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Kosmologie: Ein kosmisches Periodensystem

In diesem Jahr feiert das Hertzsprung-Russell-Diagramm sein hundertjähriges Jubiläum - es ist immer noch eines der wichtigsten Werkzeuge der stellaren Astrophysik.
Sternenwehen in Galaxie NGC 1569
Die moderne Astronomie zeichnet ein lebhaftes Bild des Universums – geboren in einem kataklysmischen Urknall und gefüllt mit exotischen Sternen von gigantischen roten Überriesen mit der Größe ganzer Planetensysteme bis zu hyperdichten Weißen Zwergen und Schwarzen Löchern, die kleiner als die Erde ausfallen. All diese Entdeckungen sind umso bemerkenswerter, als die Astronomen ihre Schlüsse noch aus den schwächsten Lichtschimmern ziehen müssen, die mitunter nur aus einer Hand voll Photonen bestehen. Einer der Schlüssel zu diesen Erfolgen ist ein Diagramm, das zwei Astronomen vor 100 Jahren eingeführt haben.

Das nach Henry Norris Russell und Ejnar Hertzsprung benannte Hertzsprung-Russell-Diagramm – kurz H-R-Diagramm – ist eigentlich recht simpel. Die Astronomen tragen in ihm zwei grundlegende Eigenschaften der Sterne gegeneinander auf: ihre Leuchtkraft (also ihre wahre Helligkeit) und ihre Oberflächentemperatur (die sich aus ihrer Farbe ergibt). Das Diagramm hat damit für die Sternenastronomie eine ähnliche Bedeutung wie das Periodensystem für die Chemie: Das Periodensystem fasst chemisch ähnliche Elemente zu Gruppen zusammen, weshalb zum Beispiel die Edelgase in einer Spalte stehen – das H-R-Diagramm praktiziert dies für Sterne ähnlicher Entwicklungsstufe.

Als die Astronomen das Diagramm erfanden, wussten sie allerdings noch nicht einmal, warum Sterne überhaupt leuchten. Niemand ahnte, wie Sterne geboren werden oder wie sie sterben. Es war nicht einmal klar, ob die Sonne nicht einfach explodieren könnte. Und niemand hatte eine Ahnung davon, dass Sterne die meisten Elemente produziert haben, aus denen die Erde und unsere menschlichen Körper bestehen.

Überrest einer Supernova | 1006 n. Chr. leuchtete ein neuer Stern am Erdhimmel auf: die Überreste der Supernova SN 1006 im Sternbild Wolf. Sie war womöglich die hellste Supernova, von der die Menschen bisher Notiz nahmen. Mit Hilfe von derartigen Sterndaten berechneten die drei Laureaten des Jahres 2011 die Expansionsgeschwindigkeit des Universums.
Das Diagramm spielte nicht nur eine große Rolle dabei, all diese Probleme zu lösen, es leitet die Astronomen noch heute, wenn sie wichtige Fragen über die Sterne zu beantworten suchen. Wie groß kann die Masse eines Sterns werden? Was waren die ersten Sterne nach dem Urknall? Wann erleben wir die nächste Supernova in der Milchstraße?

Eine Reise durch das stellare Bestiarium

"Niemand konnte sich vorstellen, dass ich Astronom werde", sagte der dänische Wissenschaftler Ejnar Hertzsprung. Und als er 20 Jahre alt war, verkaufte seine Familie sogar die Astronomiebücher seines verstorbenen Vaters. Doch Hertzsprung war beharrlich: 1908 zeichnete er sein erstes Leuchtkraft-Farbe-Diagramm eines Sternhaufens. Der deutsche Astronom Hans Rosenberg, der vermutlich Hertzsprungs Arbeit kannte, veröffentlichte 1910 eine ähnliche Abbildung – gefolgt wiederum von Hertzsprung selbst, der 1911 nachzog, damals aber in Fachkreisen noch völlig unbekannt war. Im Gegensatz dazu war Henry Norris Russell bereits einer der führenden amerikanischen Astronomen. 1913 zeichnete er – ohne Kenntnis von Hertzsprungs Arbeiten zu haben – sein eigenes Diagramm. Auf Grund von Russells Prestige bezeichneten die Astronomen die Darstellung zunächst als Russell-, dann als Russell-Hertzsprung- und erst später – in historisch korrekter Reihenfolge – als Hertzsprung-Russell-Diagramm.

