Biophilosophie: Eine Aufgabe für Generalisten
Nicht nur die ethischen Probleme biologischer Forschung fordern Geisteswissenschaftler zu interdisziplinärer Auseinandersetzung auf. Auch die Arbeits- und Funktionsweisen der Naturwissenschaft selbst kommen inzwischen auf den Seziertisch. Der australische Biophilosoph Kim Sterelny, der 2004 mit dem Lakatos-Preis für Wissenschaftstheorie ausgezeichnet wurde, erklärt warum.
spektrumdirekt: Herr Professor Sterelny, Sie beschäftigen sich mit dem in Deutschland noch recht unbekannten Forschungsfeld Philosophie der Biologie. Worum geht es darin?
Auch heute beschäftigt sich noch ein Großteil der Arbeiten in der Philosophie der Biologie mit den theoretischen Implikationen, die evolutionären Theorien zugrunde liegen. Andere Forschungsfelder von Philosophen der Biologie sind etwa theoretische Probleme der Ökologie, das Interface zwischen der Philosophie der Biologie und der Philosophie der Psychologie.
spektrumdirekt: Was sind denn klassische Fragestellungen Ihrer Disziplin?
Sterelny: Eine klassische Fragestellung etwa ist, was genau eigentlich eine Spezies beschreibt. Aber auch die Frage, wie Selektion funktioniert, ob sie sich etwa auf Gene bezieht, wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins glaubt, oder auf Organismen oder Gruppen von Organismen. Ist Vererbung nur genetisch, oder gibt es auch eine Art von kultureller Vererbung, und wenn es diese gibt, wie bedeutsam ist sie? Und hat etwa der Paläontologe Stephen Gould mit seiner Hypothese Recht, dass die Geschichte des Lebens eine Reihe von Zufällen ist? Was bedeutet das, wie können wir das wissen?
spektrumdirekt: Warum braucht man für die Beantwortung solcher Fragestellungen Philosophen?
Sterelny: Die Philosophie der Biologie ist ein anderes Unterfangen als die übliche Arbeit empirischer Biologen. Deren tagtägliche Arbeit besteht darin, Daten zu generieren und diese auf spezifische Fragen zu beziehen. Ein Philosoph der Biologie hingegen integriert Informationen und Theorien einer großen Bandbreite von Arbeitsfeldern und Forschungsergebnissen. Viele der Fragen, die sich Biologen stellen, sind zudem nicht ausschließlich empirisch, sondern sind mit konzeptionellen Fragestellungen vermischt.
spektrumdirekt: Könnten Sie diese konzeptionellen Strukturen, die vielen biologischen Schlussfolgerungen zugrunde liegen, einmal an einem Beispiel verdeutlichen?
Sterelny: Wenn man sich etwa die Literatur zu angeborenem Verhalten anschaut, wird schnell klar, dass die Autoren sehr unterschiedliche Konzepte des Begriffes der angeborenen Eigenschaften haben, ohne diese Differenzen zu realisieren. Manchmal bedeutet Angeborensein einfach nur, dass etwas sehr früh innerhalb einer Entwicklung auftaucht, manchmal, dass es eine klare arttypische Anpassung ist, manchmal geht es um genetische Kanalisation.
spektrumdirekt: Ist also die Philosophie der Biologie eine Korrekturinstanz biologischer Ergebnisse?
Sterelny: Ja, es ist eine kritische Reflektion. Aber eine, welche die Ergebnisse der Wissenschaft sehr ernst nimmt. Philosophen haben keinen Zugang zu einer gesonderten Art von Informationen, die den Empirikern vorenthalten wäre. Es gab eine alte Tradition in der Philosophie, die behauptete, es gebe einen apriorischen Zugang etwa zu den Fragen, wie die Welt auszusehen habe, und dass Wissenschaft diesen apriorischen Ansprüchen gerecht werden müsse. Dies ist aber nicht der Ansatz der gegenwärtigen Philosophie der Biologie oder anderer Wissenschaftstheorien.
spektrumdirekt: Warum aber braucht man für diese Reflexion ausgerechnet die Philosophen? Im Grunde könnte man doch sagen, dass sich viel eher die Biologen mit den genannten Fragestellungen beschäftigen sollten.
