Dunkle Materie versus MOND : Verhärtete Fronten der Kosmologie
Fast jede Geschichte über das Universum beginnt ungefähr so: Was wir sehen, wenn wir in den Himmel schauen, macht bloß einen Bruchteil dessen aus, was dort wirklich ist. Denn der Kosmos besteht nur zu etwa vier bis fünf Prozent aus sichtbarer Materie. Der Rest ist im wahrsten Sinn des Wortes dunkel – unsichtbar und ungreifbar, zumindest bis jetzt. 23 Prozent dieser Finsternis bezeichnen Fachleute als Dunkle Materie. Von den Teilchen, aus der sie bestehen könnte, fehlt jedoch jede Spur. Die Situation gleicht einer Jagd nach der Grinsekatze aus dem Kinderbuch »Alice im Wunderland«. Das Grinsen taucht zwar überall im Universum auf, die Katze selbst zeigt sich aber nie – und ist noch weniger zu fassen.
Doch nicht alle beteiligen sich an dieser Suche. Einige wenige Astronominnen und Astronomen glauben nicht an die obige Erzählung. Sie denken nicht, dass Dunkle Materie hinter den Beobachtungen steckt, die zu ihrer Annahme führten. Stattdessen könnte die Gravitation anders funktionieren, als wir bisher denken. Demnach gibt es gar keine unsichtbare Katze, sondern die Schwerkraft selbst grinst uns ins Gesicht. Dieser Ansatz heißt Modified Newtonian Dynamics, kurz MOND, da er die newtonschen Gleichungen der Schwerkraft verändert.
Inzwischen haben sich die Fronten zwischen den zwei Lagern – den Vertretern der Dunklen Materie und von MOND – verhärtet. Auf beiden Seiten stößt man auf Frust und Unverständnis. Die Forschenden streiten heftig darüber, was eine Theorie leisten muss, welche Beobachtungen wichtig sind und ab wann eine Suche als gescheitert gelten sollte. Einig sind sie sich nur in den Vorwürfen, die sie gegeneinander erheben.
Das Grinsen zeigt sich
Die ersten Spekulationen über Dunkle Materie entstanden durch Beobachtungen der gewöhnlichen Materie im Universum, die Astronomen und Astronominnen baryonisch nennen. Sterne, Planeten und Gaswolken schließen sich in Galaxien zusammen, die wiederum Galaxienhaufen bilden und so das Universum strukturieren. All diese Bewegungen werden durch die Gravitation bestimmt.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Schwerkraft durch das newtonsche Gravitationsgesetz beschrieben, inzwischen nutzt man dafür die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein. Mit dieser Theorie lässt sich so ziemlich alles erklären, was im Universum seit dem Urknall vor etwa 13,8 Milliarden Jahren passiert ist – von der Entstehung erster Materieklumpen bis hin zu unserer heutigen Milchstraße und den Bahnen der Sterne darin.
Doch genaue Beobachtungen dieser Bewegungen bereiten schon seit den 1930er Jahren Probleme. Damals ermittelte der Schweizer Astronom Fritz Zwicky die Geschwindigkeit, mit der sich die Galaxien im Coma-Galaxienhaufen bewegen, und leitete daraus mit Hilfe der einsteinschen Gleichungen die Masse des Haufens ab. Diese glich er mit der Masse ab, die sich durch die Helligkeit der darin enthaltenen Sterne berechnen lässt, und stellte fest: Die Galaxien bewegen sich so schnell, dass in dem Haufen eigentlich zehnmal mehr Materie vorhanden sein müsste, als die sichtbaren Sterne hergeben. Diesen unsichtbaren Rest taufte er Dunkle Materie.
