Essen in Gesellschaft: Kleine Psychologie der gemeinsamen Mahlzeit
Gemütlich zusammensitzen, gut essen und viel trinken: So feiern wir gerne im Kreise der Liebsten. Das Gelage zieht sich über mehrere Stunden, und am nächsten Morgen zeigt die Waage ein dickes Plus. Das muss aber nicht der eigenen Lust an der Völlerei geschuldet sein. Vielmehr könnte ein verbreitetes psychologisches Phänomen dahinterstecken: In Gesellschaft fällt es besonders schwer, maßvoll und gesund zu essen.
Dennoch – oder vielleicht auch deswegen – speisen die meisten Menschen lieber in Gesellschaft als allein. Das Ritual der gemeinsamen Mahlzeit verbindet, erklärt der Sozialpsychologe Robin Dunbar von der University of Oxford nach einer repräsentativen Umfrage unter rund 2000 Erwachsenen im Vereinigten Königreich. Mehr als 90 Prozent aßen den eigenen Angaben zufolge zumindest manchmal zusammen mit Familie oder Freunden. Und je häufiger sie das taten, desto mehr Menschen gab es in ihrem Leben, auf die sie sich verlassen zu können glaubten. Das gemeinsame Mahl förderte tatsächlich ein Gefühl von Verbundenheit, stellte Dunbar fest. Das Vertrauen steigt, wenn man auch noch die gleichen Speisen oder sogar vom selben Teller isst.
Die Kehrseite: Mitunter essen wir nur den anderen zuliebe. Das legt ein Experiment nahe, zu dem US-Forscherinnen rund 100 Studierende ins Labor eingeladen hatten. Nachdem diese in einem Fragebogen Auskunft über sich gegeben hatten, sollten sie gemeinsam mit einer weiteren Versuchsperson – eine Verbündete der Forscherinnen – noch eine Weile warten und bekamen dazu eine Schüssel Schokolinsen. Die Verbündete holte sich ein paar und bot sie auch den echten Versuchspersonen an (»Would you like some?«). Rund 80 Prozent griffen zu, und sie nahmen im Mittel die gleiche Anzahl Schokolinsen wie der Lockvogel. Je mehr die Studierenden gemocht werden wollten, desto eher aßen sie mit – vor allem wenn sie glaubten, dass das von ihnen erwartet würde.
Beim gemeinsamen Essen geht es aber nicht nur darum, gleich viel zu verspeisen wie die anderen. Sich ungesund zu ernähren, wirkt per se schon sympathisch, berichten die Forscherinnen. Wer wenig oder gesund esse, bekomme zwar Respekt und erscheine attraktiver, intelligenter, moralisch höher stehend – aber auch weniger nett und humorvoll. Im Zweifelsfall darf es außerdem gerne etwas zu viel sein: Frauen mögen andere Frauen lieber, wenn sie mehr essen als sie selbst.
Mitessen macht beliebt
Hinter dem sozial motivierten Essen steht das Bedürfnis, von anderen akzeptiert und gemocht zu werden, fand ein Team um Eric Robinson und Suzanne Higgs an der University of Birmingham schon 2011 heraus. Ihre Probandinnen sollten zu zweit ein Problem lösen und bekamen dazu Schokolinsen oder Popcorn. Wurde vorab dafür gesorgt, dass sich die Frauen sozial akzeptiert fühlten, sank ihr Impuls, den Süßigkeitenkonsum der Mitstreiterin nachzuahmen. Was zur Folge hatte, dass sich bei diesen Zweierteams die verspeisten Süßigkeitenmengen weniger ähnelten als bei denen, die kein Gefühl von Akzeptanz eingeimpft bekamen. Robinson und Higgs deuten deshalb die Tendenz, sich beim Essen am Gegenüber zu orientieren, als »ingratiation« – Einschmeicheln.
Das Nachahmen beim Essen gibt es unter Freunden, Fremden und auch in Familien, wie Higgs und Robinson gemeinsam mit Kollegen beobachteten. Sie filmten 38 Töchter beim Mittagessen mit einem Elternteil. Wenn Vater oder Mutter nach einer bestimmten Speise griffen, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sich in den folgenden 2 bis 15 Sekunden genau dasselbe einverleibte.
