1918 traf die vierköpfige deutsche Delegation vom belgischen Spa aus die Reise an. Mit dabei sind die Vertreter von Heer und Marine, Generalmajor Detlof von Winterfeldt und Kapitän zur See Ernst Vanselow, sowie Graf Alfred von Oberndorff als Repräsentant des Auswärtigen Amtes. Die Leitung hat der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger inne.
Die Fahrt an die Front war eine Tortur. Der korpulente Erzberger, seit Herbst Staatssekretär in der Regierung Prinz Max von Baden, wurde in dem feldgrauen Automobil so durchgerüttelt, dass sein Zwicker zerbrach, was ihn bei der Verhandlungsführung erheblich behindern sollte. Der ehemalige Volksschullehrer aus Schwaben und strenge Katholik saß bereits seit 1903 für die Zentrumspartei im Reichstag und hatte 1914 wie die meisten Deutschen vom »Siegfrieden« geträumt. Aber im Lauf des Kriegs hatte er sich allmählich zum Anhänger eines Friedens um jeden Preis gewandelt – weniger aus humanitären Erwägungen als vielmehr aus Furcht vor einer drohenden Bolschewisierung der kriegsmüden Massen.
Erschöpft traf die deutsche Delegation gegen neun Uhr abends im vordersten Schützengraben bei Trélon ein. Es herrschte dichter Nebel, und Sprühregen fiel aus dem grauen Himmel. Erzberger ließ an beiden Kotflügeln auf langen Stangen zwei große Tischtücher als weiße Fahnen anbringen. Ein Trompeter stieg auf das Trittbrett, und im Schritttempo rollte man Meter um Meter ins Niemandsland hinein, vorbei an Stacheldrahtverhauen und spanischen Reitern. Nach etwa fünf Minuten tauchte im Scheinwerferlicht ein französischer Soldat mit Stahlhelm und aufgepflanztem Bajonett auf. Schweigend ging er in den Nebelschwaden vor dem Wagen her und geleitete ihn in das nahe gelegene, völlig zerschossene Dorf La Capelle. Es war erst am Nachmittag im Sturmangriff von den Franzosen erobert worden.
Vor der ehemaligen »Kaiserlichen Ortskommandantur« hatte man in aller Eile die Trikolore gehisst. Zur Verblüffung der Deutschen umringten alsbald französische Soldaten das Auto, klatschten Beifall und riefen immer wieder: »Ist der Krieg aus?« Einige boten den Deutschen sogar Zigaretten an. Man stieg in fünf bereitstehende Militärautos um, jeder Delegierte saß für sich allein, eskortiert von einem französischen Offizier. Neben Erzberger nahm ein eleganter, schnurrbärtiger Major Platz, der sich als Prinz Bourbon Busset vorstellte. Er versuchte ein wenig höfliche Konversation zu treiben, schwieg aber indigniert, als er feststellen musste, dass der dicke Deutsche kein Wort Französisch sprach.
Im Wald von Compiègne
Nach etwa einer halben Stunde hielt man vor dem halb abgebrannten Pfarrhaus von Homblières, nicht weit von St. Quentin, wo sich das Hauptquartier der 1. Armee befand. Auf den Wink eines Generals servierte man den ausgehungerten Deutschen ein bescheidenes Nachtmahl. Dann ging die Fahrt durch die Nacht weiter. Gegen vier Uhr früh tauchte die Ruine des kleinen Bahnhofs von Tergnier auf. Im Gänsemarsch ging es über Berge von Trümmerschutt zu dem von Fackeln erleuchteten Bahnsteig, wo bereits eine Lokomotive mit drei Waggons unter Dampf stand. Man stieg ein. Gegen sieben Uhr früh hielt der Zug. Als Erzberger in der ersten Morgendämmerung hinauslugte, erblickte er eine einsame, verregnete Waldlichtung. Auf einem Nachbargleis hielt ein anderer Zug, der ebenfalls aus drei Waggons bestand. Wie Erzberger von dem etwas deutsch sprechenden Schlafwagenschaffner erfuhr, befand man sich in dem riesigen Waldgebiet um Compiègne, nicht weit von der kleinen Ortschaft Rethondes.
