Neandertaler-Werkzeug: Eigenentwicklung mit modernem Touch
Auch der Neandertaler wusste die besonderen Vorzüge des Werkstoffs Knochen zu nutzen – und musste sich dies nicht einmal beim modernen Menschen abschauen. Das legen zumindest die Überbleibsel von Spezialgeräten zur Lederbearbeitung nahe, die in zwei Höhlen des Perigord zum Vorschein kamen. Wie das Forscherteam um Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig schreibt, sehen sie ihrer mutmaßlichen modernen Variante überraschend ähnlich: dem gerundeten Ende des "Falzbeins", das auch heute noch meist aus Knochen besteht.
Zwei dieser Geräte entdeckten die Forscher im Abri Peyrony, ein weiteres in der Fundstelle Pech de l'Azé. Die Rippen von Hirschen oder Rentieren sind zwischen 40 000 und 50 000 Jahre alt und fanden sich zusammen mit typischen Neandertalerwerkzeugen. Alle drei Geräte sind an einem Ende abgerundet und geglättet. Mikroskopische Spuren des Abriebs an der Spitze passen zur angenommenen Verwendung als Gerät zum Glätten, Formen oder Polieren von Häuten, wie Experimente mit Nachbauten zeigen. Ähnliche Geräte, die die Wissenschaftler nach ihrem französischen Namen als "Lissoir" bezeichnen, kennen Archäologen auch aus späteren Jahrtausenden von modernen Menschen.
Bislang hatten Forscher praktisch keine Knochenwerkzeuge des Neandertalers gefunden. Wo dieser doch einmal diesen Werkstoff einsetzte, kopierte er die Form von Steinwerkzeugen oder schuf Einzelstücke, deren Verwendungszweck unklar ist und die nicht Teil des "Formenkanons" wurden. Die drei Geräte aus dem Perigord seien eine klare Ausnahme von diesem Prinzip, erklären McPherron und Kollegen.
Die Funde stammen aus einer Phase, in der in den Hinterlassenschaften der Neandertaler eine Vielzahl von Neuerungen zu beobachten sind und um die vor einiger Zeit ein erbitterter Streit in Forscherkreisen entbrannte. Unklar ist nämlich, ob dieser Modernisierungsprozess auf den Kontakt mit frühen Einwanderern des modernen Menschen zurückzuführen ist oder aber eine Eigenentwicklung darstellt. Angesichts des hohen Alters der Knochenwerkzeuge will das Forscherteam nun einen Einfluss des Homo sapiens ausschließen können.
Die Wissenschaftler ziehen sogar die Möglichkeit in Betracht, dass der Technologietransfer in umgekehrter Richtung verlief: Womöglich habe sich der moderne Mensch den Trick mit den Polierknochen bei den Alteingesessenen abgeschaut, diesen speziellen Werkzeugtyp stellten unsere Vorfahren jedenfalls nicht vor ihrem Eintreffen in Europa her. Allerdings tauchen Knochen- oder Geweihwerkzeuge – oder solche aus Holz, die sicher sowohl bei Neandertalern wie bei modernen Menschen im Einsatz gewesen sein dürften – grundsätzlich viel seltener auf, als sie vermutlich einst eingesetzt wurden. An vielen Stellen sind die Erhaltungsbedingungen für diese organischen Materialien zu schlecht.
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