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Quantengravitation: Ein neuer Versuch könnte die Quantennatur der Schwerkraft offenlegen

Seit mehr als 100 Jahren suchen Fachleute nach einer Quantenversion der allgemeinen Relativitätstheorie. Doch folgt die Schwerkraft überhaupt den seltsamen Regeln der Quantenwelt?
Zwei kugelförmige Gebilde, die durch einen wackelige Linie miteinander verbunden sind.
Massen ziehe sich gegenseitig an. Aber welchen Regeln die Schwerkraft folgt, treibt Physiker seit mehr als einem Jahrhundert um.

Die Welt scheint völlig anderen Regeln zu folgen, als wir tagtäglich wahrnehmen. Das legt zumindest die Quantenphysik nahe: Demnach können sich Objekte an mehreren Orten gleichzeitig befinden; über große Distanzen hinweg auf quasi magische Weise miteinander verbunden sein – und ihr Zustand wird durch Messungen beeinflusst. Warum das so ist, ist auch mehr als 100 Jahre nach der Entdeckung der Quantenphysik unklar. Die Welt des Klitzekleinen und des beobachtbar Großen scheint grundlegend verschieden. Und niemand weiß, warum.

Doch nun haben Forschende um den Physiker Sougato Bose vom University College London dargelegt, wie sich eine Eigenheit der Quantenwelt nutzen lassen könnte, um eine der wichtigsten offenen Fragen der Physik zu lösen: Ob die Schwerkraft den Gesetzen der Quantenphysik folgt. Ihre Studie erschien im Oktober 2024 in der Fachzeitschrift »Physical Review Letters«.

In der Physik ist nichts so, wie es scheint. Eine Tischplatte wirkt, als würde sie aus einem kontinuierlichen Material bestehen, doch in Wirklichkeit ist da fast nur Leere. Alles um uns herum setzt sich aus winzigen Bausteinen, den Atomen zusammen, die eine äußere Elektronenhülle besitzen und in ihrem Innern einen noch viel kleineren Kern bergen. Dazwischen ist nichts. Auch die Protonen und Neutronen im Atomkern bestehen aus weiteren Grundbausteinen, den Quarks und den Gluonen, die auf extrem komplizierte Weise miteinander wechselwirken.

Die seltsamen Verhaltensweisen von Materie auf kleinen Skalen beschreibt das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik. In diesem sind drei der vier Grundkräfte unserer Welt vereint: der Elektromagnetismus, die starke und die schwache Kernkraft. Doch die vierte Grundkraft, die Gravitation, lässt sich nicht in dieses Bild einfügen. Seit mehr als 100 Jahren sind Fachleute beim Versuch, eine Quantentheorie der Schwerkraft zu entwickeln, gescheitert.

Die Lage scheint so hoffnungslos, dass einige Forschende inzwischen anzweifeln, dass die Gravitation eine Quantenseite hat. Eventuell ist unsere Welt von Grund auf zwiegespalten: Ein Teil von ihr wäre demnach quantenmechanisch, ein anderer klassisch. Das lässt sich jedoch nur schwer hinnehmen. Denn das wirft unter anderem die Frage auf, wie das Schwerefeld eines überlagerten Teilchens aussieht. Wenn ein Proton beispielsweise an zwei Orten gleichzeitig ist, wie sieht dann dessen Gravitationsfeld aus? Antworten könnte nur eine Quantentheorie der Schwerkraft liefern, glauben viele Fachleute. Demnach müsste die Gravitation ebenfalls den Gesetzen der Quantenphysik gehorchen.

Eine Messung als Schlüssel

Um das zu testen, gab es in den letzten Jahren mehrere Vorschläge für Versuche, die quantenphysikalische Eigenschaften der Schwerkraft nachweisen beziehungsweise widerlegen sollen. Diese Experimente sind allerdings so anspruchsvoll, dass sie noch nicht umgesetzt werden konnten.