Sterelny: Biologen haben zum einen nicht das richtige Training zur Bewältigung dieser Aufgaben. Philosophen werden im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern besonders in der Analyse von Argumenten und Zusammenhängen ausgebildet – insbesondere darin, in Behauptungen nach impliziten Elementen zu suchen und diese Grundlagen explizit zu machen.
Es gibt einfach Aufgaben für Spezialisten, und es gibt Aufgaben für Generalisten. Es ist mir egal, ob Sie diese Generalisten Philosophen nennen oder nicht. Einige anerkannte Experten auf diesem Gebiet sind Biologen, und in der Zeitschrift Philosophy of Biology sind schätzungsweise vierzig Prozent der Beiträge eben nicht von Philosophen. Auch Richard Dawkins’ Buch "The Extended Phenotype" beispielsweise ist ein bedeutendes Stück Philosophie der Biologie, voller Gedankenexperimente und fiktiver Beispiele. Dawkins würde es zwar nicht gerne hören, aber was er dort tut, ist Philosophie der Biologie – und zwar gute.
spektrumdirekt: Bislang hört man in Deutschland kaum von der Philosophie der Biologie. Seit wann gibt es diese Fachrichtung?
Sterelny: In Deutschland hat die Arbeit innerhalb der Philosophie der Biologie gerade erst begonnen. Ich war etwa 2003 bei dem Workshop "Genes and Information in Development and Evolution" des Kulturwissenschaftlichen Institutes Essen, der in das Thema einführen sollte, und da waren nur wenige Experten.
spektrumdirekt: Sie sagen, die Philosophie der Biologie sei von großer Bedeutung auch für die empirische Forschung in der Biologie. Doch wird sie dort überhaupt wahrgenommen?
Sterelny: Ja, ich denke schon. Ich selbst gehe zu vielen biologischen Konferenzen und habe beispielsweise gute Verbindungen mit den Biologen der Victoria-Universität in Wellington und der Australischen National-Universität, wo ich jeweils sechs Monate pro Jahr lehre. Und zumeist sind die Wissenschaftler, die ich treffe, sehr interessiert an dem, was ich zu sagen habe. Nun, vielleicht sind sie einfach nur höflich, aber im Gegensatz etwa zu den eher schwierigen Verhältnissen zwischen beispielsweise Physikern und Philosophen der Physik, wo es nur selten zu produktiver Kooperation kommt, findet hier doch ein reger Austausch statt. Häufig entstehen auch kollaborative Arbeiten und gemeinsame Papers.
spektrumdirekt: Die Notwendigkeit, die eigenen Ergebnisse in einem größeren Zusammenhang zu beleuchten, mag für Biologen ja durchaus einleuchten und den Sinn einer Philosophie der Biologie erklären. Was aber haben Philosophen von dem Zusammenspiel mit der Biologie?
Sterelny: Für die Bioethik etwa gilt, dass Biologen bestimmte ethische Fragen und Probleme aufwerfen, die sich nur mit einem entsprechenden philosophischen Training beantworten lassen. Aber auch zu traditionellen philosophischen Fragen wie etwa der nach der menschlichen Natur haben Biologen eine Menge beizutragen. Das heißt längst nicht, dass man als Philosoph alles glauben sollte, was Biologen sagen, oder dass die biologischen Antworten auf diese Fragen schon der Weisheit letzter Schluss seien. Doch wenn man verstehen will, wie Menschen sich auf ihre natürliche Umwelt beziehen, ist es wichtig zu erkennen, wie sich die Menschen zu dem entwickelt haben, was sie heute sind – und das ist eine genuin biologische Fragestellung.
Kim Sterelny: Die Philosophie der Biologie begann als eine Philosophie der evolutionären Biologie. Von Anfang an gab es in der evolutionären Biologie Diskussionen um ihre konzeptionellen Grundlagen. Ist etwa Selektion eine Metapher? Und auf was genau wirkt sie sich eigentlich aus – auf Organismen, Gene, Populationen oder Spezies?
Auch heute beschäftigt sich noch ein Großteil der Arbeiten in der Philosophie der Biologie mit den theoretischen Implikationen, die evolutionären Theorien zugrunde liegen. Andere Forschungsfelder von Philosophen der Biologie sind etwa theoretische Probleme der Ökologie, das Interface zwischen der Philosophie der Biologie und der Philosophie der Psychologie.
spektrumdirekt: Was sind denn klassische Fragestellungen Ihrer Disziplin?
