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Skandal in der Festkörperphysik: Umstrittene Veröffentlichung zu Supraleitern wird zurückgezogen

Es ist die dritte Arbeit des Physikers Ranga Dias, die im Nachgang zurückgezogen wird. Die Forschungsgemeinschaft fürchtet um den Ruf des gesamten Fachgebiets.
Levitation bei Supraleitung
Forschende suchen seit Jahrzehnten nach Materialen, die Strom widerstandsfrei bei Raumtemperatur leiten. Doch zuletzt standen viele Forschungsarbeiten in der Kritik.

Die Fachzeitschrift »Nature« hat erneut einen umstrittenen Artikel zurückgezogen. In diesem behaupteten die Forscher, einen Supraleiter entdeckt zu haben, der bei Raumtemperatur und unter relativ niedrigem Druck Strom ohne jeglichen Widerstand leitet.

In der Erklärung zum Widerruf des Artikels heißt es, acht der elf Autoren der Arbeit hätten darum gebeten. »Sie haben die Ansicht geäußert, dass die Veröffentlichung den Ursprung der untersuchten Materialien, die durchgeführten Messungen und die Protokolle zur Datenverarbeitung nicht korrekt wiedergibt«, heißt es in der Mitteilung. Die acht Mitverfasser seien zu dem Schluss gekommen, diese Probleme untergrüben die Integrität der Arbeit.

Es ist der dritte öffentlichkeitswirksame Widerruf einer Veröffentlichung der beiden Hauptautoren Ranga Dias von der University of Rochester in New York und Ashkan Salamat von der University of Nevada, Las Vegas (UNLV). »Nature« hatte 2022 bereits eine Arbeit von ihnen zurückgezogen, die Zeitschrift »Physical Review Letters« im August 2023 eine weitere. Vor allem für Dias, dem einige Forschende vorwerfen, Teile seiner Doktorarbeit plagiiert zu haben, bedeutet das großen Ärger. Dias hat gegen die ersten beiden Rücknahmen Einspruch erhoben und auf die letzte bisher noch nicht reagiert. Sein Kollege Salamat hat hingegen zugestimmt, die beiden Veröffentlichungen von 2023 zurückzuziehen.

»Zu diesem Zeitpunkt ist es kaum überraschend, dass das Team von Dias und Salamat eine dritte hochkarätige Arbeit zurückgezogen hat«, sagt der Physiker Paul Canfield, der an der Iowa State University in Ames und am Ames National Laboratory forscht. Viele Kolleginnen und Kollegen hatten ein solches Vorgehen nach den beiden anderen Vorfällen als unvermeidlich angesehen – vor allem, nachdem das »Wall Street Journal« und »Science« im September 2023 berichtet hatten, acht der elf Verfasser der Arbeit (darunter Salamat) hätten genau das gefordert. Dias und Salamat reagierten nicht auf eine Bitte um Stellungnahme. In der Erklärung von »Nature« heißt es, dass Dias und zwei weitere Koautoren – Nugzari Khalvashi-Sutter und Sasanka Munasinghe, beide in Rochester – »sich nicht dazu geäußert haben, ob sie mit diesem Widerruf einverstanden sind oder nicht«.

Von Anfang an herrschte Skepsis

Die aktuelle Arbeit von Dias und Salamat ist 2023 bereits die zweite bedeutende Arbeit zur Raumtemperatur-Supraleitung, die sich als fehlerhaft erweist. Im Juli beschrieb das Forschungsteam eines Start-up-Unternehmens in Seoul ein Material aus Kupfer, Blei, Phosphor und Sauerstoff mit der Bezeichnung LK-99, das bei normalem Druck sogar noch bei Temperaturen von 127 Grad Celsius supraleitend sein sollte. Das sorgte für viel Aufregung; zahlreiche Forschungsgruppen versuchten die Ergebnisse zu reproduzieren. Aber die Physik-Gemeinschaft war sich schnell einig, dass es sich bei LK-99 gar nicht um einen Supraleiter handelt.

Supraleiter sind für viele Anwendungen wichtig, von Magnetresonanztomografen bis hin zu Teilchenbeschleunigern. Sie werden bisher jedoch nur in wenigen Fällen eingesetzt, da man die Stoffe bei extrem niedrigen Temperaturen halten muss. Seit Jahrzehnten entwickeln Forschende neue Materialien mit dem Ziel, einen Supraleiter zu finden, der ohne starke Kühlung funktioniert.

