Odysseus: Ein Held fürs postfaktische Zeitalter
Sprache wandelt sich. Und mit ihr die Bedeutung der Wörter. Das klingt trivial, aber genau das beschäftigt Philologen immer wieder aufs Neue – die Klassiker der Dichtkunst und Literaturgeschichte in die Sprache der eigenen Zeit zu übertragen. Der Literaturnobelpreisträger T. S. Eliot hat die Sache auf den Punkt gebracht. Er schrieb: »Jede Generation muss die großen Werke selbst übersetzen.« Kaum ein Werk führt Eliots Beobachtung besser vor Augen als Homers »Odyssee«. Seit das Epos erstmals im frühen 17. Jahrhundert ins Englische und 1781 durch Johann Heinrich Voß ins Deutsche übertragen wurde, sind dutzende Übersetzungen in beiden Sprachen erschienen. Jede Version ist geprägt von der Gefühlswelt, den Worten und Werten jener Zeit, in der das Epos übersetzt wurde. Kurzum: Jede Generation bekommt die »Odyssee«, die zu ihr passt.
Unweigerlich bekommt so jede Generation auch den Odysseus, der zu ihr passt. Dabei ist der antike griechische Held so komplex und vielschichtig angelegt, dass ihn sogar ein einziger Dichter unterschiedlich auffassen kann. Der antike Tragödiendichter Sophokles (497-406 v. Chr.) schilderte Odysseus in einem seiner Stücke als ein Vorbild für Beherrschung und Toleranz, in einem anderen aber als windigen, ja sogar regelrecht schmierigen Charakter. 2000 Jahre später war Dante Alighieri (1265-1321) ähnlich hin- und hergerissen. Er schickte Odysseus in einen der innersten Höllenzirkel seines »Inferno«, weil sich der Grieche durch seine Lügen versündigt hatte. Doch zugleich lobte Dante ihn für seine Tugenden, für seine Neugier und seine Fähigkeit, zu staunen.
Vielleicht geht es den Leserinnen und Lesern des 21. Jahrhunderts ähnlich wie Sophokles und Dante. Die Altphilologin Emily Wilson von der University of Pennsylvania jedenfalls übertrug in ihrer hoch gelobten Übersetzung von 2017 gleich die erste Zeile des Epos anders als ihre Vorgänger: Homer bittet zu Beginn die Muse, den Mann zu besingen, dessen Charakter »polytropos« sei. Wilson folgt nun nicht der traditionellen Übertragung dieses Adjektivs, das bisher mit »viel gewanderter«, »wendiger« oder »wandlungsreicher« übersetzt wurde. Sie bezeichnet Odysseus als »schwierigen Menschen«. Mit dieser schlichten Neuformulierung ändert sich unser erster Eindruck vom König von Ithaka. Aus Odysseus wird ein Antiheld, ein Mann, dessen Gesinnung auffallend unmoralisch ist, wie wir sehen werden – ein Mann, der täuscht, sich verstellt und betrügt. Dieser Odysseus passt gut in unsere postfaktische Zeit, eine Ära jenseits der Wahrheit und des guten Anstands.
Was Homer wirklich meint
Dem Anfang jeder Geschichte wohnt auch ihr Ende inne. In diesem Fall bedeutet »Ende« nicht nur Endgültigkeit – also wie die Erzählung abschließt –, sondern es geht auch um deren Funktion oder die Frage, warum eine Erzählung überhaupt bedeutsam ist. Die Übersetzung der »Odyssee« von Robert Fagles aus dem Jahr 1996 beginnt so: »Sing mir von dem Mann, Muse, dem viel sich wendenden Mann / der immer wieder von seinem Kurs abgebracht wurde.« Dieser Mann brandschatzte Troja, erduldete großes Leid und trieb schwermütig auf dem Meer – er kämpfte, um seine Männer nach Hause zu bringen. »Aber er konnte sie nicht vor dem Untergang retten, so sehr er sich auch mühte / der Leichtsinn ihrer eigenen Wege zerstörte sie alle«, heißt es bei Homer.
Was wie eine klare Skizzierung des Handlungsstrangs klingt, offenbart in Wirklichkeit eine verblüffende Vielschichtigkeit und liefert vielleicht das erste Beispiel für einen unsteten Erzähler in der westlichen Literatur. Denn der Leser erahnt erst bei der Hälfte des Epos, was der Einstieg wirklich bedeutet. An dieser Stelle lesen wir nämlich von einem verzweifelten Odysseus, der auf die Insel der Phäaken im Ionischen Meer gespült wird. Der Gestrandete erzählt den Rettern seine Version der Irrfahrt. Der schillernde Bericht handelt von sexbesessenen Göttinnen und von drogenvernebelten Menschen, geisterhaften Schatten toter Krieger und grässlichen Kreaturen mit einer Schwäche für Menschenfleisch. Doch auf dem Weg zur Insel der Phäaken sei auch etwas Merkwürdiges geschehen – es waren Fehler unterlaufen. Mit wachsendem Grauen wird uns bewusst, dass diese Fehler nicht der Crew unterliefen, sondern, wie uns Homer berichtet, Odysseus.