Junger Weißer Zwerg | Weiße Zwerge sind Sternenleichen. Sie sind nicht mehr in der Lage, Energie zu produzieren, und gerade eben so groß wie die Erde. Trotz ihres Namens kommen sie in unterschiedlichen Farben vor. Mit der Zeit wandert ein Weißer Zwerg im H-R-Diagramm nach rechts – bis er kaum noch zu sehen ist.
Beim Eintragen von Sternen in das Diagramm stießen die Astronomen auf deutliche Muster. Die meisten Sterne, einschließlich der Sonne, liegen auf einer diagonalen Linie, die sich von oben links (helle und heiße Sterne) nach unten rechts (leuchtschwache, kühle Sterne) erstreckt. Diese Diagonale, von den Astronomen Hauptreihe genannt, ist eine überraschende Offenbarung, denn sie verbindet Sterne miteinander, die eigentlich ganz gegensätzlich sind. Jeder Hauptreihenstern erzeugt seine Strahlung auf die gleiche Weise: Kernreaktionen verwandeln in der Zentralregion des Sterns Wasserstoff in Helium. Je mehr Masse ein Hauptreihenstern besitzt, desto heißer wird es in seinem Zentrum und desto schneller laufen dort die Kernreaktionen ab, deshalb ist der Stern heller und heißer. Die Hauptreihe ist deshalb tatsächlich eine Massenreihe.

Eine weitere Ansammlung von Sternen findet sich rechts oberhalb der Hauptreihe: Die Sterne dort leuchten heller als Hauptreihensterne derselben Temperatur und Farbe. Und die meisten von ihnen sind zudem kühler als die Sonne. Auf den ersten Blick sieht das wie ein Widerspruch aus: Je kühler ein Stern ist, desto weniger Licht strahlt jeder Quadratzentimeter seiner Oberfläche ab. Wie kann also ein kühler roter Stern 100 oder gar 10 000 Mal heller leuchten als die Sonne? Die Antwort: Die Sterne müssen enorm groß sein – deshalb sprechen die Astronomen auch von Riesen und Überriesen. Wenn Hauptreihensterne den Wasserstoffvorrat in ihrem Zentrum verbraucht haben, blähen sie sich zu Riesen oder Überriesen auf. Überriesen explodieren schließlich als Supernovae, Riesensterne verlassen die Bühne hingegen ohne einen solchen Knalleffekt.

H-R-Diagramm | Die Farbe eines Sterns ist ein Maß für die Temperatur seiner Oberfläche, von einem lauwarmen Rot (ganz rechts) bis zu einem brodelnd heißen Blau (ganz links). Die Astronomen teilen die Sterne in sieben Haupt-Spektralklassen ein, die darauf basieren, welche chemischen Elemente in ihren Außenschichten Licht absorbieren, was wiederum von der Temperatur abhängt: O, B, A , F, G, K und M. Der bekannte Merkspruch dafür lautet: "Oh, be a fine girl/guy, kiss me!"
Tatsächlich zeigt das H-R-Diagramm auch das Schicksal der Riesen. Es enthält eine Gruppe von Sternen, die eine weitere diagonale Linie unterhalb der Hauptreihe bildet: Die Sterne dort leuchten bei gleicher Temperatur und Farbe schwächer als Hauptreihensterne – diese Sterne müssen also winzig klein sein und heißen Weiße Zwerge. Unabhängig von ihrem Namen überspannen sie einen weiten Bereich von Farben, denn Weiße Zwerge sind die dichten und extrem heißen Kerne, die zurückbleiben, wenn Riesensterne ihre äußeren Hüllen abstoßen. Da in ihnen keine weiteren nuklearen Reaktionen ablaufen können, kühlen sie üblicherweise ab und werden dabei immer leuchtschwächer. Wenn ein Weißer Zwerg Teil eines Doppelsternsystems ist, dann kann er allerdings Materie von seinem Partnerstern aufnehmen, irgendwann eine kritische Masse erreichen und als Supernova explodieren.

