Dunkler Kosmos: Die anderen 96 Prozent
Aus welchem Stoff ist die Welt gemacht? Das ist zunächst schnell beantwortet: Sie besteht aus Atomen, und diese aus Protonen, Neutronen und Elektronen; auch elektromagnetische Strahlung leistet einen Beitrag. Fasst man "die Welt" aber weiter, etwa als das ganze Universum, so kommt vor allem viel Dunkelheit ins Spiel: die Dunkle Materie und die Dunkle Energie. Beide sind kaum direkt zu erfassen und lassen sich aber trotzdem untersuchen – wenn man nur weiß, wo sie sich auswirken und wie man hinschauen muss. Genau das plant die europäische Weltraumbehörde ESA mit "Euclid", dem Teleskop für das dunkle Universum.
Das 2011 ausgewählte Projekt hat im letzten Jahr endgültig grünes Licht bekommen. Mehr als 1100 beteiligte Wissenschaftler wollen mit dem Weltraumobservatorium ein knappes Drittel des Himmels im nahen infraroten sowie im sichtbaren Wellenlängenbereich erforschen, die dreidimensionale Verteilung von Milliarden von Galaxien erfassen und zehn Milliarden Jahre in die Vergangenheit des Kosmos blicken. Allerdings erst in rund acht Jahren, denn der Starttermin für Euclid ist für das Jahr 2020 festgelegt worden.
"Ein enger Zeitplan", findet trotzdem René Laureijs, der ESA-Projektwissenschaftler für Euclid. Denn obwohl die grundlegenden Spezifikationen für das Teleskop bereits feststehen, ist die tatsächliche Umsetzung und der Bau ein langwieriger Prozess. Immerhin muss Euclid einiges leisten, damit die Forscher ihrem Ziel näher kommen: herauszubekommen, woraus Dunkle Materie besteht und warum sie überhaupt nicht mit elektromagnetischer Strahlung, sondern nur über ihre Schwerkraft wechselwirkt.
Teil eins der Dunkelheit
Schon in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkten Astronomen, dass dem beobachtbaren Universum offensichtlich Masse fehlt. So reicht zum Beispiel die sichtbare Materie von Galaxienhaufen nicht aus, um sie über ihre Schwerkraft zusammenzuhalten. Das Gerüst, das auf Grund seiner Schwerkraft solche Haufen davon abhält, auseinanderzudriften, ist die Dunkle Materie. Von dieser wird angenommen, dass sie rund 84 Prozent der gesamten Materie im Universum ausmacht.
Auch Euclid wird die Dunkle Materie nicht direkt beobachten können, soll aber ihre Verteilung im Raum mit höchster Präzision vermessen. Dazu wird sich das Teleskop zunutze machen, dass auch Licht von großen Massen angezogen wird, vergleichbar mit der Ablenkung von Licht durch eine Linse. So bringt eine Untersuchung der Verteilung zahlreicher Galaxien eine geringfügige Verzerrung ihrer Form zu Tage. Dabei ist nicht die Galaxie an sich verzerrt, sondern das Licht, das sie aussendet, wird auf seinem Weg durch das All geringfügig abgelenkt. Statistische Methoden ermöglichen es anschließend, auf die Verteilung der ablenkenden Masse zu schließen – die im Wesentlichen aus Dunkler Materie bestehen dürfte.
Thomas Kitching ist Wissenschaftler am University College London und arbeitet in einer Gruppe der Euclid-Mission, die sich diesem schwachen Gravitationslinseneffekt widmet. Er erklärt, wie dieses Phänomens uns über die Dunkle Materie informiert: "Das ist vergleichbar mit dem Versuch, herauszufinden, aus was Wolken bestehen. Dann könnte man damit anfangen, ihre Formen und Größen zu kartografieren." Allerdings ist der Effekt für Galaxien sehr klein; ihre scheinbare Verzerrung beträgt nur rund ein Prozent.
"Um dieses Signal messen zu können, benötigt man hochaufgelöste Galaxien und eine präzise Charakterisierung von allen Effekten, die nichts mit der Dunklen Materie zu tun haben, zum Beispiel die Unschärfe in den Aufnahmen, die durch das Teleskop selbst verursacht wird", erklärt Kitching. Deshalb müssen selbst kleinste Abweichungen in den optischen Geräten bekannt sein. So arbeitet der Euclid-Forscher im Moment daran, wie man diese Abweichungen charakterisieren und theoretisch erfassen kann.