Der Name war geboren, aber es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis die Diskrepanzen zwischen Theorie und Beobachtung so stark wurden, dass sie sich nicht mehr wegdiskutieren ließen. Anlass dafür gab unter anderem die Forschung der US-amerikanischen Astronomin Vera Rubin in den späten 1960er Jahren. Damals beschäftigte Rubin sich mit den Rotationsgeschwindigkeiten der Sterne in der Andromedagalaxie. Je weiter diese vom massereichen Zentrum der Galaxie entfernt sind, desto weniger Schwerkraft sollte auf sie wirken, weshalb sie entsprechend langsamer sein sollten. Doch Rubin maß etwas anderes: Die Rotationsgeschwindigkeit blieb am Rand der Galaxie auch bei immer größeren Abständen ungefähr gleich. Zeichnete man die Geschwindigkeit gegen den Radius auf, ergab sich nicht die erwartete steil abfallende Kurve, sondern ein flacher Verlauf.
»Dunkle Materie heraufzubeschwören erscheint weniger fragwürdig, als die Gesetze der Gravitation zu ändern«Stacy McGaugh, Astronom
Im Jahr 1970 veröffentlichte die Forscherin die erste flache Rotationskurve, auf die noch viele weitere folgen sollten. Das brachte den rund 40 Jahre alten Gedanken von Zwicky wieder ins Gespräch: Im Universum muss noch etwas sein, was die Rotationskurven abflacht. »Die Fachleute waren sicherlich vorsichtig, Dunkle Materie heraufzubeschwören, denn das bedeutet ja, dass es etwas gibt, was wir nicht sehen können – das ist doch fragwürdig, oder?«, sagt der Astronom Stacy McGaugh von der Case Western Reserve University. »Aber tatsächlich erscheint es weniger fragwürdig, als die Gesetze der Gravitation zu ändern.«
Zu diesen ersten Hinweisen auf das Grinsen einer Katze kamen weitere Beobachtungen, die alle zu der Hypothese passten, dass es neben baryonischer auch nichtbaryonische – Dunkle – Materie gibt: Galaxien und Galaxienhaufen, die eigentlich durch ihre hohe Rotationsgeschwindigkeit auseinanderdriften sollten, werden durch zusätzliche Materie stabilisiert; nichtbaryonische Halos – massereiche Wolken um Galaxien – könnten erklären, warum sich so früh nach dem Urknall Galaxien bildeten; die kritische Massendichte, die für die weit verbreitete Annahme eines geometrisch flachen Universums nötig ist, übersteigt die Massendichte baryonischer Materie, weshalb auch hier nichtbaryonische Materie gebraucht wird. »Wenn wir davon ausgehen, dass Einstein uns alles gelehrt hat, was wir wissen müssen – was eine wirklich gute Annahme zu sein scheint –, dann muss es zusätzliche Masse geben«, so McGaugh.
In den 70er Jahren schien es also nur eine Frage der Zeit, das dazu passende Teilchen zu entdecken. Die Jagd nach der Grinsekatze war eröffnet. Forschende gruben sich überall auf der Welt tief in die Erde und gingen abgeschirmt von anderen Störfaktoren auf die Suche. So warten beispielsweise 3,2 Tonnen flüssiges Xenon im italienischen Gran-Sasso-Untergrundlabor darauf, endlich ein Weakly Interacting Massive Particle (kurz: WIMP, ein aussichtsreicher Kandidat für Dunkle Materie) zu detektieren. »Wir wissen, dass sie unglaublich selten wechselwirken, deshalb brauchen wir riesige Detektoren. Doch wenn man das tut und lange genug wartet, sollte man es identifizieren können«, sagt McGaugh. »Aber nun, nach 30, 40 Jahren, hätten wir es mittlerweile sehen sollen.«
Trotz der jahrelangen Bemühungen blieb die Grinsekatze unsichtbar. Dennoch zweifelt kaum jemand daran, dass es Dunkle Materie gibt. Auch für Francesca Chadha-Day, theoretische Teilchenphysikerin an der Durham University, bleibt die Sache klar: »Wir sehen eine echte Bandbreite von Beweisen für Dunkle Materie. Die Bewegungen von Sternen in Galaxien, die Bewegungen von Galaxien in Galaxienhaufen, aber auch die gesamte Geschichte der Kosmologie, die Fluktuationen in der kosmischen Hintergrundstrahlung und die Strukturen der Galaxien selbst – die sichtbaren Strukturen des Universums –, all das deutet auf die Notwendigkeit Dunkler Materie hin.«
Die Grinsekatze ließ sich zwar bisher noch nicht einfangen, aber sie passt zu gut in das etablierte kosmologische Modell, das zusammen mit Dunkler Energie und den Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie das Universum beschreibt, um sie einfach aufzugeben. »In den 80er Jahren kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um nichtbaryonische Dunkle Materie handeln müsse. Es ist sehr schwer, den Kopf aus diesem Kaninchenbau wieder herauszuziehen«, so McGaugh.
