Pharmaindustrie: Edler Spender
Schon mehr als 3000 Jahre alte ägyptische Papyri, die ältesten medizinischen Werke der Menschheit, berichten von einem verbreiteten Leiden namens Aaa-Krankheit. Medizinhistoriker sehen darin die frühesten Erwähnungen einer der bedeutendsten Armutskrankheiten der Welt – der Bilharziose. Etwa 240 Millionen Menschen sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation mit den Verursachern der Krankheit infiziert, Pärchenegeln der Gattung Schistosoma, die in den Venen rund um die Blase nisten. Um den Parasiten zurückzudrängen, setzt die Weltgesundheitsorganisation auf Praziquantel (PZQ), das derzeit einzige Medikament, das gegen Schistosoma zuverlässig wirkt.
Wegen der erforderlichen Mengen – in betroffenen Regionen verabreicht die WHO das Medikament ausnahmslos allen Schulkindern – ist die Weltgesundheitsorganisation auf Spenden aus der pharmazeutischen Industrie angewiesen. Das Darmstädter Pharmaunternehmen Merck spendet seit 2007 Praziquantel für das Anti-Bilharziose-Programm der WHO und hat Anfang letzten Jahres sein Engagement aufgestockt: Bis zu 250 Millionen Tabletten will das Unternehmen ab 2016 pro Jahr zur Verfügung stellen. Mit dieser Menge kann man 100 Millionen Schulkinder behandeln – eine Zahl, auf die man bei dem Hersteller erkennbar stolz ist.
Die Bedeutung derartiger Großspenden ist unter Fachleuten weit gehend unumstritten. "Das Programm gegen Bilharziose und viele andere wären ohne das Engagement von Firmen wie Merck gar nicht bezahlbar. Die Medikamente am Weltmarkt zu kaufen, kann sich die WHO nicht leisten", erklärt der Tropenmediziner Bernhard Fleischer vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg.
Das ist allerdings erst der Anfang, denn die Unternehmen unterstützen die globalen Bekämpfungsprogramme nicht nur, sondern übernehmen durchaus auch selbst die Initiative. Die Bilharziose-Kampagne ist ein gutes Beispiel dafür. Denn so hilfreich der Wirkstoff Praziquantel ist, das WHO-Programm gegen Bilharziose bietet dem Erreger eine offene Flanke: Für Kinder unter etwa sechs Jahren oder 94 Zentimeter Größe gibt es kein Medikament gegen den Parasiten – für sie ist Praziquantel bisher nicht geeignet.
Lange galt das nicht als Problem. In den letzten Jahren allerdings zeigten diverse Studien, dass auch deutlich jüngere Kinder von Schistosomen befallen sind und den Parasiten weitergeben. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigen das aus ihren Erfahrungen vor Ort. Und gerade bei Kindern richtet Bilharziose bleibende Schäden an: Die Parasiten verursachen nicht nur Blutarmut, Entwicklungs- und Lernstörungen – die Entzündungen durch die Eier bringen auch das Immunsystem aus dem Takt. Infizierte Kinder bekommen häufiger Malaria, und die Würmer gelten auch als einer der Gründe, weshalb Impfungen in Entwicklungsländern oft weniger effektiv sind.
Medikamentenspenden sind erst der Anfang
Weder die Weltgesundheitsorganisation noch die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen betreiben ausreichend Pharmaforschung, um diese Lücke selbst zu schließen. Im Fall von Praziquantel hat Merck sich des Problems angenommen, das bewährte Medikament für jüngere Kinder zugänglich zu machen. Mitarbeiter des Unternehmens hätten sich während der Begleitung der WHO-Kampagne entschlossen, eine entsprechende Initiative anzustoßen. "Wir haben Dörfer gesehen, da sind 80 Prozent der Schulkinder infiziert, und als wir uns dann auf Verdacht die jüngeren Geschwister angeschaut haben, waren auch von denen 80 Prozent erkrankt", erklärt Jutta Reinhard-Rupp, Biologin in der biopharmazeutischen Sparte des Unternehmens. "Die Initiative für das neue, kleinkindertaugliche Praziquantel ging von uns aus."