Marschall Foch hatte diesen abgelegenen, streng geheim gehaltenen Ort für die historische Zeremonie mit Bedacht gewählt. Er wollte den Triumph über die Deutschen möglichst allein auskosten und wünschte keinerlei neugieriges Publikum. Auf der menschenleeren Lichtung herrschte Totenstille. Kurz nach der Ankunft erschien ein französischer Offizier und teilte Erzberger kühl mit, dass die Delegation pünktlich um neun Uhr im Speisewagen von Marschall Fochs Zug erwartet würde. Als die übernächtigten Deutschen sich bleich und nervös dort einfanden, tauschte man stumm einige steife Verbeugungen. Dann erschien Marschall Foch mit dem Ersten Lord der britischen Admiralität, Admiral Wemyss. Er grüßte knapp, nahm Platz und fragte sogleich mit hoher, ein wenig krächzender Greisenstimme, ob die Deutschen gekommen seien, um von ihm einen Waffenstillstand zu erbitten. Als Erzberger dies tonlos bejahte, begann Fochs Generalstabschef, General Weygand, mit der Verlesung der insgesamt 34 Bedingungen für eine Feuereinstellung.
Schmachvolle Kapitulation
Riesige Waffenmengen und lebenswichtige Güter sollten übergeben werden, außerdem die ungeheure Zahl von 5000 Lokomotiven, 10 000 Lastkraftwagen und 150 000 Eisenbahnwaggons. Das gesamte linksrheinische Gebiet war unverzüglich von deutschen Truppen zu räumen. Köln, Mainz und Koblenz sollten französische Garnisonen werden.
Während die Deutschen zunehmend erstarrten, nestelte Foch mit eisiger Miene an seinen Schnurbartspitzen. Als mitgeteilt wurde, dass fast die gesamte deutsche Flotte unverzüglich an die Alliierten abzuliefern sei, brach Vanselow, der Vertreter der kaiserlichen Kriegsmarine, in Tränen aus. Admiral Wemyss war entsetzt über das »weibische Verhalten« des deutschen Offiziers. Erzberger, der ja kein Französisch verstand, begriff erst nach der Übersetzung das Ausmaß der Erniedrigung.
Anschließend verkündete Foch, dass die Frist für die Annahme der Kapitulationsbedingungen bereits in drei Tagen, am Montag, dem 11. November, um fünf Uhr früh, ablaufe. Falls der Waffenstillstandsvertrag bis dahin nicht unterzeichnet sei, gingen die Kämpfe uneingeschränkt weiter. Dann verließ Foch schweigend und ohne Gruß den Speisewagen. Niedergeschlagen und von der Härte der Bedingungen überrascht, hielt Erzberger Rücksprache mit Friedrich Ebert, seit 9. November Reichskanzler in der Nachfolge Prinz Max von Badens.
Der SPD-Vorsitzende, der es fortan als seine Aufgabe ansah, die revolutionären Umtriebe in Deutschland schnellstmöglich zu beenden, brauchte Ruhe an der Front, um die Lage im Innern zu stabilisieren. Deshalb erteilte er Erzberger die Weisung, zu jedweden Bedingungen zu unterschreiben. In der Nacht vom 10. auf den 11. November begann um zwei Uhr früh in Fochs Speisewagen eine dreistündige Sitzung, bei der es Erzbergers erstaunlich eloquenter und zäher Verhandlungstaktik sogar gelang, den Alliierten noch einiges auszureden. Nach der Unterzeichnung der Dokumente bat Erzberger ums Wort und verlas einen »flammenden Protest«, den vorzutragen ihm die Generalität quasi als »Ehrenrettung« aufgetragen hatte. Foch sagte nur: »très bien« und verließ, wieder ohne Handschlag, den Waggon.
Als sechs Stunden nach der Unterzeichnung der Kapitulation am 11. November 1918 um elf Uhr die Waffenruhe in Kraft trat, brach überall in den alliierten Schützengräben ein unbeschreiblicher Jubel aus. Britische Kavalleristen küssten ihre Pferde, bei den Franzosen sang man unentwegt die Marseillaise.
Nationale Demütigung
Weitaus weniger überschwänglich nahm man das Kriegsende in Deutschland zur Kenntnis. »Die Mehrzahl der Deutschen empfand die äußerst harten Kapitulationsbedingungen als nationale Demütigung«, konstatiert Robert Gerwarth, Professor für Neueste Geschichte am University College Dublin. Als besonders schmerzhafter Stachel im Fleisch der Nation erwies sich der Umstand, mit welcher Arroganz die Siegermächte dem Deutschen Reich die Friedensbedingungen diktieren konnten. Vor allem Frankreich, das unter dem Krieg besonders gelitten hatte, bestand auf harten Friedensbedingungen – und trug so wesentlich dazu bei, das politische Klima zwischen beiden Nationen auf Jahre zu vergiften.