Ein neuer Kaninchenbau
Einer, der von Anfang an lieber an seinem eigenen Kaninchenbau grub, statt den anderen auf der Jagd zu folgen, ist der israelische Physiker Mordehai Milgrom. Er zog in den 80er Jahren die Möglichkeit in Betracht, dass die allgemeine Relativitätstheorie auf Skalen, auf denen sie bisher nicht getestet wurde, vielleicht gar nicht greift. Statt vom großen kosmologischen Modell auf kleine Bewegungen in Galaxien zu schließen, sah er sich die flachen Rotationskurven an und entdeckte eine Gemeinsamkeit. Unterhalb einer bestimmten Beschleunigung a0 folgen die Sterne offenbar nicht mehr den Gleichungen der newtonschen Gravitationstheorie – die in diesem Bereich als Vereinfachung der allgemeinen Relativitätstheorie gelten – , sondern einem modifizierten Gesetz:
\[ F_N = m\cdot a \cdot \mu\left(\frac{a}{a_0}\right) \]Die newtonsche Kraft ergibt sich normalerweise aus der Masse m multipliziert mit der Beschleunigung a. Bei Milgrom kommt eine neue Funktion μ mit der Konstante a0 hinzu. Demnach verhält sich Gravitation je nach Beschleunigung anders, als Newtons Gleichungen als Grenzfall der allgemeinen Relativitätstheorie besagen. Milgroms Gesetz ähnelt dem coulombschen Gesetz, das die elektrische Kraft beschreibt und unter anderem von der Leitfähigkeit des Mediums abhängt. Milgrom spricht dem Gravitationsfeld ebenfalls eine Art Leitfähigkeit μ zu, die seine Kraft bei geringen Beschleunigungen unterhalb von a0 verstärkt – beispielsweise am Rand von Galaxien, wo Sterne deutlich langsamer kreisen als die Himmelskörper in unserem Sonnensystem.
MOND entstand aus dem konkreten Problem der flachen Rotationskurven von Galaxien – und genau dort liegt auch die Stärke des Modells. Milgroms Gesetz tut zunächst nichts weiter, als die beobachtete Wirkung der Schwerkraft in eine Formel zu gießen. Es beschreibt das Grinsen, das in diesen Rotationskurven auftaucht, ohne auf eine Katze zu schließen, die dahinterstecken könnte. Besonders viel versprechend schien, dass MOND nicht nur nachträglich das zusammenfasst, was Vera Rubin in zahlreichen Rotationskurven maß, sondern auch korrekte Vorhersagen traf.
So sagt Milgroms Gesetz mehrere unerwartete Phänomene voraus, die teilweise erst nach seiner Veröffentlichung beobachtet wurden. Zunächst ist da die »mass discrepancy-acceleration relation«, die Lücke zwischen Theorie und Beobachtung, die sich immer nur bei Beschleunigungen unterhalb von a0 zeigt. Während Milgrom diese Konstante in seinem Gesetz ausdrücklich definiert hat, kann die Dunkle-Materie-Hypothese sie lediglich als magische Grenze hinnehmen, die auf wundersame Weise zuverlässig in den Beobachtungen auftaucht, nicht aber in der Theorie.