Zwei entscheidende Probleme gilt es dabei zu überwinden. Einerseits sind die Tabletten enorm groß: 40 bis 60 Milligramm des Wirkstoffs müssen die Patienten pro Kilogramm Körpergewicht schlucken – schon für ein sechsjähriges Kind kommt man dabei auf fast ein Gramm des Wirkstoffs und entsprechend große Tabletten. Zweitens ist PZQ sehr bitter – und das führt zu Schwierigkeiten: "Wir haben anekdotische Berichte von Mitarbeitern bei den Schulprogrammen, dass die Kinder versucht haben, diese Tablette wieder loszuwerden", so Reinhard-Rupp. "Das Kind schluckt eine Tablette, und es gibt eine Reaktion, weil wahrscheinlich Bitterrezeptoren im Magen angesprochen werden. Und dann wissen Sie nicht, wie viel wir dem Kind tatsächlich gegeben haben."
Bessere Chemie als Ausweg
Für beide Probleme gibt es eine prinzipiell recht einfache Lösung. Praziquantel enthält nicht einen, sondern zwei Stoffe: Den eigentlichen Wirkstoff und sein so genanntes Enantiomer, die sich zueinander wie Bild und Spiegelbild verhalten. Das Nebenprodukt entsteht bei der chemischen Herstellung von Praziquantel, weil der normale Reaktionsweg, Merck-Verfahren genannt, nicht zwischen den beiden Produkten unterscheidet – sie verhalten sich chemisch gleich. Der unwirksame Anteil des Medikaments ist das eigentliche Problem. Nicht nur ist sein reines Volumen schuld, dass Praziquantel wegen der schieren Größe der Tabletten für Kinder problematisch ist, eine Studie aus dem Jahr 2009 zeigte auch, dass das unerwünschte Molekül für den bitteren Geschmack des Medikaments verantwortlich ist.
Entsprechend arbeiten Merck-Forscher an einer neuen chemischen Strategie, bei der sie nur die erwünschte Variante herstellen – ob das funktioniert, ist aber noch nicht absehbar. Chemisch sei das kein Problem, es gebe sogar bereits fertige Synthesen in der Literatur, betonen die Merck-Forscher. Die entscheidende Hürde seien die Kosten.
Dabei geht es einerseits um Entwicklung und klinische Zulassung, andererseits aber vor allem um das, was der reine Wirkstoff am Ende pro Einheit kostet. Darüber entscheiden die verwendeten Katalysatoren, aber auch die Anzahl der Synthesestufen, die verwendeten Lösungsmittel und wie die einzelnen Zwischenprodukte gereinigt werden. Viele im Labor erfolgreiche Synthesen scheitern an diesem Kriterium. Die Forscher sind aber zuversichtlich, auf dem richtigen Weg zu sein. Man habe "einen Durchbruch erzielt", Details will das Team jedoch noch nicht preisgeben.
Sollte der chemische Ansatz scheitern, arbeitet das Unternehmen nach eigenen Angaben zusätzlich an einer Methode, das konventionelle Praziquantel in kleinkindertauglichen, selbstauflösenden Kapseln zu verpacken. Bis 2018, so das ehrgeizige Ziel der Kampagne, soll ein verbessertes Praziquantel für die ganz jungen Patienten zur Verfügung stehen. Parallel dazu verkündete Merck-Geschäftsleitungsmitglied Stefan Oschmann nun in Genf, die Gründung einer internationalen Allianz gegen Bilharziose voranzutreiben – ganz nach dem Vorbild der prominenteren Allianzen von Regierungen, Unternehmen und NGOs gegen Malaria oder HIV.