»Den Leuten ist nicht bewusst, wie sie sich vom sozialen Kontext beeinflussen lassen«Psychobiologin Suzanne Higgs, University of Birmingham
Suzanne Higgs ist Professorin für die Psychobiologie des Essens und erforscht seit mehr als 25 Jahren das menschliche Essverhalten. Doch von einem ihrer jüngsten Befunde war sie überrascht: Die Befragten glaubten, dass sie sich bei einem gemeinsamen Essen kleinere Portionen nehmen würden als beim Essen allein. Das Gegenteil sei der Fall, berichtet Higgs. »Den Leuten ist offenbar nicht bewusst, wie sie sich vom sozialen Kontext beeinflussen lassen.«
Damit wir uns an anderen orientieren, müssen diese nicht einmal anwesend sein. Es genügt eine Information über das vermeintlich »normale« Essverhalten – etwa die Menge an Cookies, die andere Versuchspersonen angeblich zuvor gegessen haben, wie erneut ein Team um Higgs und Robinson beobachtete. In einer Übersicht über 15 Experimente kommen sie zu dem Schluss: Eine Information darüber, was und wie viel andere essen, bestimmt mit, was und welche Menge wir für angebracht halten. Und wenn wir diese soziale Norm bewusst verarbeiten, wird uns ihr Einfluss auf unser eigenes Verhalten auch eher bewusst.
Weniger offensichtlich ist der Effekt der Portionsgröße. Die niederländischen Sozialforscherinnen Iris Versluis und Esther Papies setzten ihren Versuchspersonen entweder eine kleine oder eine große Portion auf dem stets gleich großen Teller vor: mal Reis, mal Nudeln, Chips oder Cookies. Von den großen Portionen wollten die Leute mehr essen – je nach Nahrungsmittel bedeutete das ungefähr 100 bis 300 Kalorien mehr. Wenn sich die Portionsgröße angeblich an einer Mehrheit orientierte, war der Effekt größer. In einem vertrauten Umfeld wirkte sich die Portionsgröße sogar noch stärker aus als im Labor.
Fazit: Wir lassen uns beim Essen von vielen Einflüssen lenken. Unsere eigenen Maßstäbe bestimmen zwar mit, was wir als normal und richtig empfinden. Aber beim gemeinsamen Essen kommt es auch darauf an, was wir für sozial erwünscht halten und wie sehr wir den Tischgenossen gefallen wollen. Wer den impliziten Verhaltenscodes folgt, fühlt sich der Bezugsgruppe verbunden und stillt sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Nur: Ist das Essen selbst dabei wirklich so entscheidend? Der Sozialpsychologe Robin Dunbar hat untersucht, was genau die Menschen beim gemeinsamen Essen näher zusammenbringt. Demnach fühlten sie sich denen am nächsten, mit denen sie zusammen lachten, in Erinnerungen schwelgten und Alkohol tranken. Es könne zwar auch sein, dass das gemeinsame Essen dazu beiträgt, sagt Dunbar. Doch vielleicht dient es nur als Gelegenheit für andere, wichtigere Dinge: miteinander zu trinken, zu reden und zu lachen.
Gegenmaßnahmen: Bewusster essen
- Normen erkennen. Eine Studie der Universität Antwerpen von 2023 wertete 375 Werbeclips für Nahrungsmittel aus. Clips, die mehrere Menschen zusammen zeigten, warben eher für ungesunde oder kalorienreiche Lebensmittel – während eine einzelne Person eher mit gesunden, kalorienarmen Produkten verbunden wurde. Der Zuschauer lernt: Ungesundes Essen gehört zum gemütlichen Beisammensein einfach dazu.
- Die Normen verändern.Ob das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Doch möglich ist es: Als man Studierende in einem Experiment darüber informierte, dass die meisten anderen Studierenden Gemüse mögen, stieg bei den Gemüseverächtern der Brokkolikonsum (allerdings nicht der von Gurken und Sellerie).
- Die Situation bedenken. Laut einer Studie niederländischer Forscherinnen von 2022 entscheiden sich die Menschen im Restaurant bei der Essenswahl eher nach Geschmack und nach sozialen Aspekten, während ihnen daheim die Gesundheit wichtiger ist.
- Gute Vorbilder suchen. In Experimenten mit Gruppen von je drei Freunden wurden jeweils zwei heimlich instruiert, weniger zu essen. Der Dritte aß dann in Gesellschaft der beiden anderen ebenfalls weniger, verglichen mit den Gruppen, in denen niemand eine Instruktion bekommen hatte. Und das Verhalten der Freunde beeinflusste den Dritten nicht nur beim gemeinsamen Essen, sondern auch später, als er wieder allein war.
- Langsam und bewusst essen. Eine Unterhaltung mit anderen kann von der bewussten sensorischen Wahrnehmung ablenken und die Sättigung verzögern. In Gesellschaft können wir deshalb mehr essen, ohne uns zu überessen. Große Happen und schnelles Schlingen tragen ebenfalls dazu bei. Wer bewusst, langsam und lange kaut, kann dem entgegenwirken.
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