Direkt zum Inhalt

Zellbiologie: Einbahnstraße in zwei Richtungen

Die Blaupausen der Eiweißproduktion erstellt eine Zelle effizient, zielgerichtet und nach eindeutigen Weganweisungen. Oder auch nicht, wie verdutzte Forscher nun erkannten: Offenbar schlagen schon Teile des ersten Proteinbautrupps eine der Kolonne entgegengesetzte Richtung entlang dem Erbgutstrang an. Sie sind mitschuldig an den Massen scheinbar unnützer Nukleinsäuren, über deren Sinn und Zweck nun noch einmal gründlicher nachgegrübelt werden muss.
Transkription
Lehrbücher und die Realität klaffen manchmal ganz schön weit auseinander, und Schuld daran hat gar nicht mal immer die Lehrbuchdarstellung, in der alles ja möglichst einfach dargestellt werden sollte. Schuld hat manchmal auch einfach die höllisch komplizierte Realität: Die durchschaut der Fortschritt leider erst nach und nach. Gute Lehrbücher, so die Quintessenz, müssen deswegen auch ganz schön oft nachgebessert werden. Und demnächst, heißt es jetzt, trifft dies die Biologiefachpresse, genauer das Kapitel "Transkription und Promotoren" aus dem fundamentalen Abschnitt "Eiweißbau und Co".

Das findet zumindest die Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeitsabteilung des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, die sich bemüht, die breite Bedeutung der neue Forschungsergebnisse des Institutskollegen Zhenyu Xu und seiner Kollegen einem breiten Publikum verständlich zu machen: "Rewrite the Textbook" heißt es da. Zu Recht?

Xus Team hatte keine Mühe gescheut, um sich einen ziemlich umfassenden Überblick über die vielen kleinen und kleinsten RNA-Moleküle zu verschaffen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt durch eine Zelle flottieren. Wozu solche RNA-Moleküle da sind, steht dabei ja schon in ziemlich alten Lehrbüchern: Sie dienen etwa als "Boten-RNA", kurze RNA-Fäden, die als Blaupausen die Konstruktionsanleitung eines Proteins zu den Eiweißfabriken transportieren. Die Standardwerke des Biologieunterrichts kannten dann auch noch gerade einmal zwei andere Sorten von RNA-Molekülen – und nicht viel mehr.

Das hatte sich allerdings schon lange vor Xu und Cos Arbeit geändert – in der Zelle tummeln sich siRNA, shRNA, snRNA, snoRNA, hpRNA und miRNA, um nur einige zu nennen – alles kleine und kleinste Schnipsel von RNA mit einer mehr oder weniger bekannten und wichtigen Spezialfunktion. Sehr viele Angehörige dieses RNA-Zoos sind dabei "nicht kodierend", werden also niemals wie althergebrachte Boten-RNA-Matrizen in den ribosomalen Eiweißfabriken abgelesen. Die Hunderte von zuletzt neu entdeckten RNAs höherer Lebewesen sind mehr oder weniger langlebig und, kurz gesagt, funktionell oft mysteriös.

Schnipsel in Pilzen

Schon in den Zellen von vermeintlich einfach gestrickten Lebewesen wie dem Pilz Saccharomyces cerevisiae, der Bierhefe, fanden Xus Team 7272 kleine RNAs und machten sich daran, herauszufinden, wo, wann und womöglich warum die Schnipsel gebildet werden. Bei der Wo-Frage sind sie nun ziemlich weit gekommen: Die Forscher erkannten zunächst anhand von unzähligen Basenfolgenvergleichen, dass der Geburtsort vieler der kurzen RNA-Ketten meist in ganz bestimmten, frei liegenden Regionen des langen Erbgutfadens liegt, in denen die DNA nicht um eine der vielen großen Nukleosom-Proteinspindeln gewickelt und deshalb leichter ablesbar ist.

Nicht verwunderlich also, dass offenbar gerade in diesen nukleosomenfreien Regionen viel RNA entsteht. Eine aufregendere statistische Auffälligkeit erwartete die Wissenschaftler aber, nachdem sie die verschiedenen Startpunkte der Tausenden von Mini-RNAs genau miteinander verglichen: Viele unterschiedliche Vertreter mit größtenteils verschiedenen Sequenzen entstehen oft nicht nur im gleichen frei geräumten Großraum, sondern offenbar an nicht ganz so vielen Promotoren, den durch bestimmte Basensequenzen gekennzeichneten Transkriptonsstartpunkten.

Auch das wäre eigentlich noch altes Lehrbuchwissen, denn Promotorsequenzen sind ja genau das: Startsignal einer Transkription, dem Umschreiben von DNA in RNA. Sie springen den zellulären Werkzeugen der Transkription als Andockstellen ins Auge und definieren, als klassischer Bestandteile eines Gens, den genauen Anfang der abzulesenden und in RNA umzusetzenden Sequenz. Einmal dort angedockt, geht's dann weiter: Je nach Dimension der zu bildenden RNA laufen die Enzyme länger oder kürzer den DNA-Strang abwärts bis zu einem entsprechenden Stoppsignal.

