Direkt zum Inhalt

Johann Joachim Winckelmann : Edle Einfalt, stille Größe

Edle Einfalt, stille Größe

Vor wenigen Monaten konnten Archäologen einen schönen Fund in der altgriechischen Stadt Epidauros verbuchen: Verbaut in einer antiken Hausmauer fanden sie den nahezu unversehrten Torso einer Marmorstatue. Zwar fehlten der nackten Männergestalt Kopf, Hände und Beine, doch die Art und Weise, wie der Bildhauer die weichen Muskelpartien aus dem Stein präpariert hatte, kennen Archäologen nur von den Bildwerken des in der Antike hochberühmten Polyklet. Von der Sohle bis zum Scheitel gestaltete dieser Statuen in einer akribischen Symmetrie von entspannten und bewegten Körperteilen.

Dass es aber ganz sicher nicht Polyklet war, der die Figur vor rund 2400 Jahren nach Epidauros lieferte, ist den Experten des griechischen Antikendienstes klar: So scharfkantig wie an dem Torso treffen die einzelnen Muskelpartien erst an Statuen des 2. Jahrhunderts n. Chr. aufeinander – das fragmentierte Bildwerk muss also eine Kopie aus römischer Zeit sein.

Johann Joachim Winckelmann | Mit Homers "Ilias" in Händen ließ sich Winckelmann um 1755 von Anton Raphael Mengs (1728-1779) porträtieren. Der Künstler und der Gelehrte lernten sich in jenem Jahr kennen und waren zeit ihres Lebens eng befreundet.

Für Fachleute ist es offenbar eine Fingerübung, Alter und Herkunft eines antiken Marmorbildnisses zu bestimmen, indem sie es in ein chronologisches Netz von Skulpturen einhängen, das etwa vom 8. vorchristlichen Jahrhundert bis in die Spätantike reicht. Und alldem liegt ein simpler Kunstgriff zu Grunde: die Machart einer Statue mit der anderer Stücke vergleichen. Denn der Stil verrät, ob eine Skulptur zur gleichen Zeit entstand, jünger oder älter ist als sein Referenzobjekt. Dieses Phänomen der Stilentwicklung, eines der Herzstücke der Klassischen Archäologie, erkannte als Erster Johann Joachim Winckelmann – und legte damit den Grundstein für diesen Wissenschaftszweig.

In seiner Erstlingsschrift "Gedanken ueber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst" von 1756 ging es dem Humanisten zunächst darum, einen neuen ästhetischen Maßstab für die Kunst seiner eigenen Zeit aufzustellen – denn die verspielten Werke des Barock und Rokoko missfielen ihm zutiefst: "Das wahre Gegentheil, und das diesem entgegen stehende äußerste Ende ist der gemeinste Geschmack der heutigen, sonderlich angehenden Künstler. Ihren Beifall verdienet nichts, als worinn ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet, herrschen." Vielmehr sollte die Kunst dem Vorbild der Antike folgen.

Winckelmann stellte dafür eine geradezu dogmatische Forderung auf, die insbesondere die griechische Skulptur zum vollendeten Maßstab jeglichen Kunstschaffens erhob: Ihr Kennzeichen sei "eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allzeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele".

Die steile Karriere des Schusterjungen

Als Winckelmann diese Worte niederschrieb, hatte er bereits eine beachtliche Laufbahn hinter sich. Als einziger Sohn eines Schusters am 9. Dezember 1717 in dem kärglichen Städtchen Stendal geboren, bemühte er sich schon mit 16 Jahren um besondere Förderung. Er griff seinem blinden Schullehrer Esaias Wilhelm Tappert unter die Arme, war sein Vorleser und verdiente sein Schulgeld als Chorsänger für kirchliche Anlässe. Zwei Jahre später empfahl Tappert den jungen Winckelmann an ein Gymnasium in Berlin, damit er besser Griechisch lerne. Winckelmann schlug sich als Privat- und Nachhilfelehrer durch und begann 1738 ein Studium der Theologie in Halle an der Saale – vor allem weil der stets vermögenslose Humanist dafür von der Kirche ein Stipendium erhielt.

