Kosmologischer Streit: Dunkle Energie gibt es nicht? Nicht so hastig!
»Kosmologie: Beschleunigte Expansion im Zwielicht« und »Die Dunkle Energie ist tot«. So oder ähnlich lauteten Ende Oktober 2016 Schlagzeilen in den Medien. Auslöser des Hypes war der Artikel »Marginal evidence for cosmic acceleration from Typ Ia supernovae« von J. T. Nielsen, A. Guffanti und S. Sarkar im Fachblatt »Scientific Reports«. Auf Deutsch lautet der Titel der Arbeit etwa: Supernovae des Typs Ia liefern nur geringe Hinweise auf eine kosmische Beschleunigung.
Liest man sich diesen Artikel allerdings durch, so kommt man zu dem Schluss, dass wir unser gegenwärtiges Bild vom Universum keineswegs revidieren müssen. Denn die drei Forscher verringern lediglich ein klein wenig die Sicherheit, mit der wir unsere Aussagen über den Kosmos treffen – und das auch nur, indem sie einen großen Teil der Daten verwerfen, auf denen unsere Kenntnisse basieren. Außerdem ignorieren sie wichtige Details in den Daten, die sie verwenden. Doch selbst, wenn man all das beiseitelässt, sind die Schlagzeilen falsch: Die drei Wissenschaftler kommen nämlich zu dem Schluss, dass wir jetzt nur noch zu 99,7 Prozent sicher sind, dass sich die kosmische Expansion beschleunigt. Und das ist weit davon entfernt, die beschleunigte Expansion und damit die Existenz der Dunklen Energie zu widerlegen.
Zwei Teams von Astronomen stießen 1998 bei der Beobachtung von Supernovae des Typs Ia erstmals auf die beschleunigte Expansion. Solche Sternexplosionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie allesamt in etwa gleich hell sind – vermutlich, weil sie alle mit dem Überschreiten einer ähnlichen kritischen Massengrenzen beginnen. Das bedeutet: Alle Helligkeitsunterschiede, die wir beobachten, haben ihre Ursache ausschließlich in den unterschiedlichen Entfernungen der Supernovae. Deshalb sind Supernovae des Typs Ia ideale Werkzeuge zur Vermessung des Universums. Zudem sind diese Explosionen häufig – und hell genug, um über Milliarden von Lichtjahren hinweg sichtbar zu sein. Die Sternexplosionen zeigen uns damit auch, wie das Universum vor Milliarden von Jahren beschaffen war.
Zwar bezeichnen Astronomen diese Supernovae auf Grund ihrer einheitlichen Helligkeiten oft als »Standardkerzen«, treffender wäre aber die Bezeichnung »standardisierbare Kerzen«. Denn in der Praxis lässt sich die Präzision und Genauigkeit durch die Berücksichtigung kleiner Unterschiede bei den Explosionen, durch die Beobachtung des zeitlichen Verlaufs der Explosion und durch die Messung der Rötung des Lichts der Supernovae durch Staub noch verbessern. Es war die Suche nach einem Verfahren, diese Korrekturen auf stabile Füße zu stellen, die schließlich zur Entdeckung der beschleunigten Expansion führte.
Nielsen, Guffanti und Sarkar haben einen von vielen Astronomen – auch von uns – zusammengestellten Katalog von Supernovae des Typs Ia verwendet, der bereits unzählige Male analysiert worden ist. Doch das Forschertrio verwendete eine andere Methode, um die Korrekturen anzubringen – was, wie wir meinen, zu Lasten der Genauigkeit ihrer Ergebnisse ging. Nielsen, Guffanti und Sarkar gehen davon aus, dass die Eigenschaften der Supernovae in jeder Teilmenge, die zur Messung der Expansionsgeschichte verwendet wird, im Mittel gleich sind – obwohl bereits von anderen Forschern gezeigt wurde, dass die Eigenschaften unterschiedlich sind und vergangene Analysen diese Unterschiede berücksichtigen. Aber obwohl sie diese Unterschiede ignorieren, finden sie immer noch eine Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent dafür, dass das Universum beschleunigt expandiert.
Hinzu kommt, dass nicht nur die Beobachtungen der Supernovae für eine beschleunigte Expansion sprechen. Ein weiteres Indiz sind die »baryonischen akustischen Oszillationen«, kleine Fluktuationen im Muster der kosmischen Hintergrundstrahlung und der Abdruck dieser Fluktuationen in der heutigen räumlichen Verteilung der Galaxien. Zudem ignorieren die drei Forscher einen substanziellen Anteil der Materie im Kosmos, die Dunkle Materie, deren Existenz seit den 1970er Jahren wieder und wieder bestätigt wurde. All das deutet ganz unabhängig von den Supernovae auf eine beschleunigte Expansion hin. Wenn wir die Supernovae-Daten mit den anderen Beobachtungen kombinieren, steigern wir die Wahrscheinlichkeit für eine beschleunigte Expansion von 99,99 auf 99,99999 Prozent – und das ist schon ziemlich überzeugend!
Als Ursache der beschleunigten Expansion sehen wir heute die Dunkle Energie an, und wir wissen mit großer Sicherheit, dass diese Dunkle Energie 70 Prozent des Universums ausmacht. Die anderen 30 Prozent sind Materie. Die physikalische Natur der Dunklen Energie ist immer noch eines der größten Rätsel der Astrophysik. Doch seit einem Jahrzehnt gibt es unter Astrophysikern keine aktive Auseinandersetzung mehr darüber, ob Dunkle Energie existiert oder ob das Universum überhaupt beschleunigt expandiert.
Gegenwärtig gibt es eine ganze Reihe großer Beobachtungsprojekte sowohl mit Teleskopen auf der Erde als auch mit Instrumenten im Weltall, deren Hauptaufgabe es ist, innerhalb der kommenden zwei Jahrzehnte die Natur der Dunklen Energie zu entschlüsseln. Bis dahin müssen wir stetig unsere Messungen verbessern und immer wieder unsere Annahmen hinterfragen. Die Arbeit von Nielsen, Guffanti und Sarkar widerlegt zwar keine Theorien, aber sie bietet doch Anlass, kurz innezuhalten und sich bewusst zu machen, wie groß die Fragen sind, die wir stellen, sowie zu überdenken, wie wir zu unseren Schlussfolgerungen gelangt sind und welchen Teil unserer Vorstellungen vom Kosmos wir noch einmal überprüfen sollten.
Der Artikel ist unter dem Titel »No, Astronomers Haven't Decided Dark Energy Is Nonexistent« in »Scientific American« erschienen.
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