Ebenso überraschend erscheint die als Renzo's Rule bekannte Verbindung, die der italienische Astronom Renzo Sancisi 2004 entdeckte: Für jedes Merkmal, das sich im Profil der Leuchtkraft einer Galaxie zeigt, gibt es ein entsprechendes Merkmal in der Rotationskurve und umgekehrt. Ist eine Galaxie an einer Stelle beispielsweise weniger hell, ist ihr Gravitationsfeld dort in gleichem Maße weniger stark. Wenn aber nicht Sterne, sondern Dunkle Materie – die ja nicht leuchtet – die flachen Rotationskurven verursachen, ist diese Verbindung ebenso erstaunlich wie die Grenze a0. Dennoch gilt sie selbst für Galaxien, in denen es viel mehr Dunkle als leuchtende Materie geben sollte. Bei Milgrom folgt Renzo's Rule aus der Tatsache, dass allein baryonische Materie für die Form der Rotationskurven verantwortlich ist.
Darüber hinaus hat Milgrom sogar eine explizite Vorhersage getroffen, die Jahre später bestätigt wurde: die baryonische Tully-Fisher-Relation. Aus Milgroms Gesetz lässt sich ableiten, dass die gesamte baryonische Masse einer Galaxie proportional zu ihrer Rotationsgeschwindigkeit potenziert mit vier ist. Die Relation wurde erst im Jahr 2000 durch McGaugh entdeckt und deckte sich erstaunlich gut mit Beobachtungen. Der Zusammenhang lässt sich zwar auch mit Dunkler Materie herleiten, allerdings beträgt der Exponent in dem Fall eher drei. Erst durch die Annahme zusätzlicher Effekte oder unbekannter baryonischer Materie lässt er sich weiter anheben, damit er zu den Messdaten passt.
»Es gibt gar keinen Grund zu erwarten, dass Rotationskurven in einem Dunkle-Materie-Universum flach sind«Stacy McGaugh, Astronom
All das widerspricht der Dunkle-Materie-Hypothese nicht direkt. Doch während die genannten Phänomene direkt aus Milgroms Gesetz folgen, muss man die Dunkle Materie teils aufwändig modellieren und an verschiedenen Stellen nachjustieren, damit sie die Beobachtungen wiedergibt. »Wenn man zu Finetuning bereit ist, kann man sich natürlich immer eine passende Antwort basteln«, sagt McGaugh. Das gilt selbst für die flachen Rotationskurven von Vera Rubin – das Grinsen, das die Dunkle Materie ursprünglich hervorgebracht hat. Die Scheibe aus Sternen und der Halo aus Dunkler Materie müssen im Modell exakt ausbalanciert sein, um überhaupt eine flache Rotationskurve zu ergeben. »Es hat lange gedauert, bis ich es begriffen habe«, resümiert McGaugh, »doch es gibt gar keinen Grund zu erwarten, dass Rotationskurven in einem Dunkle-Materie-Universum flach sind.«
Man könnte sagen: Dunkle Materie ist eine Katze, die eigentlich nicht grinst. Dass wir das Grinsen trotzdem überall sehen, liegt daran, dass im Universum aus unbekannten Gründen ganz genau die Umstände herrschen, die sie zum Grinsen bringen. Milgrom hingegen braucht überhaupt keine Katze. Seine Erklärung für das Grinsen ist bestechend einfach: Die Gravitation grinst selbst. Trotzdem ist ihm bis heute kaum jemand in den Kaninchenbau gefolgt.
Die Probleme mit MOND
Die Skepsis der anderen Forschenden liegt vor allem daran, dass MOND nach den viel versprechenden Anfängen schnell sehr kompliziert wurde. Das erste Problem liegt darin, dass Milgroms Gesetz Energie und Impuls nicht erhält. Deshalb war von Anfang an klar, dass es nicht in seiner ursprünglichen Form bleiben kann. Daraufhin entwickelten Milgrom und sein Kollege Jacob Bekenstein eine erste vollständige Version von MOND, die sie 1984 unter dem Akronym AQUAL veröffentlichten. AQUAL steht für »aquadratic Lagrangian«, da das Potenzial in diesem Fall anders als bei Newton nicht mit dem Abstand linear abnimmt. Damit konnten die Forscher zeigen, dass es auch in MOND-Theorien möglich ist, Energie und Impuls zu erhalten.
