Immunologie: Eine heikle Balance zwischen Freund und Feind
Wenn die menschliche Immundefensive zum Angriff auf den eigenen Körper übergeht, sprechen Mediziner von einer Autoimmunkrankheit. Warum einige irrige Abwehrzellen dabei fatalerweise den Feind im Selbst entdecken, ist noch immer rätselhaft. Jetzt scheint es, als könne ein Mechanismus, welcher der Bekämpfung von Infektionen dient, die Verwechslungsgefahr herbei beschwören.
Menschen erkennen sich üblicherweise am Aussehen oder an der Stimme, auf dem Amt auch mal anhand einer eindeutigen Buchstaben- und Zahlenkolonne. Wollten sie dagegen beim Identifizieren dem Beispiel ihrer Immunzellen folgen, müssten sie schon engere körperliche Fühlung aufnehmen. Diese tasten nämlich ihre Klientel, körpereigene Zellen und Krankheitserreger wie Mikroben, nach markanten Strukturen auf deren Oberfläche ab, um zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht.
Gäbe es einen Club, der eine solche Identifikationsmethode verwendete, hätte der Türsteher keinen leichten Job. Er müsste die Mitglieder beispielsweise allein am charakteristischen Profil ihrer Ohrmuschel erkennen. Nach eingehendem Befingern der Erhebungen und Vertiefungen sowie etwaiger Besonderheiten wie eines verwachsenen Ohrläppchens oder eines massiven Rings sollte er zuverlässig bestimmen können, wer rein darf und wer draußen bleiben muss.
Immunzellen haben es natürlich nicht mit Ohren zu tun, sondern mit spezifischen Molekülmustern, die aus der Membran von Zellen und Viren herausragen. Sie sind auch – anders als der arme Türsteher – nicht allein, sondern zu Millionen. Unter diesen gibt es Spezialisten für jede individuelle Fremdstruktur – also quasi einen Türsteher, der sich mit Ohrläppchen auskennt, einen für Helixverdickungen, einen für Ohrringe, und so weiter. Die Fachkräfte des Immunsystems nun identifizieren ihre Zielstrukturen an deren räumlichen und elektrostatischen Kennzeichen. Manche sind dabei eher auf bestimmte Proteine, andere eher auf fett- oder zuckerhaltige Oberflächenanhängsel spezialisiert.
Weil sich Mensch und Mikrobe zur Dekoration ihrer Membranen aus dem gleichen evolutionären Baukasten bedienen, kommt es mitunter vor, dass sie teils sehr ähnliche Moleküle verwenden. Für das Abwehrsystem kann das zum Problem werden, wenn Immunzellen, statt passgenau auf eine feindliche Struktur, auch zu einem gewissen Grad auf das körpereigene, ähnliche Pendant anspringen.
Eine solche Kreuzreaktion – das Einstufen des Selbst als fremd – kann im Extremfall zu so genannten Autoimmunerkrankungen führen, bei denen das Immunsystem körpereigene Gewebe angreift. Beispiele sind die Multiple Sklerose (MS) und das Guillain-Barré-Syndrom. Bei diesen Krankheiten wählen Immunzellen unter anderem Sphingolipide als Ziel – fetthaltige Membranmoleküle.
Sphingolipide bezeichneten Forscher lange als die "Sphinx unter den Lipiden", weil ihre Funktion ihnen, wie das mysteriöse Mythenwesen, Rätsel aufgab. Inzwischen ist klar, dass sie zur Stabilität von Membranen beitragen und helfen, Signale ins Innere einer Zelle zu leiten. Beim Menschen kommen sie besonders häufig im Zentralnervensystem vor, wo sie in die fettige weiße Myelinschicht, die lange Nervenfasern umhüllt, eingebettet sind. Diese Myelinscheiden sind es auch, die bei der MS durch Entzündungen schubweise zerstört werden.
Am Universitätshospital Basel beschäftigt sich die Arbeitsgruppe von Gennaro de Libero ebenfalls mit den zuckerhaltigen Glykosphingolipiden (GSL) – beziehungsweise mit einer bestimmten Sorte von Immunzellen, die diese GSLs erkennen. Wenn die Zellen ein solches passendes Lipid gefunden haben, veranlassen sie wiederum andere Abwehragenten, so genannte T-Zellen, sich zu vermehren und sich auf die Jagd nach den Trägern dieser Lipide zu machen. Das ist im Normalfall sehr nützlich: Glykosphingolipide sind in der Zellwand der meisten Mikroben allgegenwärtig.
