Durchblick: Wie die Brille auf die Nase kam
Sie gehört zu den bedeutendsten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit – die Brille. Am 23. April gedenkt der »Internationale Tag der Brille« jener Sehhilfe, die laut einer Studie des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach aus dem Jahr 2016 jeder dritte Deutsche ständig auf der Nase trägt, und die seit Jahrhunderten bei Fehlsichtigkeit für Durchblick sorgt.
Das war nicht immer so. Um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. beklagte sich Roms berühmtester Redner Cicero über die Abnahme der Sehkraft im Alter und stellte resigniert fest, dass es dagegen kein Mittel gebe. Zwar haben bisweilen Gelehrte aus einer Notiz bei dem römischen Naturschriftsteller Plinius, wonach »Kaiser Nero Gladiatorenkämpfe in der Arena von seiner Loge aus durch einen Smaragd betrachtete«, gefolgert, dass der kurzsichtige römische Imperator einen konkav geschliffenen Edelstein als Sehhilfe benutzt habe. »Doch nimmt man gemeinhin an, dass es sich bei dem Smaragd des Kaisers Nero höchstwahrscheinlich nur um einen Schutz gegen das grelle Sonnenlicht gehandelt habe«, so der Mainzer Althistoriker Gerhard Horsmann.
Abhilfe für die Sehschwäche versuchten schon die alten Griechen zu schaffen. Vergebens hatten sie sich den Kopf darüber zerbrochen, wie das Sehen funktioniert. Senden die Augen Strahlen aus? Oder die betrachteten Objekte? Fortschritte machte die Optik erst mit der Adaption des griechischen Wissens durch die islamische Welt.
Weiterführende Erkenntnisse hinsichtlich der Frage, wie das menschliche Auge funktioniert, lieferte dann im 10. Jahrhundert der arabische Gelehrte Ibn al-Haitham (965-1038), im Abendland als Alhazen bekannt. Der Gelehrte aus Basra schnitt Rinderaugen auf, untersuchte die Pupillen und führte Experimente mit Lichtstrahlen durch. Immer wieder lenkte Alhazen auch Licht auf Spiegel, maß die Winkel der Reflexion, beobachtete Brechungen im Wasser, hantierte mit Glaslinsen unterschiedlichen Schliffs – und verbesserte damit die Theorie der atmosphärischen Strahlenbrechung. Seiner erkenntnistheoretischen Grundlagenforschung im Bereich der optischen Wahrnehmung verdankt die Menschheit die Erkenntnis, dass die Dinge der Umwelt das Sonnenlicht reflektieren und dadurch ein Bild der Außenwelt durch die Linse der Pupille ins Auge projiziert wird.
Theorie und Praxis
Seine Erkenntnisse vom Sehen, von der Reflexion und der Refraktion hielt Alhazen in seiner berühmten Schrift »Kitab al-Manazir«, lateinisch »Perspectiva« oder »de aspectibus«, fest. Hier wies der »arabische Archimedes« als Erster auf die Möglichkeit hin, das schwache Auge durch eine zweckmäßig geschliffene optische Linse zu unterstützen. Praktisch wurden die optischen Erkenntnisse des Ibn al-Haitham freilich erst ausgewertet, als 1240 sein Werk aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und damit weiten Kreisen bekannt wurde. Das nun bei den Gelehrten des Abendlandes und in den Klöstern verbreitete Werk beschreibt den Lesestein, ein gläsernes Kugelsegment, das durch Aufsetzen auf die Schrift vergrößernd wirkt. So ist es Ibn al-Haitham, dem die Nachwelt die erste Augenhilfe verdankt.
In Westeuropa griff der englische Theologe und Naturphilosoph Roger Bacon (1214-1294), von seinen Zeitgenossen »Doctor mirabilis« genannt, Alhazens Erkenntnisse auf. In seinem 1267 veröffentlichten »Opus maius« traf er die grundlegende Feststellung, dass plankonvexe Linsen für Personen mit schwachen Augen überaus nützlich sein können. »Es gibt ein vorzügliches Instrument für alte Leute und solche, die schwache Augen haben; denn sie können damit noch so kleine Buchstaben in genügender Größe sehen.« Fortan griffen Gelehrte und praktisch veranlagte Mönche den Gedanken auf und stellten sich halbkugelige Plankonvexlinsen aus Bergkristall oder Quarz her. Alterssichtige Klosterbrüder konnten aufatmen. Dank der halbkugelförmigen Vergrößerungsgläser konnten sie wieder Texte studieren.
Das Wunder des Lesesteins erregte bald in der gebildeten Welt solches Aufsehen, dass sogar Dichter davon begeisterte Kunde gaben. In der um 1300 verfassten »Manessischen Liederhandschrift« wird der »lichte Spiegel« besungen, der »uns die Schrift gut sichtbar machen kann«.
