Antarktis: Erstmaliger Blick unter das Schelfeis offenbart unerwartete Strukturen
Die Landschaft ist durchzogen von Unebenheiten und Brüchen. Gebietsweise finden sich terrassenartige Strukturen, die sich regelmäßig wiederholen. Andernorts ist von solchen klaren Linien keine Spur, stattdessen reihen sich tiefe Krater aneinander, die geformt sind wie Tränen. All diese Einkerbungen zeugen von den Turbulenzen des unter ihnen liegenden Meeres, von warmen und kalten Strömungen, die aufeinandertreffen und sich verwirbeln, rasch unter das Eis dringen und an der Substanz nagen. Die Rede ist von einer Gegend, die kein menschliches Auge je erblickt hat: die Unterseite des antarktischen Schelfeises, genauer gesagt des Dotson-Schelfeises.
Die knapp 6000 Quadratkilometer große Eiszunge ragt vor der westantarktischen Küste ins Amundsenmeer, in direkter Nachbarschaft des berüchtigten Thwaites-Gletschers, der das Schicksal des Westantarktischen Eisschilds stark mitbestimmt. Ein Team von Fachleuten um Anna Wåhlin von der Universität Göteborg hat die Unterseite der Eisfläche jetzt erstmals mit einem autonomen U-Boot vermessen und dort Strukturen gefunden, die noch nie zuvor beobachtet wurden. Die Erkenntnisse, veröffentlicht im Fachmagazin »Science Advances«, sollen klären helfen, welche Prozesse das vermeintlich ewige Eis zum Schmelzen bringen. Nur so lässt sich vorhersagen, wie stark die Gletscher in der Antarktis in den nächsten Jahrzehnten abschmelzen werden und wie hoch dann der Meeresspiegel steigt.
Schelfeise sind die auf dem Meer schwimmenden Eismassen, die einem Gletscher vorgelagert sind. Durch ihr schieres Gewicht und die Reibung, die sie mit der Wasseroberfläche erzeugen, wirken sie wie riesige Bremsklötze und verlangsamen den Fluss der dahinterliegenden Gletscher ins Meer. Die weltweit steigenden Temperaturen setzen dem Schelfeis allerdings zu: Das wärmer werdende Meerwasser dünnt es aus, manche Schelfe könnten innerhalb der nächsten Jahrzehnte gar ganz abschmelzen. Die Folgen wären fatal: Flössen die dahinterliegenden, teils kilometerdicken Eismassen ungebremst in den Ozean, würde der Meeresspiegel massiv steigen. Wenn die Gletscher des Westantarktischen Eisschilds komplett ins Meer abfließen, steigt der Meeresspiegel im globalen Mittel um gut drei Meter.
Welche Mechanismen das auf dem Meer schwimmende Eis schmelzen lassen und wie rasch, ist allerdings keine einfache Frage. Verschiedene Prozesse tragen zur Gletscherschmelze bei, doch nicht alle sind im Detail verstanden. Messungen existieren nicht flächendeckend. Vor allem hatte bislang niemand das Schelfeis von unten vermessen.
2022 schickte daher das Forschungsteam um Wåhlin ein autonom fahrendes U-Boot bis zu 17 Kilometer weit unter das Dotson-Schelfeis im Amundsenmeer. Der westliche Teil dieses Schelfs verliert jedes Jahr im Mittel zirka 15 Meter an Dicke, während der mittlere und der östliche Teil relativ stabil sind. 27 Tage lang fuhr das Unterwassergefährt unter dem Eis hin und her und vermaß dessen Unterseite mit einem nach oben gerichteten Sonar. So erstellte das Forschungsteam hoch aufgelöste Karten von insgesamt sechs Bereichen unter dem Eis, die zusammengenommen 140 Quadratkilometer abdecken. Die Areale verteilen sich über die westlichen, zentralen und östlichen Teile des Schelfeises. Außerdem sammelte das Unterwasserfahrzeug Daten zu Ozeanströmungen, Temperatur und Salzgehalt in Wassertiefen von 20 bis 80 Metern unter dem Eis. Dieser Detailblick auf die einzelnen Bereiche soll klären helfen, welche Prozesse wo im Gang sind und wie sie die Geschwindigkeit der Schmelze beeinflussen.
Das Eis schmilzt nämlich nicht gleichmäßig: Selbst innerhalb desselben Schelfeises dünnen verschiedene Bereiche oft unterschiedlich stark aus. Satellitenmessungen und Daten von Antarktis-Expeditionen haben gezeigt, dass Schmelzwasser teils ganze Gänge und Höhlen unter das Eis gegraben hat und die kalten Massen dadurch destabilisiert. Beim besonders instabilen Thwaites-Gletscher in der Westantarktis dringt dieses Wasser stellenweise sogar bis unter den Gletscher selbst vor.
Tatsächlich unterscheidet sich das Eis im westlichen, rasch schmelzenden Teil des Dotson-Schelfeises stark von dem in den stabileren mittleren und östlichen Bereichen. In letzteren finden sich an der Eisunterseite regelmäßige, treppenförmig angeordnete Strukturen. An der Unterseite des westlichen Teils des Schelfeises hingegen entdeckten die Fachleute tränenförmige Einkerbungen, die 20 bis 170 Meter lang und 2 bis 50 Meter hoch reichten. Das war eine große Überraschung: Es ist das erste Mal, dass solche Strukturen gesichtet wurden.
Strukturen, die aussehen wie Tränen
Die stufenförmigen Strukturen führt das Forschungsteam auf das regelmäßige Eindringen warmen Oberflächenwassers zurück. Ähnliche Mechanismen kennt man bereits vom Ross-Schelfeis oder vom Thwaites-Schelfeis. Die tränenförmigen Einkerbungen im Eis dagegen könnten aus einem Zusammenspiel von Erdrotation und der Reibung entstanden sein, die Meeresströmungen unter dem Eis verursachen. Auffallend war: Sie treten nur im westlichen Bereich des Schelfeises auf, der rasch ausdünnt. Hier maß das U-Boot außerdem starke Schmelzwasserströmungen von unter dem Eis ins offene Meer. In den östlichen und zentralen Bereichen hingegen waren die gemessenen Schmelzflüsse deutlich geringer. Die unterschiedlichen Schmelzraten, so schreibt das Team, kämen demnach in erster Linie durch die unterschiedlichen Meeresströmungen zu Stande.
Eigentlich sollte das U-Boot im Jahr 2024 erneut unter das Dotson-Schelfeis reisen, um zu dokumentieren, wie sich die Hügel und Täler, die Turbulenzen, Risse und Treppen seither entwickelt haben. Doch das Südpolarmeer machte dem Unterfangen einen Strich durch die Rechnung: Das Unterwasserfahrzeug verschwand nach dem Aussetzen spurlos unter dem jahrtausendealten Eis und kehrte nicht mehr zurück. Das antarktische Eis birgt nun ein Geheimnis mehr.
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