Schon seit längerem vermuten Forscher Infektionen mit Viren und Bakterien als mögliche Ursache für Autoimmunkrankheiten. Für de Libero lag es daher nahe, sich an seinem Modellsystem GSL-sensitiver Zellen genauer anzuzschauen, was bei Infektionen schief laufen könnte und die Körperabwehr auf die falsche Fährte lockt. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam konfrontierte er die Immunzellen mit Sphingolipiden aus Bakterien und Bruchstücken aus deren Zellwand – und erlebte eine Überraschung.
Zunächst beobachtete er, dass die Lipide bindenden Rezeptorzellen die T-Zellen zu einer Immunantwort antrieben – das war noch zu erwarten. Dann aber maßen die Forscher die einsetzende Produktion entsprechender menschlicher GSLs. Dadurch kamen rasch sehr viele Lipide – quasi Attrappen der feindlichen Moleküle – in Umlauf, worauf hin sich die Abwehrreaktion der T-Zellen nochmals potenzierte. Problematisch an diesem Verstärkungsmechanismus ist indes, dass er die Körperabwehr – auch über die akute bakterielle Infektion hinaus – auf die eigenen Sphingolipide scharf stellt.
Der Effekt zeigte sich übrigens bei Zugabe von Membranlipiden verschiedener, auch nicht pathogener Bakterien. Außerdem stammten die Immunzellen von gesunden Spendern, wie Lucia Mori, eine Mitarbeiterin de Liberos, anmerkt. Demnach scheine es für das Immunsystem durchaus normal zu sein, sich an der Grenze zur Autoreaktivität zu bewegen. "Die Abwägung zwischen Selbst- und Fremderkennung ist eine sehr heikle Balance", fasst Mori zusammen. Stimmt dieses Gleichgewicht nicht mehr, könnte womöglich selbst eine gewöhnliche Bakterieninfektion, bei T-Zellen die Neigung hinterlassen, im Myelin sitzende GSLs anzugreifen, wie es bei der Multiplen Sklerose geschieht.
Seine hohe Empfindlichkeit gegenüber potenziell Gefahr verheißenden fremden Substanzen erkauft sich das anpassungsfähige Abwehrsystem über eine grundsätzliche Reizbarkeit gegenüber einigen körpereigenen Molekülen. Immunologen halten das übrigens für unvermeidlich, schließlich lernen die Abwehrzellen viele feindliche Strukturmotive zuerst an eigenen Zellen kennen. Daher muss das Immunsystem über zahlreiche Mechanismen verfügen, mit denen es seine besonders selbstreaktiven Akteure ausschaltet. Sonst wären Autoimmunerkrankungen wohl die Regel und nicht die Ausnahme.
Gäbe es einen Club, der eine solche Identifikationsmethode verwendete, hätte der Türsteher keinen leichten Job. Er müsste die Mitglieder beispielsweise allein am charakteristischen Profil ihrer Ohrmuschel erkennen. Nach eingehendem Befingern der Erhebungen und Vertiefungen sowie etwaiger Besonderheiten wie eines verwachsenen Ohrläppchens oder eines massiven Rings sollte er zuverlässig bestimmen können, wer rein darf und wer draußen bleiben muss.
Immunzellen haben es natürlich nicht mit Ohren zu tun, sondern mit spezifischen Molekülmustern, die aus der Membran von Zellen und Viren herausragen. Sie sind auch – anders als der arme Türsteher – nicht allein, sondern zu Millionen. Unter diesen gibt es Spezialisten für jede individuelle Fremdstruktur – also quasi einen Türsteher, der sich mit Ohrläppchen auskennt, einen für Helixverdickungen, einen für Ohrringe, und so weiter. Die Fachkräfte des Immunsystems nun identifizieren ihre Zielstrukturen an deren räumlichen und elektrostatischen Kennzeichen. Manche sind dabei eher auf bestimmte Proteine, andere eher auf fett- oder zuckerhaltige Oberflächenanhängsel spezialisiert.
Weil sich Mensch und Mikrobe zur Dekoration ihrer Membranen aus dem gleichen evolutionären Baukasten bedienen, kommt es mitunter vor, dass sie teils sehr ähnliche Moleküle verwenden. Für das Abwehrsystem kann das zum Problem werden, wenn Immunzellen, statt passgenau auf eine feindliche Struktur, auch zu einem gewissen Grad auf das körpereigene, ähnliche Pendant anspringen.