Der Stein der Weisen
Die ersten Sehhilfen waren zunächst nur Kugelsegmente aus durchsichtigem Glas, Quarz, Bergkristall oder aus Halbedelsteinen, so genannten Berylle. Etymologisch stehen wir hier am Ursprung des deutschen Worts Brille. Diese Lesesteine waren auf der einen Seite flach, auf der anderen gewölbt geschliffen und wurden mit ihrer ebenen Fläche auf die Schrift gelegt. Mit der Zeit schliff man die Kugelsegmente flacher, legte sie nicht mehr auf die Schrift, sondern hielt sie darüber und näherte sie dem Auge. Schließlich kam man auf den glücklichen Gedanken, die Gläser direkt vor die Augen zu bringen und zwei solcher Lesesteine durch eine Fassung zu verbinden.
Damit ist kulturhistorisch die Entwicklungsgeschichte der Brille rekonstruierbar. Doch wie sie letztendlich auf die Nase kam, darüber scheiden sich bis heute die Geister. Tatsache ist, dass die Brille zuerst in Italien hergestellt wurde. Mit Sicherheit wissen wir, dass gegen Ende des 13. Jahrhunderts auf den Murano-Inseln bei Venedig – dem damaligen Zentrum der Glasindustrie – »Augengläser zum Sehen« (oculis ad legendum) geschliffen wurden.
Dass die ersten Brillen bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Norditalien gefertigt wurden, ergibt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus den hierzu aufgefundenen Quellen. Oft wird als erster dokumentarischer Nachweis der Brille eine alte Chronik in der Vatikanischen Bibliothek aus dem Jahr 1283 herangezogen, in der Bruder Salimbene aus Parma berichtet, dass er eine Sarginschrift nur durch einen Kristall lesen konnte. Doch muss angenommen werden, dass es sich bei diesem »Kristall« nicht um eine Brille, sondern um einen Lesestein gehandelt hat.
Irgendwann, kurz vor Ende des 13. Jahrhunderts, muss es einem unbekannten Tüftler gelungen sein, flache und leichte Gläser herzustellen, die man dicht vor die Augen platzieren konnte. Der Dominikanermönch Giordano da Rivalto erwähnt beiläufig das epochale Ereignis in einer Predigt in Florenz: »Es ist noch nicht 20 Jahre her, dass mit der Kunst der Verfertigung von Brillen, welche die Sehkraft verbessern, eine der nützlichsten Künste der Welt erfunden wurde. Ich habe selbst denjenigen gesehen, der sie erfunden hat und zuerst fertigte, und mich mit ihm unterhalten.« Doch wer der große Unbekannte ist, dem das Verdienst zukommt, der Erfinder der Brille zu sein, darüber hüllt sich der Kirchenmann in Schweigen.
Abgeguckt
Es gibt aber eine zweite wichtige Quelle, die sogar einen Namen nennt – allerdings nicht den des Erfinders, sondern den des ersten Nachbauers. In einer Passage aus einer alten Chronik des Dominikanerklosters Santa Caterina in Pisa steht: »Bruder Alessandro della Spina konnte alles, was er gesehen hatte, nachbilden. Er fertigte selbst eine Brille an, die ein anderer, der sein Geheimnis jedoch nicht preisgeben wollte, schon vor ihm erfunden hatte.«
Dass sich ein Dominikaner besonders für die Brille interessierte, hat gute Gründe, war doch das Hauptcharakteristikum dieses Ordens die Bildung und mithin die Lektüre. Es ist auch eine alte Dominikanerabtei, San Nicolò von Treviso bei Venedig, in deren Kapitelsaal sich die älteste bekannte Abbildung einer Brille befindet. Der Zwicker sitzt hier Kardinal Hugo von St.-Cher auf der Nase. Gemalt wurde das Fresko 1352 von Tommaso da Modena.
Eine Spur auf der Suche nach dem Ursprung der Brille führt auch in das 70 Kilometer nördlich von Rom gelegene Viterbo, »das in den 60er und 70er Jahren des 13. Jahrhunderts Mittelpunkt aller wichtigen Forschungen auf dem Gebiet der Optik war«, so der am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz lehrende Historiker Michael Matheus. Dort, wo zu dieser Zeit der päpstliche Hof residierte, weilte auch der in Schlesien geborene Franziskanermönch Witelo (um 1237-1290), der als einer der Ersten die sphärische Aberration beschrieb, das heißt die Unschärfe oder Verzerrung, die entsteht, wenn Lichtstrahlen durch Linsen oder Hohlspiegel geführt werden. Ebenfalls in Viterbo weilte damals der Optikspezialist John Peckham (um 1220-1292), dessen »Perspectiva communis« zum Standardlehrbuch der Universitäten wurde.