Gesetzlos, wild, frei
Bis zu dieser Stelle im Epos hatte der König von Ithaka eine Reihe von Prüfungen unbeschadet überstanden und war schließlich auch von der »Last« seiner Männer »befreit« worden. Als Erstes war er ins Land der Zyklopen gelangt. Homer erklärt, dass Odysseus die Bewohner des Landes für Gesetzlose und Wilde hält, weil sie abgeschieden voneinander leben. Odysseus verrät aber auch, dass die Zyklopen deshalb Gesetzlose seien, weil sie keine Gesetze bräuchten. Statt ein kurzes und wildes Leben im Krieg aller gegen alle zu führen, würden sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und in herrlicher Abgeschiedenheit leben.
Odysseus berichtet, er habe sich in die Höhle des Zyklopen geschlichen und ein Geschenk von dem Riesen verlangt. Der Zyklop – ein Hirte, der bisher ungestört seinen täglichen Arbeiten nachging – erwidert die Forderung, indem er eine Hand voll von Odysseus' Gefährten als menschliches Sushi verzehrt. Die Tat ist grässlich, aber verständlich. Es drängt sich nämlich folgender Schluss auf, der im Epos selbst unausgesprochen bleibt: Zwar leben die Zyklopen ohne Gesetze, aber offenbar brauchen wir Gesetze, damit wir uns vor Menschen schützen können, die in unsere Häuser einbrechen und unser Hab und Gut beanspruchen.
Dann ist da der Besuch auf der Insel des Königs Aiolos, der Odysseus einen Balg gefüllt mit günstigen Winden überlässt, damit der König von Ithaka rascher nach Hause zurückzukehren kann. Odysseus erzählt seinen Männern aber nicht, was sich in der Tierhaut befindet. Noch dazu besteht er darauf, so lange das Ruder zu übernehmen, bis die Schiffe die Heimat erreicht haben. Wie zu erwarten war, schläft unser Held infolge seiner leichtsinnigen Entscheidung erschöpft am zehnten Tag ein. Ein guter Anführer hätte aber gewusst, dass seine Crew von ihm abhängig ist – und er hätte gewusst, dass er sich auf seine Männer verlassen muss. Wie ebenfalls zu erwarten war, hat das selbstsüchtige Verhalten von Odysseus Konsequenzen: Seine Gefährten wähnen, dass der Lederschlauch Schätze enthält, die ihr König für sich behalten will. Sie reißen den Schlauch auf, die Winde stürmen heraus, und die Schiffe werden über das Meer getrieben bis an die Stelle, wo ihre Fahrt zehn Tage zuvor begonnen hatte.
Odysseus schickt die Gefährten in den Tod
Der verzweifelte Odysseus und seine Männer versuchen sich zu orientieren und erreichen das Land der Laistrygonen. Elf der Schiffe fahren in eine Bucht ein, die von hohen Klippen umgeben ist. Das zwölfte Schiff ankert vor der Bucht. Es überrascht kaum, dass Odysseus ebendieses Schiff befehligt. Er erklärt seine Entscheidung nicht, aber er muss es auch nicht: Solche Buchten entlang der Mittelmeerküste werden zu tödlichen Fallen, wenn sie von feindlich gesinnten Truppen kontrolliert werden. Als seine Männer von Bord gehen, werden sie wenig später von den Laistrygonen angegriffen, die sie wie Fische aufspießen und fressen. Odysseus schneidet wie wild den Anker los und entkommt mit seiner Schiffsmannschaft. Er lässt einen blutroten Fleck auf dem Meer zurück.
Das letzte verbliebene Schiff erreicht die Insel des Sonnengotts Helios. Obwohl Odysseus häufiger gewarnt wurde, die heiligen Kühe der Insel nicht zu essen, gibt er die Warnung nicht an seine Gefährten weiter. Die stehen vor der schweren Wahl, zu verhungern oder zu überleben. Da wundert es nicht, dass sich seine Gefährten für Letzteres entscheiden. Als Folge ihres Handelns beschwört Zeus einen Sturm herauf, als die Männer die Insel verlassen wollen. Die Gefährten ertrinken – wenn auch mit vollen Bäuchen. Odysseus klammert sich an eine Planke des zerstörten Schiffs und wird schließlich an die Insel der Phäaken gespült. Es ist zwar tragisch, dass jetzt nur noch er seine Geschichte erzählen kann, aber ihm kommt es vermutlich gelegen.
Echte »Phäake News«
Wie konnte es so weit kommen? Für eine Antwort muss man nicht das Orakel von Delphi befragen: Odysseus hat wiederholt die Lage falsch eingeschätzt und Fehler begangen. Die interessantere Frage lautet aber: Wie stellt Homer die Sache dar? Es überrascht kaum, dass Odysseus – nennen wir es – »Phäake News« verbreitet. Wenn er die Verantwortung für die grausamen Geschehnisse nicht gerade auf die abwälzt, die er selbst provoziert hat, wie zum Beispiel den Zyklopen, schiebt er sie seinen toten Gefährten in die Schuhe. Sie seien, so meint er beharrlich, ihm gegenüber aufsässig geworden oder hätten sich in seiner Abwesenheit leichtsinnig verhalten.
