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Paläoanthropologie: Ein hartes Brot

Inzwischen gilt als sicher, dass der Neandertaler von Zeit zu Zeit auch mal seinesgleichen verspeiste. Doch was steckte hinter dem Kannibalismus? Ein religiöser Ritus oder schlicht Hunger? Neuere Funde deuten auf die blanke Not.
Neandertaler von El Sidrón
"Diese Menschen haben ihre Stammesgenossen gegessen, und mehr noch, sie haben die hohlen Knochen aufgebrochen und das Mark herausgesaugt." Ein hartes Urteil. Doch Dragutin Gorjanovic-Kramberger hatte keinen Zweifel, dass sein Fund eine schaurige Tat bezeugt, die vor 130 000 Jahren begangen wurde: Im September 1899 war der kroatische Geologe in der Krapina-Höhle auf 884 Trümmer von Neandertaler-Knochen gestoßen.

Niemand weiß, ob hier zwanzig oder gar achtzig Menschen ihr Ende gefunden hatten, doch der stark zerstückelte Zustand der Fossilien sowie Schnittspuren von Steinwerkzeugen auf manchen Knochen galten als Beweis für brutalen Kannibalismus unter Neandertalern.
"Diese Menschen haben ihre Stammesgenossen gegessen"
(Dragutin Gorjanovic-Kramberger)
Jüngere Funde unterstützen diese zeitweilig angezweifelte Hypothese. So entdeckten französische Archäologen 1999 – also genau einhundert Jahre nach Gorjanovic-Krambergers spektakulärem Fund – in der Höhle von Moula-Guercy die Überreste von mindestens sechs Neandertalern. Die im Vergleich zu Krapina jetzt wesentlich präziser durchgeführte Analyse zeigte, dass hier Menschen zum Verzehr zubereitet worden waren.

Doch was trieb die Neandertaler dazu, ihresgleichen zu verspeisen? Wegen der zahlreichen Tierknochen, die ebenfalls in der Krapina-Höhle auftauchten, schlossen Forscher eine Hungersnot aus; Alternativnahrung schien es hier im Überfluss gegeben zu haben. Auch in Frankreich gilt das Hunger-Szenario wegen des Reichtums des betreffenden Gebiets an natürlichen Ressourcen als unwahrscheinlich. Ein ganz anderes Bild zeigt sich nun jedoch in Spanien, genauer gesagt im nordspanischen Asturien.

Unterkiefer und Zähne von El Sidrón | Die 43 000 Jahre alten Unterkieferknochen (A-C) aus der Höhle El Sidrón deuten auf schlechte Ernährungssituationen der Neandertaler hin. Bei den Zähnen (D, E) sind gravierende Entwicklungsstörungen erkennbar. Schnittspuren (F) zeugen von kannibalistischen Handlungen.
Maßstab: 3 Zentimeter (A-C); 1 Millimeter (D); 1 Zentimeter (F)
In der etwa 600 Meter tief ins Gestein hineinreichenden Höhle El Sidrón wurden 1994 in einem 28 Meter langen Seitenzweig zufällig menschliche Fossilien gefunden. Die 1323 Knochen und Knöchelchen ließen sich mindestens acht Neandertalern zuordnen: ein Kleinkind, ein Jugendlicher, zwei Heranwachsende sowie vier junge Erwachsene. Die C-14-Datierung ergab ein durchschnittliches Alter der Fossilien von 43 000 Jahren.

Auch hier zeugen Schnittspuren an den Knochen von grausigen Aktivitäten: Manche Schädel erscheinen gehäutet, Arm- und Beinknochen sind gewaltsam aus den Gelenken herausgebrochen worden. Einen Grund für dieses Schlachtfest erkennen die Forscher um Antonio Rosas vom Naturwissenschaftlichen Nationalmuseum in Madrid in den Zähnen – deuten sie doch auf gravierende Entwicklungsstörungen hin.

Meist zweimal, bei einem Individuum sogar mindestens viermal, stoppte das Wachstum der Zähne, was die Wissenschaftler als Hinweis auf erheblichen Nahrungsgmangel deuten. Die Krise trat in der Regel im vierten als auch im zwölften Lebensjahr auf – also nach der Entwöhnung sowie vor der Pubertät. Außerdem hatten die Neandertaler mit Zahnstein und Zahnfleischentzündungen zu kämpfen, und die Abnutzungsspuren an den Beißern zeugen allgemein von einem harten Brot.

Die Höhle von Krapina mag weniger als steinzeitlicher Schlacht-, sondern viel mehr als Kultplatz gedient haben. Vielleicht erwiesen hier die Menschen ihren Verstorbenen die letzte Ehre, indem sie deren Überreste verspeisten. Doch fast 100 000 Jahre später – und damit kurz vorm Ende des Neandertalers – führte in El Sidrón wohl ein simpleres Motiv zum Kannibalismus: die nackte Not.

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