Lindauer Nobelpreisträgertagung: "Eine gute Zeit, um Wissenschaftler zu sein"
In unseren Körperzellen liegt das Erbmaterial in Form von Chromosomen vor. An deren Enden sitzen so genannte Telomere, Strukturen aus DNA und Proteinen. Sie wirken wie Schutzkappen, indem sie verhindern, dass die Chromosomen in der Zelle abgebaut werden. Bei jeder Zellteilung (Replikation) werden die Telomere verkürzt. Unterschreiten sie eine bestimmte Länge, kann sich die Zelle nicht weiter teilen. Sie tritt in einen Ruhezustand ein oder stirbt ab – wohl ein wichtiger Grund dafür, warum Organismen altern.
Um dem entgegenzuwirken, verfügen Zellen über das Enzym Telomerase. Es verlängert die Telomere nach einer Replikation wieder und ist besonders aktiv in Stamm – sowie Krebszellen. Wer die Mechanismen dahinter versteht und zu nutzen weiß, könnte Alterungsprozesse und den damit einhergehenden Abbau möglicherweise verlangsamen. Wesentliche Beiträge zur Telomerforschung hat die amerikanische Nobelpreisträgerin Elizabeth Blackburn geleistet. Wir sprachen mit ihr auf der diesjährigen Nobelpreisträgertagung in Lindau.
Telomere – die Schnürsenkelkappen der Zelle
Bevor sich eine Körperzelle teilt, müssen molekulare Maschinen ihr Erbgut verdoppeln. Für den Kopiervorgang ist maßgeblich das Enzym DNA-Polymerase verantwortlich. Um einen DNA-Strang zu kopieren, dockt es an dessen Ende an. Das kurze Strangstück, an dem es sich dabei "festklammert", kann es nicht mitkopieren. Bei jeder Zellteilung geht deshalb ein kleines Stück der DNA verloren.
Das ist zum Glück nicht weiter schlimm, weil die Enden der Chromosomen, die so genannten Telomere, keine wichtigen Erbinformationen enthalten. Ihre einzige Funktion besteht nach heutigem Wissen darin, als "Puffermasse" herzuhalten, um die Enden der Chromosomen zu schützen und zu verhindern, dass beim Verkürzen des DNA-Strangs während der Replikation wichtige Chromosomenabschnitte verloren gehen. Unterschreiten die Telomere allerdings eine Mindestlänge, hört die Zelle auf, sich zu teilen.
Forscher vergleichen die Telomere manchmal mit den Hülsen am Ende von Schnürsenkeln: Solange die Hülsen intakt sind, franst das Band nicht aus und behält seine Funktion; gehen sie jedoch verloren, sind auch die Schnürsenkel bald nicht mehr zu gebrauchen. Blackburn und ihre Kollegen versuchen herauszufinden, warum die Chromosomenenden bei verschiedenen Menschen unterschiedlich schnell dahinschmelzen. Der Lebensstil scheint einen Einfluss darauf zu haben, wie oft sich Körperzellen teilen (müssen) und wie schnell demzufolge die Telomere verkürzt werden. Allerdings verfügen die Zellen über ein Enzym, das die Telomere wieder reparieren kann: die Telomerase. Seine Aktivität kann aber auch gefährliche Folgen haben. In Krebszellen etwa ist die Telomerase sehr tätig, weshalb die entarteten Zellen sich praktisch unbegrenzt teilen können.
Über ihre eigene Forschung berichtet Elizabeth Blackburn im Beitrag "Verkappte Gefahr" in "Gehirn&Geist".
Spektrum der Wissenschaft: Professor Blackburn, Menschen mit langen Telomeren scheinen länger zu leben, aber auch seltener Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten zu bekommen. Andererseits wissen wir, dass ein Zuviel des Enzyms Telomerase, das verkürzte Telomere wieder repariert, ebenfalls zu Krebs führen kann. Ist das nicht ein Widerspruch?