Sterelny: Eine klassische Fragestellung etwa ist, was genau eigentlich eine Spezies beschreibt. Aber auch die Frage, wie Selektion funktioniert, ob sie sich etwa auf Gene bezieht, wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins glaubt, oder auf Organismen oder Gruppen von Organismen. Ist Vererbung nur genetisch, oder gibt es auch eine Art von kultureller Vererbung, und wenn es diese gibt, wie bedeutsam ist sie? Und hat etwa der Paläontologe Stephen Gould mit seiner Hypothese Recht, dass die Geschichte des Lebens eine Reihe von Zufällen ist? Was bedeutet das, wie können wir das wissen?
spektrumdirekt: Warum braucht man für die Beantwortung solcher Fragestellungen Philosophen?
Sterelny: Die Philosophie der Biologie ist ein anderes Unterfangen als die übliche Arbeit empirischer Biologen. Deren tagtägliche Arbeit besteht darin, Daten zu generieren und diese auf spezifische Fragen zu beziehen. Ein Philosoph der Biologie hingegen integriert Informationen und Theorien einer großen Bandbreite von Arbeitsfeldern und Forschungsergebnissen. Viele der Fragen, die sich Biologen stellen, sind zudem nicht ausschließlich empirisch, sondern sind mit konzeptionellen Fragestellungen vermischt.
spektrumdirekt: Könnten Sie diese konzeptionellen Strukturen, die vielen biologischen Schlussfolgerungen zugrunde liegen, einmal an einem Beispiel verdeutlichen?
Sterelny: Wenn man sich etwa die Literatur zu angeborenem Verhalten anschaut, wird schnell klar, dass die Autoren sehr unterschiedliche Konzepte des Begriffes der angeborenen Eigenschaften haben, ohne diese Differenzen zu realisieren. Manchmal bedeutet Angeborensein einfach nur, dass etwas sehr früh innerhalb einer Entwicklung auftaucht, manchmal, dass es eine klare arttypische Anpassung ist, manchmal geht es um genetische Kanalisation.
"In der Literatur gibt es 28 unterschiedliche Definitionen des Begriffes Angeborensein"
Es gibt ein ganzes Cluster von Ideen zu angeborenen Eigenschaften. In einem gemeinsamen Fachartikel eines Biologen und eines Philosophen der Biologie aus dem letzten Jahr fanden beide in der aktuellen Literatur insgesamt 28 unterschiedliche Definitionen von Angeborensein, die teilweise weit auseinander lagen. So etwas muss explizit gemacht werden. spektrumdirekt: Ist also die Philosophie der Biologie eine Korrekturinstanz biologischer Ergebnisse?
Sterelny: Ja, es ist eine kritische Reflektion. Aber eine, welche die Ergebnisse der Wissenschaft sehr ernst nimmt. Philosophen haben keinen Zugang zu einer gesonderten Art von Informationen, die den Empirikern vorenthalten wäre. Es gab eine alte Tradition in der Philosophie, die behauptete, es gebe einen apriorischen Zugang etwa zu den Fragen, wie die Welt auszusehen habe, und dass Wissenschaft diesen apriorischen Ansprüchen gerecht werden müsse. Dies ist aber nicht der Ansatz der gegenwärtigen Philosophie der Biologie oder anderer Wissenschaftstheorien.
spektrumdirekt: Warum aber braucht man für diese Reflexion ausgerechnet die Philosophen? Im Grunde könnte man doch sagen, dass sich viel eher die Biologen mit den genannten Fragestellungen beschäftigen sollten.
Sterelny: Biologen haben zum einen nicht das richtige Training zur Bewältigung dieser Aufgaben. Philosophen werden im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern besonders in der Analyse von Argumenten und Zusammenhängen ausgebildet – insbesondere darin, in Behauptungen nach impliziten Elementen zu suchen und diese Grundlagen explizit zu machen.