Die charakteristischen und universellen Muster des H-R-Diagramms verraten sogar stellare Eigenschaften, die das Einordungsschema nicht direkt wiedergibt. So können die Astronomen beispielsweise das Alter eines Sternhaufens aus seinem H-R-Diagramm ablesen. Beim Sternhaufen der Plejaden etwa reicht die Hauptreihe bis zu hellen blauen Sternen, während solche Sterne auf der Hauptreihe der Hyaden fehlen. Daraus folgt, dass die Hyaden älter sein müssen: Die hellen blauen Sterne haben dort bereits die Hauptreihe verlassen.

Groß, hell und explosiv

Das H-R-Diagramm ist auch heute noch ein wichtiges Werkzeug für die Astronomen. Ein Großteil der heutigen Forschung im Bereich der Stellarastronomie kann als Untersuchung der Extreme in dem Diagramm angesehen werden. Rechts unten sind die leuchtschwächsten, masseärmsten Sterne. Die Hauptreihe endet bei schwachen roten Sternen mit etwa acht Prozent der Sonnenmasse. Darunter liegt der Bereich der Braunen Zwerge – Sterne, die zu leichtgewichtig sind, um dauerhaft eine nukleare Fusion zu unterhalten. Ihre Eigenschaften und ihre Entstehung sind für die Astronomen immer noch rätselhaft [siehe auch "Der geheimnisvolle Ursprung der Braunen Zwerge" von Ray Jayawardhana und Subhanjoy Mohanty, Spektrum der Wissenschaft 5/2006, S. 42].

Links oben, am anderen Ende der Hauptreihe, liegt die Heimat der hellsten, heißesten und massereichsten Sterne. Aber wie groß kann die Masse eines Sterns maximal sein? Heiße Sterne sind zwar gut zu sehen, aber nur schwer zu untersuchen, weil sie sehr selten sind. Es werden nur wenige geboren und diese wenigen verbrauchen ihren Brennstoff so schnell, dass sie schon wenige Millionen Jahre nach ihrer Geburt explodieren. Untersuchungen junger Sternhaufen deuten darauf hin, dass die maximale Masse von Sternen etwa beim 150-Fachen der Sonnenmasse liegt.

Sternengeburten in Galaxie NGC 1569 | In der Zwerggalaxie NGC 1569 begann vor 25 Millionen Jahren ein heftiger Reigen an Sternengeburten. Supernova-Explosionen liefern dazu Material und leiten weitere Sternentstehungen ein.
Im vergangenen Jahr haben Paul Crowther von der University of Sheffield in England und seine Kollegen diesen Wert jedoch getoppt. Sie behaupteten, dass ein Stern in der Großen Magellanschen Wolke, einer kleinen, nahe gelegenen Galaxie, so hell und so blau ist, dass er mit einer kolossalen Masse von 320 Sonnenmassen geboren worden sein muss. Einige Astronomen sind jedoch skeptisch, da das Team die Masse durch eine Extrapolation der Hauptreihe bis zur beobachteten Helligkeit und Temperatur des Sterns abgeschätzt hat.

Unabhängig davon könnten die ersten Sterne im Kosmos sogar noch massereicher gewesen sein. Beim Urknall sind nur die drei leichtesten Elemente entstanden: Wasserstoff, Helium und ein wenig Lithium. In der ursprünglichen Materiesuppe gab es weder Kohlenstoff noch Sauerstoff. Diese Elemente senden Infrarotstrahlung aus, die aus interstellaren Wolken entweichen kann und so deren Abkühlung und Fragmentierung ermöglicht.

Die ersten Gaswolken, aus denen Sterne entstanden sind, waren deshalb vermutlich warm und groß, und aus ihnen sollten sich Sterne mit Hunderten von Sonnenmassen gebildet haben [siehe auch "Die ersten Sterne im Universum" von Volker Bromm und Richard B. Larson, Spektrum der Wissenschaft 2/2002, S. 26]. Dann waren sie auch wesentlich heller und heißer als die extremsten Sterne im heutigen Kosmos. Sie würden sich also links oberhalb der linken oberen Ecke des modernen H-R-Diagramms befinden.