Prof. Dr. Elizabeth Blackburn: Es kommt auf die Unversehrtheit der Telomere an. Um die zu erhalten, ist die Telomerase notwendig. Darüber hinaus gibt es aber noch viele weitere Faktoren, die Einfluss auf die Telomerlänge haben. An den Chromosomenenden heften zum Beispiel Proteine, die vor Schäden schützen sollen. Gelegentlich halten die auch die Telomerase zu sehr auf Abstand. Wir haben es mit sehr vielen verschiedenen Einflüssen zu tun, die auf die Telomere einwirken. So ist das immer in biologischen Systemen. Es passieren gleichzeitig zahlreiche Dinge, aber wir können immer nur einen einzigen Prozess davon beobachten.
Welche zerstörerischen Kräfte wirken auf die Chromosomenenden ein?
Das versuchen wir mit zwei Vorgehensweisen herauszufinden. Zum einen schauen wir uns die Telomere von vielen Menschen an und befragen diese nach ihrem Lebensstil. So versuchen wir, den Organismus in seiner Gesamtheit zu erfassen, statt einzelne Moleküle zu analysieren. Zum anderen untersuchen wir in individuellen Zellen, welche molekularen Mechanismen die Länge der Telomere kontrollieren. Ich bin überzeugt davon, dass dieser zweigleisige Ansatz richtig ist, da beide Forschungsbereiche sich gegenseitig ergänzen.
Was können Sie von einzelnen Zellen über den ganzen Menschen lernen?
Schätzen Sie einmal: Wie viele Gene haben Einfluss auf die Länge der Telomere
Elf vielleicht?
Es sind mehr als 400! In meiner Arbeitsgruppe untersuchen wir, wie Zellen reagieren, wenn man irgendetwas an dieser Maschinerie verändert, die für den Erhalt der Telomere zuständig ist. Das ganze System verhält sich höchst komplex und untersteht diversen Kontrollmechanismen. Und jetzt vergegenwärtigen Sie sich, dass beim Menschen zu dieser inneren Komplexität noch zahlreiche äußere Einflüsse kommen, die für noch mehr Durcheinander sorgen. Es gibt also sehr viele mögliche Einflussfaktoren, die auf verwickelte Weise die Telomerlänge bestimmen. Das ist es, was wir aus der Forschung an Einzelzellen gelernt haben.
Was schadet den Telomeren am meisten?
Jedes Mal, wenn sich eine Körperzelle teilt, werden ihre Telomere ein kleines Stück kürzer. Alles, was die Zellteilung beschleunigt, scheint demnach zu schaden. Dazu zählen etwa entzündliche Prozesse im Körper. Auch Stress kann Substanzen in den Zellen freisetzen, welche die Chromosomenenden attackieren. Traumatische Ereignisse, schwere psychische und physische Belastungen können sich negativ auswirken. Zudem scheinen Rauchen, starkes Übergewicht und auch Schlafmangel die Chromosomenkappen anzugreifen.
"Ich bin immer misstrauisch, wenn Wissenschaftler Studien auflegen, um gezielt nach etwas zu suchen"
Das klingt, als könne man selbst Einfluss auf die Länge seiner Chromosomenenden nehmen, indem man seinen Lebensstil verändert.
Studien scheinen genau das zu belegen. Bei Menschen, die sich regelmäßig, aber moderat bewegen, sind die Telomere länger als bei Sportmuffeln oder Extremsportlern. Wir neigen in unserer Kultur zu dem Kredo "je mehr, desto besser". Hinsichtlich körperlicher Bewegung stimmt das aber nicht, zumindest nicht, was die Länge der Telomere betrifft.
Bewegung gilt ja insgesamt als gesundheitsfördernd. Liegt der tiefere Grund hierfür also in dem Umstand, dass die Telomere bei Menschen, die in Maßen Sport treiben, länger sind?
Wir haben im streng wissenschaftlichen Sinn keinen Beweis dafür, dass kurze Telomere einen frühen Tod zur Folge haben oder für Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Komplikationen verantwortlich sind. Aber wir finden entsprechende Korrelationen, und zwar starke. So unterscheidet sich die Lebenserwartung zwischen Menschen, die kurze beziehungsweise lange Telomere haben, in etwa so sehr wie zwischen jahrzehntelangen Rauchern und Nichtrauchern. Zudem treten bei Herz-Kreislauf-Patienten gehäuft bestimmte Muster in Genen auf, die für die Telomerinstandhaltung verantwortlich sind. Ähnliches wurde auch schon für andere Krankheiten gefunden. Man muss sich dabei aber natürlich bewusst machen, dass die Telomerlänge hier wohl nur einer von vielen relevanten Faktoren ist.