Dass es statt demokratisch gewählter Regierungen zunehmend Unternehmen und Privatleute sind, die beim Kampf gegen globale Krankheiten die Führung übernehmen, bereitet allerdings vielen Experten Bauchschmerzen. Zumal bei der Ausrichtung der Programme eben auch sehr konkrete ökonomische Interessen mit hineinspielen. Die WHO ist ein wichtiger Partner für Pharmaunternehmen, die Geschäfte in Afrika machen wollen – sie fungiert als Türöffner für neue Medikamente.
Natürlich geht es Merck auch ums Image. Das Unternehmen will nicht nur Gutes tun, sondern auch dabei gesehen werden. "Gerade in den Ländern, in denen diese Programme stattfinden, werden wir auch als Firma wahrgenommen. Wir sind ja nicht so groß, kein Pfizer oder GSK, und das Praziquantel-Programm ist unserem Ruf und unserer Sichtbarkeit sehr zuträglich", erklärt Reinhard-Rupp denn auch.
Die Unternehmen spüren den Druck, gegen Armutskrankheiten aktiv zu werden. Zu schlecht ist das Image in den letzten Jahrzehnten geworden. Eine wichtige Rolle spielen dabei Ranglisten wie der "Access to Medicine Index", der das soziale Engagement großer Pharmaunternehmen bewertet – hier gut dazustehen, ist für Unternehmen fast schon Pflicht, nicht zuletzt deshalb, weil die Mitarbeiter es inzwischen erwarten: Wer lebensrettende Medikamente entwickelt, will sie auch eingesetzt wissen.
Eine unbequeme Abhängigkeit
Der Wunsch, die eigenen guten Taten mögen möglichst öffentlichkeitswirksam daherkommen, führt denn auch dazu, dass nicht alle Mittel optimal eingesetzt werden. Gelegentlich seien solche Aktionen eben einfach PR, sagt Philipp Frisch von der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen (MSF). "Das ist für sich genommen nicht verwerflich, das Problem ist einfach, dass das Engagement dann oft nicht nachhaltig ist." Im Fall der Anti-Bilharziose-Kampagne nennen Experten der Hilfsorganisation zum Beispiel Zugang zu sauberem Wasser als vernachlässigtes Problem, zudem sei schon vielen geholfen, wenn die vorhandenen Tabletten einfach kleiner würden.
Allerdings, erklärt Julien Potet, Experte für Tropenkrankheiten und Impfstoffe bei MSF, lehne man das Forschungsprogramm von Merck und seinen Partnern keinesfalls ab. "Man sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, um ein Bilharziose-Medikament für kleine Kinder zu entwickeln." Das Problem beim Engagement der Pharmaindustrie sei ein ganz anderes: "Wir wären enttäuscht, wenn am Ende Patente und andere Schutzrechte den Zugang zu dem Präparat einschränkten." Das sei jedoch ausgeschlossen, heißt es bei Merck. Man werde auf jeden Fall nichtexklusive Lizenzen für das fertige Produkt an andere Hersteller vergeben, und die bisherigen Praziquantel-Spenden an das WHO-Programm seien von der neuen Medikamentenentwicklung ohnehin nicht berührt.
Letztendlich, da sind sich alle Experten einig, geht es ohne die Industrie sowieso nicht. Staaten und Hilfsorganisationen stellen schlicht nicht genug Ressourcen bereit, um Tropenkrankheiten weltweit effektiv zu bekämpfen – geschweige denn die oft dazu nötige Medikamentenentwicklung zu stemmen. Neben ein paar superreichen Philanthropen wie Bill Gates sind Pharmaunternehmen die Einzigen, die das nötige Geld und nicht zuletzt die technischen Möglichkeiten dazu haben. Merck ist keineswegs das einzige Unternehmen, das sich bei der Bekämpfung von Armutskrankheiten unverzichtbar gemacht hat. Bernhard Fleischer vom Bernhard-Nocht-Institut verweist zum Beispiel auf den Hersteller GSK, der das Medikament Albendazol zur Verfügung stellt. Eine Alternative zu derartigen Kooperationen ist nicht in Sicht: "Die Firmen werden das wohl auch noch eine ganze Weile machen müssen."
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