Kollektive Anregungen: Ein Higgs im Kondensat
Herr Professor Bloch, kurz nachdem am Teilchenbeschleunigerzentrum CERN in Genf verkündet wurde, dass man am Large Hadron Collider (LHC) ein Teilchen gefunden hätte, welches das viel gesuchte Higgs-Boson sein könnte, hat Ihre Arbeitsgruppe ebenfalls gemeldet, dass sie eine so genannte Higgs-Anregung gemessen habe – diesmal aber in einer Wolke aus ultrakalten Rubidiumatomen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Immanuel Bloch: Wichtig ist vielleicht zu wissen, dass der so genannte Higgs-Formalismus zunächst für die Festkörperphysik entwickelt wurde. Ein amerikanischer Kollege namens Philip W. Anderson hat in den frühen 1960er Jahren bereits die Grundideen dazu formuliert. Die Theorie war damals aber noch nicht relativistisch, genügte also gewissen Wellengleichungen noch nicht. Das haben Francois Englert, Robert Brout, Peter Higgs und andere Kollegen kurze Zeit später übernommen. Sie haben den Formalismus auf die relativistischen Feldtheorien der Teilchenphysik übertragen.
Worin besteht der Unterschied?
Man muss deutlich sagen, dass das Higgs-Boson vom LHC natürlich ein ganz anderes Teilchen ist als jenes, das wir untersucht haben. Beide Phänomene sind sich jedoch sehr ähnlich. Beide entspringen kollektiven Anregungen. Eine solche Anregung spielt beispielsweise eine Schlüsselrolle im Standardmodell der Elementarteilchenphysik, wo sie dann auch als Higgs-Teilchen bezeichnet wird. In festkörperähnlichen Systemen können aber ebenfalls so genannte Higgs-Anregungen entstehen, wenn die kollektive Bewegung der Teilchen einem Gesetz folgt, das der Relativitätstheorie ähnelt. In der Teilchenphysik sind die Bosonen die Folge eines bislang nur vermuteten Hintergrundfelds; in unseren Experimenten entstammen sie dagegen einer supraleitenden Flüssigkeit, einem so genannten Bose-Einstein-Kondensat, das sich in der Nähe des absoluten Temperaturnullpunkts befindet. Dennoch gehorchen in beiden Fällen die Systeme ähnlichen relativistischen Wellengleichungen, wenngleich in unseren Formeln nicht die Lichtgeschwindigkeit auftaucht, sondern eine viel geringere Schallgeschwindigkeit. Letztendlich ist das aber nur eine Zahl im Formalismus. Und wie in der Teilchenphysik zerfallen auch die Higgs-Anregungen in Festkörpern meist sehr schnell. Die Leser haben ja schon viel von kollektiven Anregungen in Festkörpern gelesen: von Gitterschwingungen, die sich als so genannte Phononen beschreiben lassen, von Schwingungen der Elektronen in einem Metall zum Beispiel, die sich als Plasmonen beschreiben lassen. Sind das dann alles Higgs-Teilchen?
Nein! Diese Phänomene unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten. Sie sind nichtrelativistisch, und Erstere sind einfache Schallwellen. Higgsartige Anregungen hat man zum Beispiel aber bereits in magnetischen Festkörpersystemen in der Nähe des absoluten Temperaturnullpunkts beobachten können. Dort hat man die Stärke der magnetischen Ordnung aus kleinsten atomaren Magnetnadeln wellenartig moduliert. In der Nähe eines Quantenphasenübergangs am absoluten Temperaturnullpunkt zeigen auch diese kollektiven Anregungen ein effektiv relativistisches Verhalten. Nun haben wir gezeigt, dass es entsprechende Anregungen auch in zweidimensionalen Systemen gibt. Das war bislang umstritten.
Dann haben Sie Ihre Wolke aus Rubidiumatomen sozusagen flach "ausgewalzt"? Wie hat man sich das vorzustellen?
Dazu haben wir die Rubidiumatome erst einmal auf Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunkts gekühlt. Wenn man das vorsichtig macht, entsteht dieser besondere quantenmechanische Zustand, den wir Bose-Einstein-Kondensat nennen. So ein Gebilde lässt sich als ein einziges, großes quantenmechanisches System beschreiben und ist suprafluid – es besitzt also keinerlei innere Reibung. Wirbel würden darin auf ewig kreisen. Mit gekreuzten Laserstrahlen erzeugten wir dann eine schachbrettartige Anordnung aus hellen und dunklen Gebieten. Sind die Kontraste in diesem Lichtfeld stark ausgeprägt, ordnen sich die Rubidiumatome entsprechend der Periode des Lichts an: Auf jedem Platz des schachbrettartigen Musters befindet sich dann genau ein Atom und ist dort fixiert. Diesen Zustand nennen wir "Mott-Isolator" – also ein Material, das eigentlich elektrisch leiten sollte, sich aber unter bestimmten Bedingungen wie ein Isolator verhält.