Haben Sie Ihren Lebensstil verändert, seit Sie wissen, was den Telomeren schadet?
Ich habe schon immer versucht, mich halbwegs vernünftig zu verhalten. Motiviert von Studienergebnissen, wonach Meditation die Verkürzung von Telomeren bremst, habe ich damit angefangen, Meditationskurse zu besuchen.
Meditieren Sie regelmäßig?
Schon, aber meist nicht lang. Ich versuche, kurze Einheiten in meinen Tagesablauf einzubauen. Mikromeditationen sozusagen.
Kann man Krebs verstehen, ohne das Altern der Zellen zu verstehen?
Altern ist ein Risikofaktor für Krebs. Wir haben in den zurückliegenden Jahren sehr viel über Tumoren und ihre Entstehung gelernt, wir kennen viele Gene, die daran beteiligt sind, und haben einige Stoffwechselwege entschlüsselt. Die Abläufe in Krebszellen sind oft chaotisch und sehr komplex; dasselbe gilt für alternde Zellen.
Aber begreifen wir dadurch, wie Krebs entsteht und wie wir ihn bekämpfen können?
Die Forschungsergebnisse zeichnen noch kein einheitliches Bild. Eine schwedische Untersuchung etwa ergab, dass man anhand der Länge von Telomeren sehr treffsicher das spätere Auftreten von Prostatakrebs vorhersagen kann. Das galt aber nur, wenn die Forscher die Patienten lange vor Krankheitsausbruch untersuchten. Führten sie die Analyse erst wenige Jahre vor der Diagnose durch, konnten sie aus der Telomerlänge nicht mehr so zuverlässig ablesen, wer wahrscheinlich erkranken würde und wer nicht.
"Als Forscher ist man immer ein bisschen opportunistisch: Man erforscht, was man erforschen kann"
Wie lässt sich das erklären?
Das wissen wir noch nicht. Wie wir überhaupt viele Befunde erst in ein schlüssiges Gesamtbild einfügen müssen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel haben deutsche Forscher eine Mutation in einem Gen mit Telomerinstandhaltungsfunktion entdeckt, die die betroffenen Menschen häufiger an Melanomen erkranken lässt. Der Genschaden scheint die Telomerase aktiver zu machen. Auch beim Entstehen bestimmter Hirn-, Blasen-und Lebertumoren scheint diese Mutation eine Rolle zu spielen, ist hier aber nicht allein für die Krankheit verantwortlich. Am Anfang glaubten wir noch, man könne allgemeine Aussagen zum Zusammenhang zwischen Telomerlänge und Krebs treffen. Inzwischen wissen wir, dass man jede Tumorart separat betrachten muss.
Läuft die Telomerforschung Gefahr, sich in Details zu verheddern, wie so oft in der biomedizinischen Wissenschaft?
Die Arbeit geht in kleinen Schritten voran, und wenn man auf eine neue Studie blickt, muss man sich immer ihre Mängel und Grenzen vor Augen halten. Interessant wird es dann, wenn man viele Untersuchungen betrachtet, die alle unterschiedliche Schwächen haben. Keine Studie kann perfekt sein. Aber wenn viele von ihnen in die gleiche Richtung weisen, beginnt sich ein klares Bild herauszukristallisieren. Ich bin immer misstrauisch, wenn Wissenschaftler Studien auflegen, um gezielt nach etwas zu suchen. Wer so arbeitet, findet das Gesuchte wohl auch, da man Befunde immer ein Stück weit so interpretieren kann, dass sie zur ursprünglichen Annahme passen. Bekommt man hingegen ein unerwartetes Ergebnis, dann finde ich das überzeugender.
Werden die Erkenntnisse der Telomerforschung eines Tages helfen, unser Leben deutlich zu verlängern?