Kosmologinnen und Kosmologen nahmen das Modell dennoch nicht wirklich ernst. Die große Revolution blieb aus. Denn AQUAL hat mit der Erweiterung zu einer kosmologischen Theorie zu kämpfen. Sie modifiziert nur den newtonschen Grenzfall der allgemeinen Relativitätstheorie. Um eine wirkliche Alternative zu bieten, muss sie sich entweder mit der allgemeinen Relativitätstheorie verbinden lassen oder eine eigene kosmologische Theorie bilden. Beides ist mit AQUAL aber nicht möglich.
Daher begann Bekenstein, AQUAL zu erweitern. Im Jahr 2004 veröffentlichte er mit der Tensor-Vector-Scalar theory, kurz TeVeS, die erste relativistische Version von MOND. Während die Gravitation bei Einstein nur tensoriell ist, enthält TeVeS neue Vektor- und Skalarfelder. Doch auch sie setzte sich nicht durch, denn die Theorie hat schwer wiegende Probleme, zum Beispiel kann sie stabile Sterne nicht richtig rekonstruieren.
Im Lauf der Zeit wurden die MOND-Theorien immer komplexer. Je mehr Mängel man beseitigte, desto unübersichtlicher wurden sie. Während Milgroms Gesetz noch mit seiner einfachen Formel bestach, die alle Phänomene unterhalb von a0 erfasste, arbeitet Bekensteins relativistische Version mit drei verschiedenen Feldern – und es könnte sogar noch ein weiteres notwendig sein, um die kosmologischen Beobachtungen zu erklären.
Es gibt nämlich ein Objekt im Universum, an dem bisher alle Ansätze vom MOND-Typ scheitern und das viele Physiker und Physikerinnen als endgültigen Beweis für Dunkle Materie sehen: den Galaxienhaufen Bullet-Cluster. Dabei handelt es sich um einen großen Galaxienhaufen, den ein kleinerer wie ein Geschoss durchquert hat. Die jeweils enthaltenen Gaswolken sind bei der Kollision gegeneinandergeprallt und haben sich ausgebremst, weshalb sie größtenteils mittig zwischen beiden Haufen verblieben sind. Der allgemeinen Relativitätstheorie zufolge krümmen schwere Objekte die Raumzeit. Dadurch werden auch die Lichtbahnen so stark verformt, dass sie wie eine Lupe wirken. Mit diesem Gravitationslinseneffekt können Astronominnen und Astronomen genau ermitteln, wo der Bullet-Cluster die Raumzeit am stärksten verbiegt und wo somit die meiste Masse sitzt. Auf diese Weise ließ sich bestimmen, dass ein Großteil der Masse auch nach der Kollision weiterhin in den Zentren der jeweiligen Galaxienhaufen sitzt. Der Effekt lässt sich nicht mit der Masse der sichtbaren Sterne allein erklären. Für die meiste Masse scheint vielmehr Materie verantwortlich zu sein, die unsichtbar ist und kaum wechselwirkt – Eigenschaften, die verdächtig nach Dunkler Materie klingen.