Eine solche Kreuzreaktion – das Einstufen des Selbst als fremd – kann im Extremfall zu so genannten Autoimmunerkrankungen führen, bei denen das Immunsystem körpereigene Gewebe angreift. Beispiele sind die Multiple Sklerose (MS) und das Guillain-Barré-Syndrom. Bei diesen Krankheiten wählen Immunzellen unter anderem Sphingolipide als Ziel – fetthaltige Membranmoleküle.
Sphingolipide bezeichneten Forscher lange als die "Sphinx unter den Lipiden", weil ihre Funktion ihnen, wie das mysteriöse Mythenwesen, Rätsel aufgab. Inzwischen ist klar, dass sie zur Stabilität von Membranen beitragen und helfen, Signale ins Innere einer Zelle zu leiten. Beim Menschen kommen sie besonders häufig im Zentralnervensystem vor, wo sie in die fettige weiße Myelinschicht, die lange Nervenfasern umhüllt, eingebettet sind. Diese Myelinscheiden sind es auch, die bei der MS durch Entzündungen schubweise zerstört werden.
Am Universitätshospital Basel beschäftigt sich die Arbeitsgruppe von Gennaro de Libero ebenfalls mit den zuckerhaltigen Glykosphingolipiden (GSL) – beziehungsweise mit einer bestimmten Sorte von Immunzellen, die diese GSLs erkennen. Wenn die Zellen ein solches passendes Lipid gefunden haben, veranlassen sie wiederum andere Abwehragenten, so genannte T-Zellen, sich zu vermehren und sich auf die Jagd nach den Trägern dieser Lipide zu machen. Das ist im Normalfall sehr nützlich: Glykosphingolipide sind in der Zellwand der meisten Mikroben allgegenwärtig.
Schon seit längerem vermuten Forscher Infektionen mit Viren und Bakterien als mögliche Ursache für Autoimmunkrankheiten. Für de Libero lag es daher nahe, sich an seinem Modellsystem GSL-sensitiver Zellen genauer anzuzschauen, was bei Infektionen schief laufen könnte und die Körperabwehr auf die falsche Fährte lockt. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam konfrontierte er die Immunzellen mit Sphingolipiden aus Bakterien und Bruchstücken aus deren Zellwand – und erlebte eine Überraschung.
Zunächst beobachtete er, dass die Lipide bindenden Rezeptorzellen die T-Zellen zu einer Immunantwort antrieben – das war noch zu erwarten. Dann aber maßen die Forscher die einsetzende Produktion entsprechender menschlicher GSLs. Dadurch kamen rasch sehr viele Lipide – quasi Attrappen der feindlichen Moleküle – in Umlauf, worauf hin sich die Abwehrreaktion der T-Zellen nochmals potenzierte. Problematisch an diesem Verstärkungsmechanismus ist indes, dass er die Körperabwehr – auch über die akute bakterielle Infektion hinaus – auf die eigenen Sphingolipide scharf stellt.
Der Effekt zeigte sich übrigens bei Zugabe von Membranlipiden verschiedener, auch nicht pathogener Bakterien. Außerdem stammten die Immunzellen von gesunden Spendern, wie Lucia Mori, eine Mitarbeiterin de Liberos, anmerkt. Demnach scheine es für das Immunsystem durchaus normal zu sein, sich an der Grenze zur Autoreaktivität zu bewegen. "Die Abwägung zwischen Selbst- und Fremderkennung ist eine sehr heikle Balance", fasst Mori zusammen. Stimmt dieses Gleichgewicht nicht mehr, könnte womöglich selbst eine gewöhnliche Bakterieninfektion, bei T-Zellen die Neigung hinterlassen, im Myelin sitzende GSLs anzugreifen, wie es bei der Multiplen Sklerose geschieht.
Seine hohe Empfindlichkeit gegenüber potenziell Gefahr verheißenden fremden Substanzen erkauft sich das anpassungsfähige Abwehrsystem über eine grundsätzliche Reizbarkeit gegenüber einigen körpereigenen Molekülen. Immunologen halten das übrigens für unvermeidlich, schließlich lernen die Abwehrzellen viele feindliche Strukturmotive zuerst an eigenen Zellen kennen. Daher muss das Immunsystem über zahlreiche Mechanismen verfügen, mit denen es seine besonders selbstreaktiven Akteure ausschaltet. Sonst wären Autoimmunerkrankungen wohl die Regel und nicht die Ausnahme.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.