Kurzum: Odysseus lügt. Und wenn er einmal nicht seine Gefährten belügt, belügt er tote Männer. So erzählt er dem Schatten des toten Achill, dass sein Sohn Neoptolemos vor Troja Heldentaten vollbracht hat. Er unterlässt es aber, zu erwähnen, dass Neoptolemos auch Frauen niedergemetzelt und Säuglinge von den Mauern Trojas geschleudert hat. Odysseus belügt sogar die Götter: Als er auf Athene trifft, die sich als Hirte verkleidet hat, erkennt er sie nicht. Unser raffinierter Held erfindet eine Geschichte und erzählt, dass er von Kreta stamme und auf der Flucht vor der örtlichen Justiz sei. Die ihrerseits raffinierte Göttin kann da nur noch leise lachen.
Doch zu guter Letzt stellen wir fest: Am Ende seiner Reise ist er noch fähig, die Wahrheit anzuerkennen –wenn sie ihn mit der flachen Seite der Klinge trifft. Als er wieder mit seiner Frau Penelope vereint ist, ist sie unsicher, ob Odysseus wirklich derjenige ist, der er vorgibt zu sein. Also prüft sie ihn. Penelope erzählt ihm, dass ihr gemeinsames Ehebett, das Odysseus einst aus einem einzigen Olivenbaum geschnitzt hatte, verschoben wurde. Der Herr von Ithaka ist außer sich – nur ein Gott, platzt es aus ihm heraus, könne ein solches Bett bewegen. Penelope und auch der Leser sind erleichtert, dass Odysseus ihre Prüfung besteht. Das erinnert uns daran, dass uns die Wahrheit zwar nicht immer frei macht, aber dennoch eine notwendige Voraussetzung für die Freiheit ist.
Homer stellt uns eine Falle
In der Übersetzung von Robert Fagles ruft Homer zu Beginn der Odyssee die Muse an, sie solle die Geschichte von Odysseus besingen – und die Muse solle sie »auch für unsere Zeit besingen«. Dass sich das homerische Gedicht auch für unsere Zeit eignet, liegt daran, dass uns der Dichter subtil irreführt: Indem er den Gefährten die Schuld für ihren Tod zuschiebt, stellt Homer seinem Publikum eine Falle. Im Lauf des Epos finden wir nämlich heraus, dass die Schuld bei jemand anderem liegt. Damit zwingt uns Homer, Odysseus' Status als Held zu überdenken. Ist wirklich der ein Held, der durch seinen Leichtsinn und seine Gier das Leben seiner Männer gefährdet? Einer, der sich seinen Wissensvorsprung so zurechtlegt, dass er andere davon überzeugen kann, das zu tun, was sie nicht tun sollten? Ein Mann, der so sehr lügt, dass er riskiert, Fakt von Fiktion und Wahrheit von Lügen nicht mehr unterscheiden zu können?
Diese Fragen sind komplexer, als es erscheint. In seinem 2005 erschienen Bestseller »Bullshit« unterscheidet der US-Philosoph Harry Frankfurt zwischen Lügen und Bullshit (zu Deutsch etwa: Bockmist). Ein Lügner täuscht bewusst, er verstellt sich wissentlich, und er stellt absichtlich die Unwahrheit dar. Er kennt aber den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fakt und Fiktion. Und zumindest indirekt ist ihm der Unterschied auch wichtig.
Jemand, der Bockmist erzählt, hat hingegen entweder keine Ahnung von der Wahrheit, oder sie ist ihm gleichgültig. Ihn interessiert nur, die Meinungen und Taten seiner Zuhörer zu beeinflussen. Er ist gefährlicher als der Lügner – aus einem einfachen Grund: Er ignoriert, dass letztlich nur die Wahrheit zählt. In seiner Welt des Bockmists wird die Wahrheit jedoch bedeutungslos.
Dante hat das Buch von Harry Frankfurt natürlich nicht gelesen. Hätte er, dann hätte er vielleicht einen zehnten, tiefsten Höllenzirkel geschaffen – für diejenigen, die nur Blödsinn von sich geben. Denn wer könnte die Wahrheit mehr vergiften als einer, der nicht fähig ist, sie anzuerkennen? Homer hat Frankfurt freilich auch nicht gelesen, aber er hat vorhergesehen, welche Probleme entstehen, wenn jemand Bockmist erzählt.
Homer stellt uns einen Helden vor, der zwar absichtlich gegen alles Mögliche verstößt, doch die letzte, die verhängnisvolle Grenze nicht überschreitet. So wie es sich mit dem Bett verhält, das Odysseus aus einem Olivenbaum gefertigt hat, so verhält es sich auch mit der Wahrheit: Sie verwurzelt uns und gibt uns Halt. Eine Welt, in der die Wahrheit entwurzelt wird, ist schrecklicher als ein Meer voller Ungeheuer vom Schlag einer Charybdis und einer Scylla. Kaum zu einer anderen Zeit spiegelt die fast 3000 Jahre alte »Odyssee« die eigene Gegenwart so klar wider wie heute.
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