Wie die meisten seiner Kommilitonen besuchte er nur selten seine Vorlesungen – doch weniger um in vollen Zügen das Studentenleben zu genießen als um Bücher zu wälzen und sich weiterzubilden. Nach Abschluss des Studiums verdingte er sich als Hauslehrer und lernte nebenbei autodidaktisch Englisch, Französisch sowie Italienisch. In dieser Zeit freundete sich Winckelmann mit seinem 14-jährigen Schützling Peter Lamprecht an, der später sogar zu ihm zog. Der Germanist Wolfgang Leppmann ist nicht der einzige Winckelmann-Biograf, der vermutet, "dass diese Beziehung ebenso homosexueller Natur war wie eine zweite, die Winckelmann wenig später mit F. U. Arwed von Bülow [...] anknüpfte; darauf lassen sowohl die Intensität des 'Verhältnisses' als auch die Bitterkeit schließen, mit der Winckelmann dessen Ende zur Kenntnis nahm". Zeit seines Lebens scheint der Stendaler Gelehrte nie eine glückliche Beziehung eingegangen zu sein.

Schon die frühen Jahre seines Werdegangs zeigen indes, dass Winckelmann mit unermüdlicher Energie an seinem sozialen Aufstieg arbeitete, der in den Jahren 1741 bis 1748 allerdings eine herbe Zeit für ihn bereithielt: Er wurde Konrektor einer Lateinschule in Seehausen, einem verschlafenen Nest in der Altmark. Das Unterrichtsniveau scheint seine Schüler hoffnungslos überfordert zu haben. Zudem schlug ihm von Seiten des Stadtpredigers arge Missgunst entgegen – dieser hatte den Gelehrten dabei erwischt, wie er während der Predigt statt im Gesangbuch in Homer las. Trotzdem hatte Winckelmann gute Aussichten auf den Posten des Schulrektors – "das wäre eine beachtliche berufliche Karriere für einen Mann gewesen, der ganz unten angefangen hat", so Leppmann. Doch der Autodidakt hatte wenig übrig für diese Zukunftsperspektive.

Erlösung brachte die geglückte Bewerbung als Bibliothekar bei Heinrich Graf von Bünau in Nöthnitz bei Dresden. Der Eintritt in adelige Kreise schulten nicht nur Winckelmanns bis dahin magere gesellschaftliche Umgangsformen. Eine seiner Aufgaben, dem Historiker Bünau für dessen "Teutsche Kayser- und Reichshistorie" zuzuarbeiten, führten ihn zudem an die zeitgenössische Geschichtsschreibung heran. Diese Phase lieferte wohl entscheidende Impulse für die Entstehung seiner "Geschichte der Kunst des Alterthums" aus dem Jahr 1764.

"Geschichte der Kunst des Alterthums" | 1764 veröffentlichte Winckelmann seine "Geschichte" der antiken Kunst. Darin formulierte er erstmals Kriterien für eine Stilentwicklung, die im Grundprinzip bis heute in der Archäologie Gültigkeit haben.

Darin zeichnete Winckelmann zum ersten Mal die stilistische Entwicklung antiker Kunstwerke nach, indem er anhand von Münzen, Gemmen und Skulpturen die unterschiedlichen Darstellungsweisen des menschlichen Körpers beschrieb und miteinander verglich. Daraus entwickelte er ein chronologisches System verschiedener Stilstufen: Er ließ etwa die griechische Skulptur mit dem Älteren Stil beginnen, den Winckelmann als "nachdrücklich, aber hart; mächtig, aber ohne Grazie" beschreibt – "auf einem Systema gebauet, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren, und sich von derselben entfernet hatten – die Kunst hatte sich eine eigene Natur gebildet". Die nachfolgenden Künstler des Hohen Stils seien dann einem größeren Realismus verpflichtet gewesen. Winckelmann meinte die Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., der er den Bildhauer Phidias voranstellt. Dieser schuf beispielsweise die über zwölf Meter hohe Zeusstatue von Olympia, eines der Sieben Weltwunder der Antike.

Noch größere Naturnähe setze sich dann im Schönen Stil fort, den Praxiteles und Lysipp bestimmten. Danach folgte die Zeit des Niedergangs, die durch die Kunst der Hellenismus und der Römerzeit geprägt war. Auch wenn Forscher heutzutage dieses starre Modell von Entstehung, Blütezeit und Verfall nicht mehr verfechten, das grundsätzliche Prinzip der Stilentwicklung hat nichts an Aktualität eingebüßt.