"Biologen haben schlicht keine Zeit für die Integration ihrer Daten"
Aber bedeutender noch: Biologen haben schlicht keine Zeit. Das Generieren von Daten ist immens zeitaufwändig. Ich jedoch brauche keine Experimente durchzuführen. Ich habe die Zeit, mir all die Ergebnisse der experimentellen Biologie anzusehen und diese Daten zu integrieren. Es gibt einfach Aufgaben für Spezialisten, und es gibt Aufgaben für Generalisten. Es ist mir egal, ob Sie diese Generalisten Philosophen nennen oder nicht. Einige anerkannte Experten auf diesem Gebiet sind Biologen, und in der Zeitschrift Philosophy of Biology sind schätzungsweise vierzig Prozent der Beiträge eben nicht von Philosophen. Auch Richard Dawkins’ Buch "The Extended Phenotype" beispielsweise ist ein bedeutendes Stück Philosophie der Biologie, voller Gedankenexperimente und fiktiver Beispiele. Dawkins würde es zwar nicht gerne hören, aber was er dort tut, ist Philosophie der Biologie – und zwar gute.
spektrumdirekt: Bislang hört man in Deutschland kaum von der Philosophie der Biologie. Seit wann gibt es diese Fachrichtung?
Sterelny: In Deutschland hat die Arbeit innerhalb der Philosophie der Biologie gerade erst begonnen. Ich war etwa 2003 bei dem Workshop "Genes and Information in Development and Evolution" des Kulturwissenschaftlichen Institutes Essen, der in das Thema einführen sollte, und da waren nur wenige Experten.
"Es gibt Aufgaben für Spezialisten und für Generalisten. Es ist mir egal, ob Sie diese Generalisten Philosophen nennen oder nicht"
In den englischsprachigen Ländern jedoch ist die Philosophie der Biologie schon seit den 1970er Jahren bekannt. Erste Arbeiten entstanden schon in den 1950er und 1960er Jahren, so etwa von dem Biologen Ernst Mayr. Die ersten Wissenschaftler, die sich selbst als Philosophen der Biologie bezeichneten waren der amerikanische Philosoph David Hull und der englische Wissenschaftsphilosoph Michael Ruse. Aber erst seit Mitte der 1980er Jahre kann man von einer wirklichen Disziplin sprechen. Anfangs waren die meisten Vertreter dieser Fachrichtung übrigens Biologen. spektrumdirekt: Sie sagen, die Philosophie der Biologie sei von großer Bedeutung auch für die empirische Forschung in der Biologie. Doch wird sie dort überhaupt wahrgenommen?
Sterelny: Ja, ich denke schon. Ich selbst gehe zu vielen biologischen Konferenzen und habe beispielsweise gute Verbindungen mit den Biologen der Victoria-Universität in Wellington und der Australischen National-Universität, wo ich jeweils sechs Monate pro Jahr lehre. Und zumeist sind die Wissenschaftler, die ich treffe, sehr interessiert an dem, was ich zu sagen habe. Nun, vielleicht sind sie einfach nur höflich, aber im Gegensatz etwa zu den eher schwierigen Verhältnissen zwischen beispielsweise Physikern und Philosophen der Physik, wo es nur selten zu produktiver Kooperation kommt, findet hier doch ein reger Austausch statt. Häufig entstehen auch kollaborative Arbeiten und gemeinsame Papers.
spektrumdirekt: Die Notwendigkeit, die eigenen Ergebnisse in einem größeren Zusammenhang zu beleuchten, mag für Biologen ja durchaus einleuchten und den Sinn einer Philosophie der Biologie erklären. Was aber haben Philosophen von dem Zusammenspiel mit der Biologie?
Sterelny: Für die Bioethik etwa gilt, dass Biologen bestimmte ethische Fragen und Probleme aufwerfen, die sich nur mit einem entsprechenden philosophischen Training beantworten lassen. Aber auch zu traditionellen philosophischen Fragen wie etwa der nach der menschlichen Natur haben Biologen eine Menge beizutragen. Das heißt längst nicht, dass man als Philosoph alles glauben sollte, was Biologen sagen, oder dass die biologischen Antworten auf diese Fragen schon der Weisheit letzter Schluss seien. Doch wenn man verstehen will, wie Menschen sich auf ihre natürliche Umwelt beziehen, ist es wichtig zu erkennen, wie sich die Menschen zu dem entwickelt haben, was sie heute sind – und das ist eine genuin biologische Fragestellung.
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