Eine viel versprechende Versuchsidee veröffentlichte Bose mit seinem Team im Jahr 2017. Dafür müsste man zwei Objekte zunächst jeweils in einen überlagerten Zustand bringen, so dass sie sich an je zwei Orten gleichzeitig befinden. 2023 stellten Fachleute einen Rekord auf, indem sie einen 16 Mikrogramm schweren Kristall in einem überlagerten Zustand präparierten. Dieser Teil des Experiments ließe sich also realisieren. Der zweite Teil ist allerdings kniffliger. Bose und seine Kolleginnen und Kollegen erklärten, dass man die beiden überlagerten Objekte, die nur über die Schwerkraft wechselwirken dürfen, miteinander verschränken muss. Dies, so zeigten Fachleute, wäre ein eindeutiger Nachweis für die Quantennatur der Gravitation.

In Laboren arbeiten Fachleute gerade auf Hochtouren daran, ein solches Experiment umzusetzen. Doch die Dekohärenz könnte alle Bemühungen zunichtemachen. Dieser Effekt beschreibt den Zerfall quantenmechanischer Zustände: Zum Beispiel führt Dekohärenz dazu, dass eine Überlagerung verschwindet (und sich das Objekt an einem einzigen Ort befindet) oder die mysteriöse Verschränkung zweier Teilchen zusammenbricht.

»Misst man ein klassisches System, hat der Messprozess keinen nennenswerten Einfluss auf das Ergebnis. Für Quantensysteme ist das jedoch anders«Hendrik Ulbricht, Physiker

»Die Frage ist daher, ob es andere nicht klassische Aspekte der Schwerkraft gibt, die sich beobachten lassen«, schreiben die Fachleute um Bose in ihrer neuesten Veröffentlichung. Anstatt sich auf Überlagerung und Verschränkung zu stützen, haben die Forschenden daher ein weiteres Merkmal der Quantenphysik unter die Lupe genommen: Messungen. »Misst man ein klassisches System, hat der Messprozess keinen nennenswerten Einfluss auf das Messergebnis«, erklärt der Physiker Hendrik Ulbricht von der University of Southampton, der an der Studie beteiligt war. »Für Quantensysteme ist das jedoch anders.«

Denn Messungen erzeugen gerade die Dekohärenz, welche die zuvor geschilderten Versuche beeinträchtigen könnten. Anstatt das aber als Nachteil zu sehen, kann man diese Eigenheit auch ausnutzen. »Dies ist eine völlig neue Idee, um der Quantengravitation durch Experimente auf die Schliche zu kommen«, sagt Ulbricht. Der Ansatz von ihm, Bose und weiteren Kollegen besteht darin, ein massives Objekt zunächst in einen überlagerten Zustand von zwei Orten zu bringen und dann dessen Gravitationsfeld zu messen. »Wenn man eine solche Messung an einem Quantensystem oft wiederholt, bekommt man eine klare Signatur, die sich mit den quantenmechanischen Formeln als Wahrscheinlichkeiten errechnen lassen«, erklärt Ulbricht. Die Messung stört den überlagerten Zustand des Objekts. Wenn die Schwerkraft hingegen klassisch ist, sollte die Messung keinerlei Auswirkungen haben.

Die Umsetzung eines solchen Versuchs birgt große Herausforderungen, zum Beispiel muss sichergestellt werden, dass die Masse des Messgeräts die Messung nicht stört. Dennoch sollte es aus technischer Sicht realisierbar sein, urteilt Ulbricht. »Nachdem die Idee klar war, mussten wir nur noch herausfinden, was in Experimenten heute schon machbar ist.«

Nun bleibt nur noch abzuwarten, dass die Fachleute die neuen Ideen umsetzen. Die Ergebnisse werden eine enorme Tragweite haben – unabhängig davon, wie die Laborversuche ausgehen. Sollte die Quantennatur der Schwerkraft nachgewiesen werden, wäre das ein riesiger Fortschritt und eine Bestätigung der Bemühungen der letzten 100 Jahre, eine Quantengravitationstheorie zu suchen. Sollte sich hingegen herausstellen, dass die Schwerkraft wider Erwarten klassisch verhält, würde das unser Weltbild auf den Kopf stellen. Ein völlig neuer Ansatz müsste her, um unser Universum zu beschreiben.

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  • Quellen
Bose, S. et al.: Testing Whether Gravity Acts as a Quantum Entity When Measured. Physical Review Letters 133, 2024

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