Wie sehr die »Schmach von Compiègne« im kollektiven Gedächtnis der Deutschen nachwirkte, zeigte sich im Juni 1940, als das besiegte Frankreich die Bedingungen des nationalsozialistischen Regimes in dem gleichen Eisenbahnwaggon akzeptieren musste, in dem 1918 Deutschland kapituliert hatte.
Für die in den Geburtswehen liegende junge Republik bildete die bedingungslose Kapitulation eine schwere Belastungsprobe. »Kaum etwas belastete die Weimarer Demokratie so sehr wie die Waffenstillstandsbedingungen anno 1918«, konstatiert Gerd Krumeich, ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der als einer der ersten Historiker auf deren Folgewirkungen hingewiesen hat.
Die Tinte unter dem Vertrag war noch nicht getrocknet, da wütete bereits die konservative »Deutsche Tageszeitung«: »Das Werk, das unsere Väter mit ihrem kostbaren Blut erkämpft – weggewischt durch Verrat aus den Reihen des eigenen Volkes! […] Das ist eine Schuld, die nie vergehen wird.« Diese publizistische Attacke war der Anfang einer langen Reihe von Schmähungen gegen jene »vaterlandslosen Gesellen«, die in der Stunde der Wahrheit die Nerven verloren und so Deutschland eine »Nasenlänge vor dem Ziel ruhmlos zu Fall gebracht hätten«, wie Oberst Max Bauer, Abteilungschef im Generalstab und enger Mitarbeiter Ludendorffs, in einem Dossier schrieb.
»Der Mythos, ›im Felde unbesiegt‹ zu sein, gehörte zu den beliebtesten Selbsttäuschungen und war zugleich eine der infamsten Lügen«
Gottfried Niedhart
Fragen kamen auf, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und vor allem: Wer trug die Verantwortung an dem Desaster? »In solchen Situationen neigen Menschen zu einfachen Erklärungen des eigentlich Unerklärlichen«, sagt Andreas Wirsching, Professor für Neueste Geschichte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
Hinterrücks erdolcht
Eine davon war die vornehmlich in nationalkonservativen Kreisen verbreitete Vorstellung, man sei »im Felde unbesiegt« geblieben und erst die unpatriotischen Kräfte daheim seien dem tapfer kämpfenden Heer in den Rücken gefallen. »Der Mythos, ›im Felde unbesiegt‹ zu sein, gehörte zu den beliebtesten Selbsttäuschungen und war zugleich eine der infamsten Lügen«, schreibt der Mannheimer Neuzeithistoriker Gottfried Niedhart. Ebenso simpel wie eingängig wurde dieser Mythos schnell salonfähig. »Entscheidend war nicht, dass dieser in die Welt gesetzt wurde, sondern dass Millionen Deutsche ihn nachweislich geglaubt haben«, erklärt der am Institut für Internationale Beziehungen der Karls-Universität Prag lehrende Historiker Boris Barth.
Geglaubt wurde er mitunter auch deshalb, weil kein Geringerer als Paul von Hindenburg, Chef der ehemaligen Obersten Heeresleitung, ihm die notwendige Autorität verlieh. Der »Sieger von Tannenberg«, der in großen Teilen der deutschen Gesellschaft hohes Ansehen genoss, galt vielen Bürgern als nationaler Übervater.
So trat er am 18. November 1919 bei einer denkwürdigen Sitzung als Zeuge auf. Der von der Nationalversammlung eingesetzte Untersuchungsausschuss zur Klärung der Kriegsschuldfrage und der Ursachen der Niederlage hatte ihn vorgeladen. »Die Parteien haben den Widerstandswillen der Heimat erschüttert«, erklärte der Generalfeldmarschall a. D. der ersten öffentlichen Enquetekommission der deutschen Geschichte. Und weiter, in demagogischer Verdrehung der Fakten: »Hinzugekommen ist die heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer und die revolutionäre Zermürbung der Front. So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen.« Dann hob er zum Schlüsselsatz seiner Erklärung an: »Ein englischer General sagte mit Recht: ›Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.‹«
Damit war der Geist aus der Flasche: Durch Verrat sei der Krieg verloren gegangen. Nicht die militärische Führung des Kaiserreichs trüge dafür die Verantwortung, sondern die Politiker der demokratischen und linken Parteien, die am 9. November 1918 die Regierungsverantwortung übernommen hatten. Die Heimat sei der standhaften Armee in den Rücken gefallen.
