Archäologie: Dschingis-Khan-Mauer ohne Dschingis Khan
Die Dynastien des alten China waren große Baumeister: Immer wieder errichteten sie gewaltige Wälle, die ihr Territorium nach Norden hin abschirmen sollten. Das monumentalste dieser Projekte war die bis heute in Teilen erhaltene Große Mauer, deren Bau im 7. Jahrhundert begann und die gut 8000 Kilometer quer durchs heutige China lief. Weniger bekannt ist, dass es im fernen Norden des Landes weitere Abschnitte gab, die von späteren Dynastien stammen – und deren Zweck nicht immer so eindeutig war, wie man meinen würde.
Neues zum nördlichsten und vielleicht rätselhaftesten dieser Teile hat nun ein internationales Forscherteam um Gideon Shelach-Lavi von der Hebrew University in Jerusalem zu Tage gefördert. Der isolierte Abschnitt war einst 737 Kilometer lang und erstreckte sich im Flachland zwischen zwei Gebirgen im Dreiländereck von China, Russland und der Mongolei. Heute sind davon nur noch die Fundamente erhalten.
Früher gingen Archäologen davon aus, dass es sich dabei um das vorderste Bollwerk gegen die Reiterhorden Dschingis Khans gehandelt haben muss, die im frühen 13. Jahrhundert in China einfielen. Bei Fremdenführern und manchen Forschern läuft der Abschnitt daher bis heute unter dem Namen »Dschingis-Khan-Mauer«.
Dabei ist die archäologische Forschung längst weiter: Sie bevorzugt mittlerweile die Theorie, dass der Mauerabschnitt bereits von der Khitan-Liao-Dynastie errichtet wurde. Diese herrschte von 907 bis 1125 und ahnte daher noch nichts von der Bedrohung aus der Steppe. Erst die darauf folgende Jin-Dynastie (1115–1234) sah den Reitersturm aufziehen und errichtete hunderte Kilometer weiter südlich mehrere Schutzwälle, die recht eindeutig der Abwehr der Mongolen galten.
Die »Dschingis-Kahn-Mauer« dagegen könnte weniger einen kriegerischen Zweck gehabt als der Kontrolle von Bevölkerungsströmen gedient haben: Durch die Steppe im Norden zogen schon zu Zeiten der Khitan-Liao-Dynastie Nomadenvölker, von denen man fürchtete, dass sie nach harten Wintern nach Süden vordringen könnten. Auch berichten Schriftstücke von einem Ausfuhrverbot auf Eisenwaren, das die herrschende Klasse mit der nördlichen Mauer möglicherweise durchsetzen wollte.
Die Funde der Archäologen um Shelach-Lavi stützen nun diese Deutung: Die Forscher haben die ganze Mauerlänge mit Drohnen abgeflogen und alle zehn Kilometer die Überreste von begleitenden Bauwerken gefunden. Diese befanden sich nicht vorrangig an erhöhten Punkten, wie man es für militärische Lager und Wachtürme erwarten würde. Stattdessen scheint es sich eher um Grenzposten und Viehställe gehandelt zu haben, berichten die Forscher im Fachmagazin »Antiquity«.
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