Gesteigertes Mysterium
Außer der Dunklen Materie soll mit dieser Methode auch die Dunkle Energie erforscht werden – und die ist, so Kitching, "viel mysteriöser. Das ist das Phänomen, auf Grund dessen sich das Universum immer schneller ausdehnt. Euclid soll diese Expansion des Universums kartografieren und zeigen, wie die Strukturen im Universum über die letzten drei Viertel seines Alters gewachsen sind."
Ursprünglich hatten Wissenschaftler angenommen, dass sich die Expansion des Universums auf Grund der Schwerkraft der Materie verlangsamen müsste. Die Beobachtungen von Supernovae im Jahr 1998 warfen diese These über den Haufen: Das Universum dehnt sich nicht etwa immer langsamer aus, sondern immer schneller. Diese Erkenntnis war im Jahr 2011 einen Nobelpreis wert; ungeachtet dessen bleibt aber völlig unklar, was die beschleunigte Expansion vorantreibt. Bekannt ist lediglich, dass die Dunkle Energie derzeit rund 76 Prozent des Energiehaushalts des Universums ausmacht.
Daher soll Euclid nicht nur den schwachen Gravitationslinseneffekt nutzen, sondern auch einer Spur folgen, die das Verständis der Dunklen Energie vertiefen könnte: den baryonischen Schallschwingungen. Sie entstanden, als der frühe Kosmos sehr heiß und dicht war. Zu diesem Zeitpunkt prägten sich Dichtefluktuationen in der Materie ein. Diese Fluktuationen dehnten sich mit dem Raum aus und sind in der Anordnung von Galaxienhaufen erhalten geblieben. Also kann man über die Messungen der Verteilung und Geschwindigkeiten von Galaxienhaufen und den Vergleich mit den Längenskalen, die im frühen Universum herrschten, unabhängig von anderen Methoden die beschleunigte Ausdehnung des Universums erfassen.
So weit die Theorie. In der Praxis ist dazu nötig, genau zu wissen, wie schnell sich einzelne Galaxien bewegen. Das ist im Prinzip kosmologische Routine: Man ermittelt zur Geschwindigkeitsmessung die Rotverschiebung, also den Effekt, dass das Licht einer sich entfernenden Quelle – wie etwa der von uns wegstrebenden Lichtquelle im sich ausdehnenden Universum – ins Rötliche verschoben ist. Um nützliche Daten zu liefern, muss Euclid die Rotverschiebung allerdings bis auf 0,1 Prozent genau erfassen – keine ganz leichte Aufgabe, weder für die Instrumente noch für die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Astronomie in Heidelberg, die am Spektrophotometer NISP für den nahen Infrarotbereich arbeiten werden.
Knud Jahnke ist der leitende Instrumentwissenschaftler für das Photometer des NISP. Bevor das Instrument überhaupt gebaut werden kann, liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor ihm. Es gilt nicht nur, die wissenschaftlichen Zielsetzungen in konkrete Anforderungen an die Instrumente zu übersetzen, sondern es muss auch untersucht werden, wie sie sich konkret im All verhalten: Was passiert zum Beispiel, wenn sie hochenergetischer kosmischer Strahlung ausgesetzt sind?
Knud Jahnke erklärt: "Wir sind gerade sehr intensiv dabei, die Anforderungen an die Kalibration bis hin zu kleinsten Details zu analysieren und daraus Anforderungen an die Elektronik und Optik des Instruments einerseits und die Aufnahme von speziellen Kalibrationsdaten andererseits abzuleiten."
Viel Raum für Fehler bleibt dabei nicht: "Unsere Hauptherausforderung ist, dass wir an jeder Stelle der Durchmusterung Lichtmengen bis auf 1,5 Prozent genau messen müssen – zwar nicht in absoluten Zahlen, aber konsistent über die ganzen geplanten 15 000 Quadratgrad."
Es gibt nicht viele Unternehmen, die solche Instrumente überhaupt bauen und den technischen Anforderungen gerecht werden können. Knud Jahnke erläutert diese für die Infrarotfilter, an denen er arbeitet: "Unsere NISP-Filter haben bis zu 400 Schichten, in denen sich zwei Materialien mit unterschiedlichem Brechungsindex abwechseln. Diese Schichten sind im Schnitt nur 100 Nanometer dick und müssen mit 0,5 Prozent Genauigkeit in der Dicke aufgetragen werden."
Zurzeit werden die Hersteller und Industriepartner ausgewählt. Die Phase der technischen Definition wird noch bis zum Jahr 2014 andauern; erst danach wird Euclid auch tatsächlich gebaut. Wenn alles glatt läuft, wird das Weltraumobservatorium dann ab 2020 einen sechsjährigen Blick in den Himmel werfen – und so ein wenig Licht in das dunkle Universum bringen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.