Durch Hindenburg war der Dolchstoß in den Rang eines nahezu unbezweifelbaren Verdikts erhoben worden, und der Untersuchungsausschuss bot ihm hierzu ein geeignetes Forum, den Mythos prominent in der Öffentlichkeit zu lancieren. Der bürgerliche Theologe Ernst von Troeltsch brachte die ungeheure Breitenwirkung von Hindenburgs Auftritt auf den Punkt: Der Feldmarschall habe die Befragung im Reichstagsgebäude genutzt, »um sozusagen an der empfindlichsten Stelle des deutschen Volkes die Leidenschaften neu zu entzünden«.
Hypothek für Weimar
Die Dolchstoßlegende wurde zu einer der wirksamsten propagandistischen Waffen gegen die Weimarer Republik – und zum Dogma der Unzufriedenen. Sie lieferte ein einfaches Erklärungsmuster für all diejenigen, »die entweder Sündenböcke für die Niederlage suchten oder die Niederlage als solche negierten«, schreibt der an der Universität Blaise Pascal in Clermont-Ferrand lehrende französische Historiker Nicolas Beauprè. Gerade weil sie so vielseitig anwendbar war, entwickelte sie eine fatale Eigendynamik: Für manche waren es die streikenden Arbeiter, die den Dolch führten; für andere waren es die Anhänger der Republik, die Sozialisten und Kommunisten oder schlicht und einfach die »hinterlistigen Juden«.
Die Lüge von der unbesiegten Armee, die durch den Dolchstoß demokratischer und linker Kräfte in der Heimat um den Sieg, wenigstens aber um einen ehrenvollen Frieden gebracht worden sei, war eine schwere Hypothek für die junge Republik von Weimar. Fortan wurden alle politischen Vertreter und Anhänger der Weimarer Republik als »Novemberverbrecher« und »Erfüllungspolitiker« diffamiert.
Dabei spielten den Kritikern auch die überaus harten Friedensbedingungen in die Hände, welche die alliierten Siegermächte – Wehe den Besiegten! – dem geschlagenen Deutschland im Versailler Friedensvertrag diktierten. »In Versailles«, schreibt der deutsche Historiker Holger Afflerbach in seinem Buch »Auf Messers Schneide«, »gab es keinen Frieden, sondern – kaufmännisch gesprochen – eine Abschlussrechnung.« Und die wurde der deutschen Delegation, in Person von Außenminister Hermann Müller und Reichsverkehrsminister Johannes Bell, am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses auf äußerst demütigende Weise präsentiert.
Ohne der deutschen Delegation auch nur die Möglichkeit einer Erwiderung zu geben, mussten diese ihre Namen unter die Urkunde mit den 440 Artikeln setzen. Deutschland musste ein Siebtel seines Gebiets von 1914 abtreten sowie alle Kolonien. Ebenfalls beträchtlich waren die wirtschaftlichen Verluste: Deutschland gab fast seine gesamte Handelsflotte, ein Drittel der Kohle- und drei Viertel der Erzvorkommen ab. Außerdem musste Deutschland radikal abrüsten. Die Alliierten verboten die Wehrpflicht und erlaubten der Weimarer Republik nur, ein Heer aus 100 000 Berufssoldaten zu unterhalten. Besonders schwer wiegend aber war die Zuweisung der alleinigen Kriegsschuld: Deutschland, so hieß es im berühmten Kriegsschuldartikel 231, habe den Alliierten den Krieg »aufgezwungen« und sei für »alle Verluste und alle Schäden verantwortlich«. Um Wiedergutmachung zu leisten, legten die Siegermächte Reparationszahlungen in Höhe von 132 Milliarden Goldmark fest, umgerechnet etwa 300 Milliarden Euro.