»Jeder Festkörperphysiker hat sofort erkannt, dass es ernsthafte Probleme gab«Peter Armitage, Experimentalphysiker

Seit der Veröffentlichung von Dias' und Salamats Studie sind Fachleute skeptisch, sagt die Physikerin Lilia Boeri von der Universität Sapienza in Rom. Das liege zum einen an den Kontroversen um das Team und zum anderen daran, dass die jüngste Arbeit nicht den hohen Anforderungen entspreche, die man an sie stelle.

»Praktisch jeder ernst zu nehmende Festkörperphysiker hat sofort erkannt, dass es ernsthafte Probleme bei der Arbeit gab«, sagt der Experimentalphysiker Peter Armitage von der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. Die Fachwelt beanstandete vor allem die Messungen des elektrischen Widerstands des Materials. Es ist nämlich nicht klar, ob dieser wirklich auf null fiel – oder ob Dias und Salamat fälschlicherweise ein Hintergrundsignal von einer wichtigen Widerstandskurve abgezogen haben, um den Anschein zu erwecken, dass dies der Fall sei. Laut Kritikern sollte es nicht notwendig sein, den Hintergrund von dieser Art von Messung zu entfernen. In der Widerrufserklärung heißt es: »Eine Untersuchung durch die Zeitschrift und eine Überprüfung nach der Veröffentlichung haben ergeben, dass diese Bedenken glaubwürdig und erheblich sind und sich nicht ausräumen lassen.«

Armitage fügt hinzu, dass die Veröffentlichung der Arbeit auch Fragen über den redaktionellen Überprüfungsprozess bei »Nature« aufwirft. Warum wurden die Probleme nicht erkannt?

»Die hoch qualifizierten Gutachter, die wir ausgewählt haben, haben eine Reihe von Fragen zu der ursprünglichen Einreichung aufgeworfen, die in späteren Überarbeitungen weitgehend geklärt wurden«, sagt Karl Ziemelis, Chefredakteur für Physik bei »Nature«. »Was das Peer-Review-Verfahren nicht feststellen kann, ist, ob die Arbeit die Forschung, so wie sie durchgeführt wurde, korrekt wiedergibt.«

»Entscheidungen darüber, was als Veröffentlichung angenommen wird, sind nicht immer leicht zu treffen«, so Ziemelis weiter. »Es kann zu Konflikten kommen, aber wir bemühen uns, eine unvoreingenommene Position einzunehmen und sicherzustellen, dass die Interessen der Gemeinschaft immer unsere Überlegungen bestimmen.«

Ein hörbarer Aufschrei

»Nature« hatte die inzwischen zurückgezogene Arbeit am 8. März 2023 veröffentlicht. In der gleichen Woche präsentierte Dias die Ergebnisse auf einer Tagung der American Physical Society (APS) in Las Vegas vor einem voll besetzten Saal. Unter hörbarem Geschrei der Menschenmenge, die sich vor den Türen versammelt hatte (das Konferenzpersonal hatte wegen der Brandschutzbestimmungen den Zutritt beschränkt), beschrieb Dias eine Verbindung aus Wasserstoff, Lutetium und geringen Mengen von Stickstoff, die bei Temperaturen von bis zu 21 Grad Celsius supraleitend sei, wenn sie bei einem Druck von etwa einem Gigapascal (dem 10 000-Fachen des atmosphärischen Drucks) gehalten wird.

Viele Forschende hatten nach einer bahnbrechenden Entdeckung der Forschungsgruppe um den Physiker Mikhail Eremets am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz im Jahr 2015 bereits ähnliche wasserstoffreiche Materialien, so genannte Hydride, hergestellt und damit experimentiert. Eremets und sein Team hatten Supraleitung in einer Schwefel-Wasserstoff-Verbindung bei minus 70 Grad Celsius erzeugt. Damals stellte das einen Rekord für die Betriebstemperatur eines Supraleiters dar. Das Material benötigte jedoch einen sehr hohen Druck von 145 Gigapascal (das 1,4-Millionenfache des Atmosphärendrucks), vergleichbar mit den Verhältnissen im Zentrum der Erde.

Seitdem wurden Hydrid-Supraleiter hergestellt, die immer näher an den Betrieb bei Raumtemperatur herankommen – aber alle funktionieren nur unter extremem Druck. Als Dias und Salamat ihre Arbeit im März 2023 veröffentlichten, schienen sie einen wichtigen Schritt in Richtung eines Materials gemacht zu haben, das sich praktisch anwenden lassen könnte.