Immer in eine Richtung: Die Transkription | Bei der Transkription wird die Information der DNA im Zellkern in mRNA umgeschrieben. Dabei gleitet der Transkriptionsapparat immer nur in eine Richtung an einen abgelesenen Faden der geöffneten DNA-Doppelhelix entlang; die entstehende RNA wächst dabei stets von ihrem so genannten 5'- hin zum 3'-Ende. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass an vielen Promotoren, den Startpunkten der Transkription, auch der bislang übersehene zweite DNA-Faden vom Promotor ausgehend in die entgegengesetzte Richtung (aber auch vom 5'-Ende her wachsend) abgelesen wird. Statt nur einer bilden sich also häufig zwei RNAs mit unterschiedlichen Sequenzen. Viele dieser bislang übersehenen Mini-RNAs könnten regulatorische Funktionen haben.
Auch was "abwärts" im Gegensatz zu "aufwärts" heißt, ist längst etablierter Lehrstoff: Jeder der beiden Stränge, die sich zur DNA-Doppelhelix zusammenschließen, kann aus biochemisch-technischen Gründen nur in genau eine Richtung verlängert werden (die Ableserichtung erfolgt immer vom einem als "3'" bezeichneten Ende der gesamten DNA hin zum Gegenpol auf der anderen Seite, dem "5'-Ende"). Und da die beiden einzelnen Stränge der DNA-Doppelhelix sich antiparallel aneinanderkuscheln, kann die Transkription vom Promotorstandort aus immer am einen Strang abwärts gen 5'-Ende, und am anderen Strang genau entgegengesetzt ebenfalls abwärts – eben in Richtung 5'-Ende dieses zweiten Einzelstranges – fortlaufen. Dies war allerdings eine eher akademisch theoretische Möglichkeit.

Denn warum sollte von einem Promotor aus nicht nur entlang einem Strang abwärts transkribiert werden – eben den sinnvollen Sequenzen des Gens folgend, für welches der Promotor den Startpunkt setzt? In die andere Richtung entstünde ja – nun, auch RNA, aber sinnfreie.

Trotzdem, so Xu und Kollegen sehr verblüfft nach der Analyse ihrer Daten, passiert genau dies aber offenbar alltäglich: Der Promotor vieler Gene dient häufig nicht nur als Startpunkt zur Bildung einer Boten-RNA, sondern zugleich auch als Startpunkt einer kurzen oder sehr kurzen RNA, die von dem in die entgegengesetzte Richtung verlaufenden DNA-Strang abgelesen wird. Der Sinn der dabei entstehenden RNAs ist unklar – es gibt sie aber in Massen, und sie entstehen laufend.

Unerkannte Wirkungen

Natürlich hatte sich längst gezeigt, dass auch die früh als Junk-DNA bezeichneten, nicht für Proteine kodierenden DNA-Sequenzen eine Aufgabe erfüllen – dass aber derart viele vormals übersehene Bereiche auf der falschen Seite der Promotoren auch energiezehrend in RNA umgeschrieben werden, legt einen guten Grund dafür nahe. Welcher das sein könnte, ist reine Spekulation. Vielleicht, so Xu und Co, haben viele der Moleküle in Wirklichkeit gar keine höhere Funktion und entstehen einfach als Nebenprodukt, sind also die Folge eines offenbar unvermeidlichen Rauschens der Transkription.

Nicht wenige der am Promotor scheinbar falsch abgebogenen Enzyme produzieren allerdings auch sehr nützliche RNA-Schnipsel – häufig solche, die eine manchen Boten-RNAs entgegengesetzte Sequenzen haben und diese vielleicht in einem "gene-silencing"-Prozess abfangen und regulieren.

Bei manchen genetisch besonders innovativen Einzellern wie dem amöboiden Darmparasiten Giardia lamblia ist derlei schon zuvor enttarnt worden. Vielleicht sind viele der scheinbar unnützen RNAs aber auch schlicht deswegen da, weil die Evolution in ihnen ein formbares Spielmaterial findet, aus dem gelegentlich neue und dann einmal plötzlich auch nützliche Dinge entstehen können. Die von Xu favorisierte Erklärung ist da profaner und bodenständiger: Die Transkription in beide Richtungen sorgt vielleicht einfach dafür, dass die Promotor-Andockstelle wirklich frei zugänglich bleibt und nicht zu schnell wieder dicht gepackt wird.

Wirklich umgeschrieben werden müssen auch nach der Mammut-Analyse des Hefe-Transkriptoms keine Lehrbücher – ein paar Ergänzungen an Stellen, an denen sie bislang geschwiegen haben, sind aber durchaus angebracht. Langsam wird auch immer klarer, dass der Abschnitt "Ribonukleinsäuren" im Genom in vielen nächsten Auflagen immer umfangreicher werden dürfte.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.