Gegen die »moralische Herabwürdigung des geschlagenen Deutschlands« (Krumeich) erhob sich bald ein Aufschrei der Entrüstung. »Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?«, empörte sich der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der nach Bekanntwerden dieses »Schmachfriedens« von seinem Amt als Reichsministerpräsident zurücktrat. So wie Scheidemann empfanden viele Deutsche das Versailler Diktat. Selbst Kurt Tucholsky, der nun wirklich nicht im Verdacht stand, ein glühender wilhelminischer Militarist zu sein, erhob 1919 im Gedicht »Krieg dem Kriege« seine mahnende Stimme. Was ihn vor allem umtrieb, war die Sorge, dass die überaus harten Friedensbedingungen Revanchegelüsten Tür und Tor öffneten: »Geben sie uns den Vernichtungsfrieden, / ist das gleiche Los beschieden / unsern Söhnen und euern Enkeln. / Sollen die wieder blutrot besprenkeln / die Ackergräben, das grüne Gras? / Brüder! Pfeift den Burschen was! […] Die Imperialisten, / die da drüben bei jenen nisten, / schenken uns wieder Nationalisten / Und nach abermals zwanzig Jahren / kommen neue Kanonen gefahren. / Das wäre kein Friede. / Das wäre Wahn. / Der alte Tanz auf dem alten Vulkan«.
Totengräber der Demokratie
Wenn über das Scheitern der Weimarer Republik gesprochen wird, dann hat eine Begründung hierfür eine gewisse Berühmtheit erlangt: Weimar ist nicht an seiner Verfassung gescheitert, sondern am Mangel an Demokraten. Neben mangelnder Akzeptanz und fehlendem Rückhalt in der Bevölkerung wird neuerdings auch die These vertreten, dass die SPD-geführte Reichsregierung aus Sorge vor einem Bürgerkrieg über das unbedingt notwendige Maß hinaus die Zusammenarbeit mit den Repräsentanten des alten Regimes betrieben hätte. Bei größerem Gestaltungswillen, so die These des Berliner Historikers Heinrich August Winkler, hätten die Sozialdemokraten »mehr verändern können und weniger bewahren müssen«.
»Als besonders gravierend«, schreibt der Hamburger Historiker Volker Ullrich, »gilt das Versäumnis [...] durch eine grundlegende Militärreform eine republiktreue Truppe aufzubauen«. Stattdessen stützte sich die erste Demokratie auf deutschem Boden zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern auf das alte kaiserliche Militär und neu gebildete Freikorps. Der Geburtsfehler der Weimarer Republik bestand darin, so der englische Historiker Mark Jones, »dass sie von Anfang an keine wehrhafte Demokratie war«. Anders als die heutige Bundesrepublik Deutschland verfügte sie nicht über eine staatstragende Armee, sondern war auf Kräfte angewiesen, die sie zutiefst verabscheuten. Für Nicolas Beaupré waren sie die »Totengräber der Demokratie«.
Vor allem die in den Jahren 1918 und 1919 gebildeten Freikorps, Freiwilligenverbände aus Soldaten, die nicht ins Zivilleben zurückfanden, wurden zu Brutstätten einer aggressiven antidemokratischen Bewegung. Aus ihnen entwickelten sich republikfeindliche Verbände wie die Marinebrigade II (Brigade Ehrhardt), die das Hakenkreuz am Stahlhelm trug und aus deren Reihen sich die rechtsterroristische »Organisation Consul« rekrutierte, die in München ein umfangreiches konspiratives Netz unterhielt und vor Gewalt nicht zurückschreckte. Auf ihr Konto ging der Mord an Matthias Erzberger am 26. August 1921. Dieser aufrechte Demokrat war den republikfeindlichen Kräften als Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne und als Repräsentant des »Regimes der Novemberverbrecher« besonders verhasst. Er war eines der zahlreichen Opfer jener Menschen verachtenden Hetze, die wesentlich dazu beitrug, dass das »Trauma der Niederlage in eine Kultur des Hasses mündete«, schreibt Gerd Krumeich in seinem gerade erschienenen Buch »Die unbewältigte Niederlage«.
Dass die Saat des Hasses in weiten Teilen der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel, hatte viele Gründe. Einer davon war, dass die Attacken der Republikfeinde die allgemeine Wahrnehmung der Ereignisse geprägt haben. Denn viele Menschen glauben lieber radikal einfachen Schuldzuweisungen als komplizierten und differenzierten Erklärungen. Wenn man daher Lehren aus der Geschichte ziehen kann, dann ist es diese, dass gerade im Zeitalter von Fake News Behauptungen genau auf ihren Wahrheitsgehalt sowie ihren Urheber hin überprüft werden müssen und dass einfache Lösungen nicht immer die richtigen sind.
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