Wie kamen Sie dann zu "Ihrem" Higgs-Teilchen?
Um unsere higgsähnlichen Teilchen zu erzeugen, fahren wir das System nun von der suprafluiden Phase kommend ganz nahe an den kritischen Punkt, bei dem es zu diesen Phasenübergang, zum so genannten Mott-Isolator, kommt. Nur dort gehorcht die Dynamik des superfluiden Felds den speziellen Gesetzen einer effektiven Relativitätstheorie. Schließlich haben wir das System zum Schwingen angeregt, ohne es zu stark zu stören. Das machen wir, indem wir die Intensität des Lichtgitters modulieren, das schachbrettartige Muster also rasch periodisch heller oder dunkler werden lassen. Das führt zu Schwankungen des suprafluiden Anteils des Bose-Einstein-Kondensats. Dabei bleibt dessen Dichte aber konstant. Wir erzeugen also keine Schallwellen, sondern eine reine Modulation im superfluiden Anteil des Gesamtsystems.
Die Modulation des Lichtgitters bedeutet gleichzeitig eine Energiezufuhr. Dadurch erhitzen sich die Rubidiumatome ganz leicht, was wir messen können. Dabei fanden wir Resonanzen. Das Bose-Einstein-Kondensat nahm bei gewissen Modulationsfrequenzen also mehr Energie auf als bei anderen. In Analogie zu Albert Einsteins berühmter Formel E = mc2 sind diese Resonanzenergien mit einer effektiven Masse eines higgsähnlichen Teilchens in unserem System verknüpft. Die Lichtgeschwindigkeit c ist dabei einfach durch die Schallgeschwindigkeit ersetzt. Wir konnten zwar keine einzelnen Teilchen messen. Dazu ist unsere Methode noch nicht fein genug. Aber die Resonanzkurven entsprechen genau dem, was wir von Higgs-Anregungen erwarten: Je näher wir an den Phasenübergang zwischen dem Bose-Einstein-Kondensat und dem Mott-Isolator rücken, desto geringer wird die Masse der effektiven Higgs-Teilchen – ein eindeutiges Indiz für die besondere Anregung in unserem System.
Dann konkretisiere ich meine Ausgangsfrage einmal: Können Teilchenphysiker etwas von Ihrer Forschung lernen?
Ich glaube sehr, dass sich die Forschung gegenseitig stark befruchten kann. Wie gesagt, die Idee zu den so genannten Higgs-Anregungen und dem Higgs-Mechanismus kam ja ursprünglich aus der Festkörperphysik. Umgekehrt werden in der Teilchenphysik nun viele Methoden entwickelt, um die dazugehörigen Feldgleichungen zu lösen. Das hilft uns wiederum, das Verhalten der Systeme bei niedrigsten Energien zu verstehen. Bemerkenswert ist, dass die Phänomene über viele Energieskalen hinweg sehr ähnlich sind. Wir arbeiten im Mikrokelvin-Bereich, während die Teilchenphysiker mit Energien von Teraelektronvolt arbeiten, was ungefähr 1016 Kelvin entspricht [Anm. d. Red.: Das sind etwa zehn Billiarden Kelvin]. Dazwischen liegen über 20 Größenordnungen! Die niedrigeren Energien, bei denen wir messen, haben aber den Vorteil, dass wir diese Anregung relativ lange beobachten können, während sie in der Teilchenphysik nahezu sofort wieder verschwindet.
Ich vergleiche das gern mit der Turbulenzforschung: Wenn Sie etwas über Tornados lernen wollen, können Sie sich entweder in die freie Natur begeben und dort auf ein heftiges Gewitter warten. Oder Sie machen gezielte Versuche mit kleineren Wirbeln in einem Labor. Auch dann sehe ich über ganz unterschiedliche Energieskalen hinweg ein typisches Verhalten, das ähnlichen Gleichungen gehorcht. Die Physik ist oft stärker verbunden, als man zunächst auf dem ersten Blick vermuten mag.
Erlauben Sie mir zum Schluss eine vielleicht etwas versponnen klingende Frage: In Ihrem Experiment repräsentiert das Bose-Einstein-Kondensat ja sozusagen das "Universum". Kann man daraus umgekehrt schließen, dass sich das Universum wie ein kollektiver Quantenzustand verhält?
Viele Leute glauben tatsächlich, dass im Universum ein Bose-Einstein-Kondensat des Higgs-Felds vorliegt und dass die Higgs-Bosonen Anregungen dieses Kondensats sind.
Herr Bloch, vielen Dank für das Gespräch.
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