Der Bullet-Cluster ist für MOND das, was die baryonische Tully-Fisher-Relation für die Dunkle-Materie-Hypothese ist. Der Galaxienhaufen widerlegt MOND nicht direkt, man kann das Modell beispielsweise mit einem weiteren Feld oder noch unbekannter baryonischer Materie nachzujustieren. Doch genau dieses Finetuning hatten MOND-Vertreter ja eigentlich kritisiert. »Irgendwie muss man modifizierte Gravitation so feinabstimmen, dass sie aussieht wie Dunkle Materie, was doch seltsam ist«, sagt Francesca Chadha-Day, die selbst an Dunkle-Materie-Modellen arbeitet. »Ich glaube, eine modifizierte Gravitationstheorie dazu zu bringen, Dinge wie kollidierende Galaxienhaufen zu erklären, ist ein schlimmeres Finetuning-Problem.«
Zwei Theorien auf dem Kriegsfuß
Welcher Seite man das gewichtigere Problem attestiert, hängt wohl vor allem vom eigenen Forschungsschwerpunkt ab. Dunkle Materie fügt sich reibungslos in ein allumfassendes kosmologisches Modell ein, mit dem man grundlegende Fragen zu Ursprung und Entwicklung des Universums erforschen kann. Daher ist sie für Kosmologen interessant. Und auch Teilchenphysikerinnen wie Chadha-Day halten die Suche nach einem Dunkle-Materie-Teilchen für viel versprechend: »Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass wir alle Teilchen entdeckt haben und dass es nichts mehr zu entdecken gibt. Es wäre sehr arrogant von uns zu denken, dass wir damit fertig sind.«
Bei MOND liegen die Probleme vor allem bei großen Skalen. Schon in ausladenderen Strukturen wie Galaxienhaufen tauchen Schwierigkeiten auf, zu kosmologischen Fragen bleibt der Ansatz gänzlich stumm. Mit dem gängigen kosmologischen Modell kann man beispielsweise Abstände im Universum über Rotverschiebungen ermitteln. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das in MOND formulieren sollte, was sehr unbefriedigend ist«, sagt McGaugh.
»Sie glauben, sie können Galaxien erklären, aber sie tun es nicht wirklich«Stacy McGaugh, Astronom
Auf kleineren Skalen punktet MOND hingegen. Der Ansatz kann Dynamiken und Relationen in Galaxien deutlich besser beschreiben und ist daher für Astronomen wie McGaugh interessant, die zu Galaxien forschen, die für das kosmologische Modell oft keine Rolle spielen. »Sie glauben, sie können Galaxien erklären, aber sie tun es nicht wirklich«, befindet McGaugh über viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Ihre Einstellung zu Dunkler Materie sei oft so festgefahren, dass sie Probleme wie die baryonische Tully-Fisher-Relation gar nicht ernst nehmen. »Ich habe Leute auf Konferenzen gefragt: ›Was würde Dunkle Materie widerlegen?‹ – ›Warum fragst du das überhaupt‹, ist die Einstellung dazu.«
Dabei ist die Frage durchaus interessant. Die Behauptung, dass etwas existiert, ist nämlich logisch kaum zu widerlegen. Man müsste jedes schon bekannte und jedes noch unbekannte Teilchen im ganzen Universum umdrehen, um einen strikten Beweis zu haben, dass keines davon Dunkle Materie ist. Die Dunkle-Materie-Hypothese kann mit neuen Erkenntnissen daher höchstens unwahrscheinlicher werden. Deshalb ist es schwierig, einen genauen Punkt zu benennen, ab dem die Jagd nach der Grinsekatze für gescheitert erklärt werden sollte. McGaugh hält es dennoch für wichtig, sich über die Möglichkeit Gedanken zu machen. »Sonst verschiebt man die Ziellinie nur immer weiter.«
Dass Dunkle Materie und MOND in verschiedenen Forschungsgebieten mit unterschiedlichen Untersuchungsobjekten und Daten ihre Stärken und Schwächen haben, mag ein Grund für die Zerstrittenheit beider Lager sein. Beide Seiten sehen in ihrem Gebiet klar die Stärken – und die Schwächen im Ansatz des anderen. Dabei ist es eigentlich gar keine Frage des Entweder-oder. Milgroms Gesetz könnte beispielsweise eine unbekannte Verbindung zwischen baryonischer und nichtbaryonischer Materie beschreiben. Die Schwerkraft könnte ebenso in einem Dunkle-Materie-Universum modifiziert sein. »Ich glaube zwar, dass Dunkle Materie die primäre Erklärung ist, aber wahrscheinlich haben wir auch noch nicht die finale Gravitationstheorie gefunden«, sagt Chadha-Day. Gleichwohl haben sich zwei Fronten gebildet, die gegeneinander wettern, statt konstruktiv miteinander zu reden.