Aber einige Fachleute zeigten sich wegen des ersten Widerrufs von »Nature« skeptisch. So sollte das in der Veröffentlichung beschriebene Material drei Wasserstoffatome für jedes Lutetiumatom enthalten. In diesem Fall würde Lutetium jedoch dazu neigen, jedem Wasserstoffatom ein Elektron zu spenden, was zu einer Art Salz führen würde, sagt der Materialwissenschaftler Artem Oganov vom Skolkovo Institute of Science and Technology in Moskau. »Man erhält entweder einen Isolator oder ein extrem schlecht leitendes Metall«, sagt er – keinen Supraleiter.

Ein anderes Forschungsteam hat nach eigenen Angaben die Ergebnisse von Dias und Salamat anhand einer zur Verfügung gestellten Probe teilweise reproduziert. Doch viele andere, die versuchten, eigene Proben herzustellen und Tests durchzuführen, konnten das nicht.

In der Zwischenzeit sind weitere Gründe zur Besorgnis aufgetaucht. Eine Untersuchung, die »Physical Review Letters« einleitete, bevor es die Veröffentlichung von Dias und Salamat zurückzog, ergab eine »offensichtliche Fälschung der Daten«. Und auch das Journalistenteam von »Nature« begann eine Untersuchung, nachdem es eine anonyme Kritik an den Daten der 2023 erschienenen Veröffentlichung erhalten hatte. Diese ergab, dass »die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse in Frage steht«.

Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit

Armitage glaubt nicht, dass Dias und Salamat weiter forschen können. Wie die University of Rochester bestätigt, hat sie eine Untersuchung zur Integrität von Dias' Arbeit in Gang gesetzt, die jetzt externe Experten übernehmen. Der Sprecher der Universität beantwortete keine Fragen dazu, ob bereits ein Disziplinarverfahren gegen Dias eingeleitet wurde. Auch die UNLV beantwortete nicht, ob gegen Salamat ermittelt wird, denn die Universität »diskutiert nicht öffentlich über Personalangelegenheiten«. Aber sie verpflichte sich nach eigenen Angaben, die höchsten Standards für die Integrität der Forschung auf dem gesamten Campus aufrechtzuerhalten.

»Einige meiner Kollegen haben Angst, dass der Fall Dias die Glaubwürdigkeit unseres Fachs im Allgemeinen in Frage stellt«Mikhail Eremets, Physiker

Canfield sagt, die Zusammenarbeit zwischen Dias und Salamat habe einen »üblen Dunst« über das Feld gelegt, »der junge Forschende und Geldgeber abschreckt«. Eremets bestätigt das: »Einige meiner Kollegen haben Angst, dass der Fall Dias die allgemeine Glaubwürdigkeit unseres Fachs in Frage stellt.«

Ho-Kwang Mao, Direktor des Center for High Pressure Science and Technology Advanced Research in Peking, ist zuversichtlicher. »Ich glaube nicht, dass sich das auf die Finanzierung der Supraleitungsforschung auswirken wird, abgesehen von sorgfältigeren Überprüfungen, was nicht unbedingt schlecht ist«, sagt er. Dem stimmt Hai-Hu Wen zu, Direktor des Zentrums für supraleitende Physik und Materialien an der Universität Nanjing in China: »Tatsächlich scheint es jetzt einfacher zu sein, Mittel für die Supraleitungsforschung zu erhalten, da wohl einige Regierungsbeamte von der Erwartung eines Raumtemperatursupraleiters beeinflusst wurden.«

»Wir stehen vor einem ernsten Kommunikationsproblem«Lilia Boeri, Physikerin

Lilia Boeri sagt allerdings, sie habe von Forschenden gehört, durch die Kontroversen – die Plagiatsvorwürfe in Doktorarbeiten und die Erkenntnisse über offensichtliche Fälschung von Daten – sei es schwieriger geworden, Studierende für die Arbeit an Supraleitern zu gewinnen. »Wir stehen vor einem ernsten Kommunikationsproblem: Wir müssen den Leuten klarmachen, dass es in dem Fachgebiet zwar einige faule Äpfel gibt, die Standards der Gemeinschaft aber viel höher sind«, sagt sie. »Seriöse Leute leisten weiterhin erstaunliche und interessante Arbeit«, stimmt Armitage zu. »Sicher, sie können durch diesen Unsinn entmutigt werden, doch das wird die Wissenschaft nicht aufhalten.«

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