Wir wissen, dass es Menschen gibt, die trotz sehr hohen Alters gesund sind. Vielleicht können wir von ihnen lernen, wie wir unsere krankheitsfreie Lebensspanne verlängern können. Aber ich glaube nicht, dass wir bald alle 100 Jahre alt werden. Wir können noch nicht einmal die molekularen Wechselwirkungen in einer einzigen Zelle vorhersagen, geschweige denn in einem ganzen Organismus. Es könnte sich allerdings auch herausstellen, dass wir das gar nicht müssen. Für uns gelten schließlich auch die Gesetze der Quantenphysik, aber trotzdem beschreiben wir Lebewesen nicht nach quantenphysikalischen Regeln, weil das keine sinnvolle Herangehensweise wäre.
Welche Detailtiefe ist denn notwendig?
Wir brauchen beides: sowohl den Blick auf den gesamten Organismus als auch Experimente mit einzelnen Zellen und Modellorganismen wie Mäusen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass man ein experimentelles System untersucht und nicht ein natürliches.
Wie meinen Sie das?
Die Funktion eines Gens etwa wird oft dadurch untersucht, dass man es in Versuchstieren ausschaltet oder aktiviert. Hier liegt das Problem: Sobald man ein Gen stilllegt, schafft man ein anderes Lebewesen. Von dem auf das ursprüngliche Lebewesen zu schließen, ist schwierig. Problematisch ist auch, Befunde an Versuchstieren auf den menschlichen Organismus zu übertragen. Dennoch – wir stehen in der Biologie jetzt an einem sehr interessanten Punkt. Wir können jeden einzelnen Teil der molekularen Maschinerie einer Zelle untersuchen, was früher so nicht möglich war.
Sie haben viel Zeit damit verbracht, die Wirkung einzelner Moleküle zu untersuchen. Erst seit einigen Jahren nehmen Sie auch den gesamten menschlichen Organismus in den Blick. Hat sich Ihr Interesse verschoben?
Nicht verschoben, sondern erweitert. Früher war es sehr schwierig, aus der Grundlagenforschung konkrete Aussagen über die Gesundheit des Menschen abzuleiten, auch weil die Methoden noch so unausgegoren waren. Inzwischen gibt es viele neue Werkzeuge. Die technischen Möglichkeiten haben einen sehr großen Einfluss darauf, welche Fragen wir stellen können. Ohne die PCR beispielsweise (eine Methode zum Vervielfältigen von DNA, Anmerkung der Redaktion) und ohne die Möglichkeit, Gene zu sequenzieren, hätten wir die Telomere nicht erforschen können. Heute können wir komplette menschliche Genome in kurzer Zeit analysieren. Als Forscher ist man immer ein bisschen opportunistisch: Man erforscht, was man erforschen kann. Wenn ich in meine Laborbücher aus den 1970er Jahren schaue, bin ich überrascht, wie viele Fehlschläge ich erlebt habe und wie oft ich in der falschen Richtung suchte. Das Verhältnis von Misserfolg zu Erfolg ist ziemlich groß. Aber meist blenden wir das aus.
Beneiden Sie die junge Forschergeneration darum, welche Möglichkeiten sie hat, die es früher nicht gab?
Die Intensität der experimentellen Arbeit scheint sich für mich nicht wesentlich verändert zu haben. Als ich anfing zu forschen, hatte ich das Gefühl, dass es eine Menge offener Fragen gibt. Dasselbe Gefühl habe ich heute noch. Allerdings werden wir jetzt mit so vielen Informationen bombardiert, dass es schwierig ist zu erkennen, wo echte Wissenslücken bestehen. Früher mussten wir sicherlich nicht mit einer solchen Flut umgehen. Auch liegen mittlerweile die Messlatten im Wissenschaftsbetrieb höher, weil es mehr methodische Möglichkeiten und mehr Vorwissen gibt. Trotzdem glaube ich, dass heute eine gute Zeit ist, um eine Karriere als Wissenschaftler zu beginnen. Und ich habe das Gefühl, dass viele junge Forscher das genauso sehen.
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