Antonis Antoniou ist Wissenschaftsphilosoph an der Universität von Athen und beschäftigt sich mit der Frage, ob die Debatte zwischen Dunkler Materie und MOND eine Krise der Astrophysik widerspiegelt. »Ich glaube, dass es viele Vorurteile in beiden Lagern gibt«, vermutet Antoniou. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich denke, die Leute haben nicht den Willen, sich auf einen Dialog einzulassen.« Eine wirkliche Lösung des Konflikts könne es nur geben, wenn ein Dunkle-Materie-Teilchen entdeckt wird. Denn MOND scheint weit davon entfernt, eine klare Alternative zum gängigen kosmologischen Modell zu bieten, und so lange sehen die meisten Physiker und Physikerinnen keinen Anlass, sich damit zu beschäftigen. »Die meisten Physiker sind davon überzeugt, dass die Theorie der Dunklen Materie richtig ist, und beschäftigen sich nicht wirklich mit der aktuellen MOND-Forschung«, sagt Antoniou. »Für die MOND-Gemeinschaft hingegen gibt es ernsthafte Probleme mit dem kosmologischen Modell auf galaktischen Skalen, die gelöst werden müssen.«
Beide Seiten können bisher nicht halten, was sie versprechen: Die Eleganz von MOND gehört längst der Vergangenheit an, während die unauffindbare Dunkle Materie ihren Erfolg weiterhin lediglich in Aussicht stellt. In jedem Lager vertiefen sich die Forschenden weiter in ihren eigenen Theorien. Mit dem fehlenden Kontakt schwindet das Verständnis füreinander. »Ich würde mir wünschen, dass die Leute eine gemeinsame Sprache haben, dass wir tatsächlich über die gleichen Dinge reden und über das gleiche Fachwissen verfügen, um dies tun zu können«, sagt McGaugh. »Wir scheinen uns aber immer weiter davon zu entfernen.«
»Wir sind 80 Stockwerke tief in diesem Kaninchenbau und graben immer weiter«Stacy McGaugh, Astronom
Für Chadha-Day liegt das jedoch nicht an der Engstirnigkeit ihrer Kolleginnen und Kollegen, sondern vor allem am Zeit- und Publikationsdruck im akademischen Alltag. »Sich wirklich auf ein anderes Feld einzulassen, zu lernen und sicherzustellen, dass man einander richtig versteht, kann ziemlich zeitaufwändig sein. Wir brauchen mehr Luft in unseren Zeitplänen, um das zu tun.« Ihrer Meinung nach würde sich dieser Aufwand für alle lohnen, egal, wie überzeugt man vom eigenen Ansatz ist. »Manchmal kann es sehr nützlich sein, über Dinge nachzudenken, die sich als falsch herausstellen. Das ist etwas, was beide Seiten übereinander sagen können.« Doch je weiter man sich voneinander entfernt, desto mehr Zeit braucht man, um wieder zusammenzufinden.
McGaugh zeigt sich angesichts der Situation daher wenig zuversichtlich: »Wir sind 80 Stockwerke tief in diesem Kaninchenbau und graben immer weiter. Ich bitte alle, wieder an die Oberfläche zu kommen. Es ist schon schwer genug, auch nur ein paar Etagen hochzusteigen.« Stattdessen vergraben sich alle immer weiter und jagen auf ihre Weise dem mysteriösen Grinsen hinterher. Wer es am Ende zu fassen bekommt – und ob da eine Katze oder doch die Schwerkraft selbst grinst –, steht in der Dunkelheit zwischen ein paar Prozent sichtbaren Sternen geschrieben.
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