Winckelmann war gewissermaßen ein Quantensprung der Kunstwissenschaft gelungen, vor allem da zu seiner Zeit der Kenntnisstand über antike Bildwerke ziemlich gering war. Erst seit wenigen Jahrzehnten hatten die Ausgrabungen in den Vesuvstädten erste Statuenfunde geliefert, stieß man in Rom bei Baumaßnahmen vereinzelt auf antike Bildwerke. Doch deren Alter war völlig unbekannt. Zu jener Zeit erschien die Skulptur der Antike "noch als ein einheitlicher Block ohne historische Differenzierung; ihre Werke galten als 'Schöpfungen der Alten', ohne dass man einen Unterschied zwischen der griechischen und der römischen Epoche machen konnte", erklärt der italienische Archäologe Ranuccio Bianchi Bandinelli.

Dass Winckelmann seine Kenntnis über die antike Statuenkunst ausbauen konnte, verdankte er dem päpstlichen Nuntius am sächsischen Hof Alberigo Archinto. Unglücklich darüber, fern von Italien sein Dasein zu fristen, lernte dieser den Gelehrten im Hause Bünaus kennen und schätzen. Archinto schlug ihm vor, in Rom Bibliothekar seines engen Freundes Kardinal Passionei zu werden. Dafür musste er freilich zum katholischen Glauben übertreten – was Winckelmann nach langem Zögern und mit reichlichem Unbehagen 1754 tat. Er zog aber zunächst nach Dresden und widmete sich mit Unterstützung der Kirche seinen Studien. Bald fiel er August III., König von Polen und Kurfürst von Sachsen, auf, selbst ein Kunstliebhaber und Mäzen. Dieser förderte ihn mit einer Summe von 200 Talern. Winckelmann konnte endlich nach Rom reisen, Neapel und Pompeji besuchen. In jener Zeit sammelte er umfangreiches Material für seine "Geschichte der Kunst".

Die Irrtümer des Pioniers

Eine gewisse Ironie besaß allerdings der Umstand, dass viele der vermeintlich griechischen Skulpturen, die der Gelehrte in Rom studierte, keine Originale waren, sondern römische Kopien. Ohne es zu wissen, hatte Winckelmann, der die römische Kunst als Epoche des Niedergangs verachtete, seine Stilgeschichte aber vor allem auf den klassizistischen Nachahmungen der römischen Kaiserzeit aufgebaut. Die wenigen originalen Statuen, die in Italien gefunden wurden, hielt er für etruskische Werke.

Ein Höhepunkt seiner Laufbahn war schließlich 1763 das Amt des Oberaufsehers der Altertümer in Rom – er überwachte die Ausfuhr von Antiken und registrierte neue Fundorte. Ein Jahr später veröffentlichte er seine "Geschichte der Kunst des Alterthums".

1768 beschloss Winckelmann, alte Freunde und neue Verehrer in Deutschland zu besuchen, zu denen auch der junge Goethe zählte. Während der Reise, die er mit dem berühmten Bildhauer Bartolomeo Cavaceppi angetreten hatte, erlitt Winckelmann "einen schweren Nervenzusammenbruch" (Leppmann). Er machte kehrt und stieg auf der Rückreise in der Locanda Grande in Triest ab. Dort machte er die folgenschwere Bekanntschaft mit Francesco Angelis, einem brotlosen Koch, mit dem er einige Tage verbrachte – bis dieser Winckelmann am 8. Juni 1768 in seinem Pensionszimmer erstach. Obgleich Angelis gefasst und sein Prozess minutiös protokolliert wurde, ist das genaue Mordmotiv bis heute unklar. Wollte er den Gelehrten ausrauben oder war es eine Beziehungstat? Winckelmanns Geld hatte er jedenfalls auf seiner Flucht zurückgelassen.

Viele von Winckelmanns Ansichten sind heute widerlegt oder schlicht durch die Ergebnisse aus Grabungen und die Forschungsarbeit der vergangenen Jahrhunderte überholt. Doch zu erkennen, dass auch die Kunst eine Geschichte hat und dass Kunstwerke Auskunft geben über Mentalität und Kultur einer vergangenen Gesellschaft, machte ihn zum Begründer der Bildwissenschaft. Seit 1840 erinnern Klassische Archäologen daran jährlich mit Winckelmann-Feiern zu seinem Geburtstag, durch Vorträge und die Herausgabe von Forschungsschriften.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.