Quantengravitation: Ein Hauch von Wurmloch
Mit einem Quantencomputer, so hieß es am 30. November 2022 in verschiedenen Medien, habe eine Forschungsgruppe in den USA ein Wurmloch erzeugt. Das war aber selbst für Schlagzeilen zu stark vereinfacht. In Wirklichkeit ist das, was in einem kalifornischen Labor passiert ist und an jenem Novembertag als Titelgeschichte des Fachjournals »Nature« publiziert wurde, ein gutes Stück komplizierter.
Wurmlöcher sind erst einmal ein rein theoretisches Konstrukt. Sie entstehen manchen Berechnungen zufolge aus Schwarzen Löchern und verknüpfen dabei weit voneinander entfernte Bereiche der Raumzeit miteinander. Deswegen spielen sie in Filmen und Literatur eine Rolle, wo sie sonst unerreichbare Distanzen im Weltraum überbrücken. Allerdings handelt es sich bei Wurmlöchern um hypothetische Objekte, die – im Gegensatz zu Schwarzen Löchern – bisher nirgends im Universum entdeckt wurden. Insbesondere sind sie noch in keinem Labor aufgetaucht.
Vielmehr ist das, was bei dem Experiment erfolgreich umgesetzt wurde, das Destillat einer Reihe von Abstraktionen: ein auf wenige Recheneinheiten eines Quantencomputers eingedampftes Versuchsprotokoll aus einer bereits vereinfachten Variante eines quantenmechanischen, um die Schwerkraft erleichterten Modells, das seinerseits zu einer um Gravitation bereicherten Raumzeit korrespondiert, die sich allerdings in einer anders dimensionierten und gekrümmten Art von Universum abspielt als dem uns vertrauten. Eine verwirrende Kaskade, die deutlich weniger nach Schlagzeile klingt, wissenschaftlich aber spannend bleibt. Denn dabei geht es um ebenso einflussreiche wie heiß umstrittene Konzepte auf der Suche nach einer Quantengravitation.
Ist das Universum ein Hologramm?
Im Mittelpunkt steht das so genannte holografische Prinzip. Es löst ein Dilemma bei der seit Langem und bisher vergeblich gesuchten Vereinigung zweier Ansätze: einerseits der Relativitätstheorie, die den Einfluss von Schwerkraft auf Raum und Zeit beschreibt und in deren Rahmen Schwarze Löcher entstehen, und andererseits der Quantenmechanik, die auf der Skala einzelner Teilchen stattfindet und bei der Gravitation keine Rolle spielt. Die Frage lautet, wie man auf die quantenmechanische Information eines Teilchens zugreifen kann, nachdem dieses in ein Schwarzes Loch gefallen ist.
Das holografische Prinzip liefert die Antwort. Laut ihm wird das eigentlich unzugängliche Innere des Schwarzen Lochs auf dessen Rand codiert. Man kann mathematische Beziehungen, eine so genannte Dualität, zwischen dem eingeschlossenen Volumen und seiner sichtbaren Oberfläche finden. Obendrein braucht man für die Beschreibung des Randbereichs nur eine Quantentheorie ohne Schwerkraft. Deswegen kann man nun zwischen einer Welt mit und einer ohne Gravitation beliebig hin und her rechnen. Manche spekulieren, vielleicht ließe sich sogar der Inhalt unseres gesamten Universums durch eine rein quantenmechanische Theorie beschreiben. Der Haken: Das holografische Prinzip gilt bloß für einen Raum, der nach anderen Regeln funktioniert als unser vertrautes Universum. Dennoch wird der Gedanke in der theoretischen Physik seit seiner Entwicklung in den 1990er Jahren intensiv diskutiert und weitergesponnen.
Ein entscheidender Vorstoß kam 2013 durch zwei Pioniere des Felds, die Theoretiker Juan Maldacena vom Institute for Advanced Study in Princeton und Leonard Susskind von der Stanford University. Sie betrachteten zwei verschränkte Teilchen – das heißt, ihre quantenmechanischen Zustände sind miteinander verbunden – und argumentierten, das sei äquivalent zu einer Verknüpfung beider durch ein Wurmloch. Auf Basis des holografischen Prinzips wäre so zu jeder Quantenverschränkung ein Wurmloch zu finden. Da Wurmlöcher Raum und Zeit verbiegen, könnte man mithin vielleicht sogar die gesamte Geometrie der Raumzeit auf mikroskopischer Ebene durch Verschränkungen konstruieren.
Durch die Wurmlöcher, um die es bei diesen radikalen Gedankengängen geht, könnte man allerdings nichts hindurchschicken wie bei einem cineastischen Abenteuer. Es handelt sich vielmehr um zusammengehörige Schwarze Löcher unter den speziellen Bedingungen des holografischen Modelluniversums, das völlig anders funktioniert als unseres. Dennoch versuchte sich der Theoretiker Daniel Jafferis von der Harvard University in Cambridge an einer Übertragung der Idee auf Wurmlöcher, die sich durchqueren lassen. Tatsächlich gelang ihm das 2016 gemeinsam mit zwei Kollegen.
Vom abstrakten Konzept zu praktischen Qubits
All das ist aber pure Theorie. Lassen sich die Gedanken auf etwas anwenden, mit dem man experimentieren kann, beispielsweise auf ein einfaches Quantensystem mit Teilchen in unserer realen Welt? Die Antwort greift auf eine Beschreibung von Quantenwechselwirkungen zurück, das schon in den 1990er Jahren von Subir Sachdev und Jinwu Ye konzipiert worden war, die damals beide an der Yale University in New Haven geforscht haben. Es macht die Wechselwirkungen vieler miteinander gekoppelter Teilchen berechenbar. Später kombinierte es Alexei Kitaev vom California Institute of Technology in Pasadena mit dem holografischen Prinzip.