Brennpunkt der Optikforschung
Derjenige, der die renommierten Akademiker dorthin holte, war kein geringerer als Papst Johannes XXI. (um 1205-1277), der vormalige berühmte Arzt Petrus Hispanus, der selbst erkenntnistheoretische Grundlagenforschung im Bereich der optischen Wahrnehmung betrieb. Neuerdings gibt es sogar Gelehrtenstimmen, die dem kirchlichen Oberhaupt selbst die Erfindung der Brille zuschreiben.
Wer immer sich auch rühmen kann, als Urheber einer der segensreichsten Innovationen des Mittelalters zu gelten, ob der Papst selbst, der 1277 vom einstürzenden Deckengewölbe seiner Privatbibliothek in Viterbo erschlagen wurde, oder ein auf ewig namenloser Tüftler – seine Erfindung jedenfalls rief in den Anfangsjahren ihres Daseins noch wundersames Staunen hervor. Vor allem außerhalb der klösterlichen Gelehrtenstuben erregten die ersten Brillenträger großes Aufsehen: So wird von der im Jahr 1319 in Wien gefeierten Hochzeit der Herzogin Jutta von Österreich berichtet, dass der als Gast geladene Bürgermeister von Padua »allerhand Aufsehen erregte, weil er mit der vor nicht langer Zeit erfundenen Brille vor seinem Gesicht erschien«.
Keine hundert Jahre später waren die Augengläser dann offenbar zu einem so geläufigen Gebrauchsgegenstand geworden, dass sie älteren Personen in bildlichen Darstellungen wie selbstverständlich auf die Nase gesetzt wurden. Auf dem Flügelaltar des Konrad von Soest in der Stadtkirche im hessischen Bad Wildungen aus dem Jahr 1403 ist ein lesender Apostel abgebildet, der sich beim Studieren eine Nietbrille vor die Augen hält.
»Derlei Sehhilfen wurden gar zu einem europäischen Exportschlager für die muslimischen Länder«, erklärt Gotthard Strohmeier, Honorarprofessor am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin, mit Verweis auf den persischen Dichter Dichami (1414-1492). Der brachte in der Einleitung zu seinem Epos »Salman und Absal«, das er in hohem Alter verfasste, seinen Kummer über seine schwindende Sehkraft zum Ausdruck, die so schwach geworden sei, dass ihm nun nicht einmal mehr die »fränkischen Gläser« helfen könnten. »Damit meint er die Brille und nicht etwa die Leselupe, denn er spricht im Zusammenhang in poetischer Umschreibung von vier Augen, also von zwei zusätzlichen runden Gebilden«, so Strohmaier.
Vielfalt der Formen
Die Sehhilfe, die dem schwindenden Augenlicht des persischen Dichters nicht mehr von Nutzen war, und mit der Paduas Ortsvorsteher anno 1319 die Wiener Hochzeitsgesellschaft beeindruckte, war noch keine Brille im heutigen Sinn, sondern ein so genanntes Lorgnon, ein mit einer flach geschliffenen Linse versehenes Einglas, das mit Hilfe eines seitlich angebrachten Stiels vor die Augen gehalten wurde. Aus solchen Eingläsern entwickelte sich schließlich die Brille, bei der ein genieteter Steg zwei Eingläser in der Mitte zusammenhielt, wie sie der lesende Apostel auf dem Flügelaltar in der Stadtkirche von Bad Wildungen vor Augen hat.
Rund 200 Jahre später, Anfang des 16. Jahrhunderts, begannen die Glasmacher damit, konkave Gläser zu schleifen, mit denen sich die Kurzsichtigkeit ausgleichen ließ. Nun gab es Brillen für »Alt« und »Jung« – nicht immer wurden die Augengläser an die persönliche Sehstärke des Brillenkäufers angepasst. Der Legende nach war es Papst Leo X. (1475-1521), der das erste Paar einer Fernbrille auf der Nase trug.
Und wiederum 200 Jahre später fügten Optiker beide Linsentypen zu einer Kombination aus Lesebrille und Fernbrille zusammen. Wem diese geniale Erfindung gelang, ist nicht sicher geklärt, im Gespräch ist Benjamin Franklin (1706-1790), der in Briefen von dieser Erfindung schwärmte, die ihm seine Augen »so nützlich wie ehedem« machten. Vermutlich kamen die halbgeteilten Doppellinsenbrillen aber mehrfach unabhängig voneinander im frühen 18. Jahrhundert auf.
Genauso wie eine weitere Innovation, die von heutigen Brillen nicht mehr wegzudenken ist: seitliche Bügel. Auch sie waren erstmals im 18. Jahrhundert erhältlich. Für seine Brillengestelle, die durch Druck an den Schläfen des Trägers hielten, wurde um 1730 der englische Optiker Edward Scarlett (um 1688-1743) bekannt. Und spätestens zu diesem Zeitpunkt, also gut 400 Jahre nach ihrer Erfindung, sind wir bei der modernen Brille angelangt: Wer heute eines von Edward Scarletts Modellen auf der Nase trägt, würde in der Fußgängerzone kaum Aufsehen erregen.
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