Jeder Stern, der mit einer Masse von mehr als dem Achtfachen der Sonnenmasse geboren wird, explodiert irgendwann. Jedes Jahr beobachten die Astronomen Hunderte von Supernovae in fernen Galaxien. In unserer Milchstraße haben die Forscher jedoch das letzte Mal 1604 eine Supernova gesehen – noch vor der Erfindung des Fernrohrs. Welcher Stern in der Galaxis wird sich also als Nächstes selbst zerstören – und wann werden wir es sehen?

Wann explodiert der nächste Stern in der Milchstraße?

In der Milchstraße gibt es in jedem Jahrhundert ein paar Supernovae. Dass eine Supernova-Explosion stattfindet, ist jedoch keine Garantie dafür, dass wir sie auf der Erde auch sehen. Die Milchstraße ist groß – viel größer als die meisten Galaxien –, und ihre Scheibe ist voller interstellarem Staub, der selbst das Licht einer Supernova absorbiert. Vor einem halben Jahrhundert stießen die Astronomen auf eine gewaltige Trümmerwolke, Cassiopeia A genannt. Das Licht der Explosion, die diese Trümmerwolke verursacht hat, erreichte die Erde im späten 17. Jahrhundert, aber niemand bemerkte es.

Sternenstaub und Beteigeuze | Ein ausgedehnter Staubnebel wabert um den roten Überriesenstern Beteigeuze, der durch den kleinen, roten Kreis in der Mitte dargestellt ist. Die Staubhülle entsteht wahrscheinlich, indem die aufgeblähte Atmosphäre des Überriesen Materie in den Weltraum abstößt – eine Endphase in der Entwicklung eines massereichen Sterns.
Ein explodierender Stern, der am Himmel sichtbar sein soll, muss also nahebei liegen, nicht weiter als 20 000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Um Sterne aufzuspüren, die kurz vor ihrer Explosion stehen, schauen die Astronomen in die obere rechte Ecke des H-R-Diagramms – in das Reich der roten Überriesen. Die hellsten und uns am nächsten stehenden Sterne dieses Bereichs sind Beteigeuze und Antares, die 640 beziehungsweise 550 Lichtjahre von uns entfernt sind. Das ist so nahe, dass die Explosion dieser Sterne heller wäre als der Vollmond – aber noch so weit entfernt, dass die Explosion keine Gefahr für die Erde ist.

Aber der Kosmos hat immer eine Überraschung für uns parat. Die berühmte Supernova von 1987 in der Großen Magellanschen Wolke kam nicht von einem roten Überriesen, sondern von einem blauen. Ähnliche Sterne gibt es auch in der Galaxis, zu ihnen zählen zwei der auffälligsten Sterne am Himmel, Deneb und Rigel.

Außerdem könnten wir noch eine andere Art von Supernova sehen, zu der es kommt, wenn ein Weißer Zwerg seine kritische Masse überschreitet. Solche Supernovae sind zwar seltener, aber sie sind auch leuchtkräftiger und finden meist außerhalb der staubigen Scheibe statt – was sie besser sichtbar macht. Von den fünf Supernovae in der Milchstraße, die von den Astronomen seit 1000 n. Chr. gesehen wurden, waren drei, vielleicht sogar vier, explodierende Weiße Zwerge. Unglücklicherweise leuchten Weiße Zwerge so schwach, dass die verdächtigen Sterne, welche die nächste Supernova auslösen könnten, nicht leicht aufzufinden sind.

Nichtsdestoweniger ist das Licht der nächsten Supernova in der Galaxis bereits auf dem Weg zu uns. Wenn es schließlich bei uns eintrifft, werden die Astronomen den Vorgängerstern der Supernova ins H-R-Diagramm eintragen, um sein Leben und seinen Tod zu verstehen.

Hertzsprung und Russell wären jedenfalls zufrieden, wenn sie wüssten, dass dieses simple Werkzeug ein Jahrhundert nach seiner Erfindung immer noch neue Erkenntnisse liefert. Der Erfolg des H-R-Diagramms hat außerdem ähnliche Diagramme anderer Phänomene inspiriert, zum Beispiel der vielen Planeten, die um andere Sterne kreisen. Aus einer solchen Darstellung können wir vielleicht bald ebenso viel über die Verwandten der Erde lernen, wie uns das H-R-Diagramm über das Werden und Vergehen von Sternen gelehrt hat.

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