Dieses nach seinen drei Entwicklern benannte SYK-Modell lieferte Jafferis handhabbare Grundlagen für ein Experiment mit einem Quantencomputer, dessen Informationseinheiten, die Qubits, mit Verschränkungen arbeiten. 2019 stellte er schließlich gemeinsam mit seinem Kollegen Ping Gao vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge in einem detaillierten »Teleportationsprotokoll« vor, wie man mit Qubits Informationen auf eine Weise verschicken könnte, die aus holografischer Sicht dem Durchqueren eines Wurmlochs entsprechen. Zwar einem, das getreu dem SYK-Modell nur eine Raumdimension besitzt, aber das ist dann auch nur noch eine weitere Vereinfachung unter vielen Annahmen, die bis hierhin nötig waren.
Bestimmte quantenmechanische Operationen an den beteiligten Teilchen im Quantencomputer lösen etwas aus, was aus Perspektive des eindimensionalen Wurmlochs wirkt, als wäre ein Impuls aus negativer Energie hineingeschossen worden. Negative Energie gibt es in der klassischen Physik zwar nicht, doch in der Quantenmechanik hat sie einen festen Platz, etwa wenn Teilchen aus dem Vakuum hervorgehen. Man kann sie als Zustand positiver Energie deuten, der sich in der Zeit rückwärtsbewegt. Sie ist das, was nötig ist, um ein Wurmloch offen zu halten und zu durchqueren. (Dass negative Energie nur auf solch winzigen Skalen eine Bedeutung hat, dürfte auch erklären, warum es keine Wurmlöcher gibt, durch die ein Raumschiff passt.)
Gemeinsam mit der Experimentalphysikerin Maria Spiropulu vom California Institute of Technology wollte Jafferis sein Teleportationsprotokoll nun auf den von Google entwickelten Quantencomputer-Prozessor namens Sycamore übertragen und testen, ob das Konzept in der Praxis funktioniert. Sycamore besteht aus lediglich 53 Qubits. Hingegen braucht das SYK-Modell und damit auch Jafferis' Protokoll für eine Lösung den Grenzfall unendlich vieler Teilchen. Die große Herausforderung bestand nun also darin, das Ganze auf nur wenige Qubits einzudampfen; dergestalt, dass dennoch seine holografischen Eigenschaften erhalten und messbar bleiben.
Pseudo-Wurmloch mit neun Qubits
Das gelang dem Team um Spiropulu und Jafferis, indem es mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk die wertvollsten unter den Qubit-Interaktionen herausfilterte. Der Algorithmus ließ gerade diejenigen übrig, die mindestens nötig sind, um noch die Kernmerkmale einer erfolgreichen Teleportation hervorzurufen. Tatsächlich identifizierte das neuronale Netz den einfachsten für das Protokoll erforderlichen Schaltkreis. Er besteht aus lediglich neun Qubits. Sieben davon simulieren Teilchen, die auf den beiden Seiten des Systems miteinander verschränkt sind. Auf der einen Seite bringt man ein zusätzliches, achtes Qubit ein. Durch Wechselwirkungen verteilt sich die Information über seinen Zustand unter den Nachbarn. Darauf folgt die Manipulation, die holografisch einem Impuls aus negativer Energie entspricht. Das entmischt die Zustände und fischt das eingeschleuste Qubit wieder heraus. Das neunte Qubit dient als Referenz, um zu überprüfen, ob die ursprüngliche Information wirklich wieder in das Qubit übergegangen ist. Sorgfältige Messungen und Auswertungen der Forschungsgruppe zeigten: Das Experiment ist geglückt! Aus holografischer Sicht hat eine Teleportation auf die andere Seite des Wurmlochs stattgefunden.
Nun können herkömmliche Computer längst das Verhalten dutzender Qubits nachstellen. Da davon nur neun verwendet wurden, wäre für das Ganze also nicht unbedingt ein Quantenrechner nötig. Wir befinden uns ohnehin schon am Ende einer Kette aus Modellen, die jeweils nur stellvertretend für etwas entfernt Ähnliches stehen. So wäre ein weiterer Abstraktionsschritt kaum verheerend. Ohnehin musste man auf der Suche nach einer reduzierten, mit echten Qubits durchführbaren Variante mittels eines künstlichen neuronalen Netzes die Daten dafür vorab klassisch erzeugen. Doch wenn man sowieso Kontakt zu den Google-Laboren hat, kann man sich zumindest diesen einen Umweg sparen und dort die Verschränkung direkt nutzen, statt sie vorzutäuschen. Außerdem hilft es bei der Vermarktung, schließlich ziehen die trendigen Quantencomputer mehr Aufmerksamkeit und Forschungsgelder auf sich als konventionelle Rechner.
Diese Arbeit ermöglicht allerdings noch kein besseres Verständnis davon, ob und wie unsere gewohnte Raumzeit aus Quantenverschränkungen hervorgeht, geschweige denn Aussagen über die Existenz von Wurmlöchern im Universum. Der wissenschaftliche Wert liegt vielmehr in einem genaueren Blick auf vereinfachte Modelle, bei denen es solche Dualitäten gibt, und in deren Umsetzung in einem Labor. Wurmlöcher sind immer noch nicht real, aber vielleicht bringt eine darauf aufbauende Untersuchung wirklich einmal eine entscheidende Einsicht beim Jahrzehnte andauernden Versuch, zwischen verschiedenen Welten mit und ohne Gravitation hin und her zu reisen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.