News: Eine kurze Geschichte Chinas
Ein Fünftel der Erdbevölkerung lebt in China. Überraschenderweise wurde die genetische Vielfalt dieses riesigen Landes jedoch bisher kaum untersucht. Das könnte sich jedoch bald ändern: Dank der gemeinsamen Anstrengung verschiedener Institute, die am Chinese Human Genome Diversity Project (CHGDP) teilnehmen.
In den Proceedings of the National Academy of Sciences vom 29. September 1998 (Abstract) ist ein Bericht von acht der am CHGDP teilnehmenden Instituten erschienen. Die Teammitglieder, durchgehend Chinesen, kommen aus allen Gegenden der Volksrepublik und erhielten zusätzliche Hilfe aus Taiwan. Die Wissenschaftler studierten die genetische Vielfalt Chinas in zuvor nicht gekannter Detailliertheit. Obwohl die Arbeit erst vorläufig ist, könnte sie ein Licht nicht nur auf die Geschichte Chinas, sondern auch auf die ganze Menschheit werfen.
Über 93 Prozent der Chinesen gehören zur ethnischen Gruppe der Han, die mit Nordchina in Verbindung gebracht wird. Ihr Name geht auf die von 206 vor bis 220 nach Christus herrschende Han-Dynastie zurück. Die restlichen 6,7 Prozent der Bevölkerung – um die 100 Millionen Menschen – zählen zu den 55 offiziell anerkannten nationalen Minderheiten. Die Hälfte dieser Gruppierungen lebt in nur einer einzigen von Chinas 28 Provinzen: der Yunnan-Provinz im äußersten Süden des Landes. China teilt sich kulturell deutlich abgrenzbar in eine nördliche und eine südliche Region auf, wobei die Trennlinie grob zwischen den Tälern der beiden großen Flüsse des Reiches verläuft, dem Huang Ho und dem Yangtze. Die kulturellen Unterschiede gehen sehr tief: Der Norden ist ethnisch und linguistisch homogener als der vielfältigere Süden, was seine Wurzeln vielleicht in der reichhaltigeren Ökologie und Geographie Südchinas hat.
Doch wie ist dieser Unterschied entstanden? Haben die Chinesen des Nordens und Südens eine lange, getrennte Geschichte, die bis vor den Beginn der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren zurückreicht? Und stammen die Südchinesen ursprünglich aus dem Norden oder umgekehrt? Oder verlief die Geschichte komplexer und war durch unterschiedliche Migrationsprozesse zu verschiedenen Zeiten geprägt?
Um diese Fragen zu klären, betrachteten die Forscher bestimmte Bereiche des menschlichen Genoms, die Mikrosatelliten-DNA, die sich durch kurze DNA-Sequenzen mit einer hohen Wiederholungsrate auszeichnen. Mikrosatelliten mutieren recht bereitwillig und diese Mutationen sammeln sich mit der Zeit an. Genetische Unterschiede in diesen DNA-Abschnitten stellen so ein gutes Maß für die Distanz einer genetischen Beziehung dar, besonders für Verbindungen eng miteinander verwandter ethnischer Gruppen. Die Mikrosatelliten-DNA unterstützt auch Schlußfolgerungen aus anderen Beweisführungen, die besagen, daß Nord- und Südchinesen eine klare, voneinander abgegrenzte genetische Vergangenheit haben. Trotzdem sind die Ergebnisse – vielleicht zwangsläufig – nicht ganz eindeutig. Einige linguistisch oder ethnisch "nördliche" Gruppen ähneln genetisch den Südgruppen.
Die Wissenschaftler vermuten, daß die beste Erklärung für das Muster, das sie in ihren Daten finden, die ist, daß die Nordchinesen – und mit ihnen alle Chinesen – aus dem Süden stammen. Diese Auffassung paßt anscheinend auch am besten zu anderen Beweisen. Außerdem stützt sie die verbreitete Theorie, daß alle neuzeitlichen Menschen von einer ursprünglich afrikanischen Population abstammen, die ihren Kontinent vor etwa 100 000 Jahren verlassen hat. Diese These ist äußerst umstritten. Eine ältere Hypothese allerdings, nach der die neuzeitlichen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt ihre Vorfahren eine Million Jahre bis zu regionalen Populationen des Homo erectus zurückverfolgen können, wird im allgemeinen durch das genetische Beweismaterial entkräftet. Trotzdem wurden charakteristische fossile Menschenschädel mit Merkmalen, die angeblich den chinesischen Homo erectus mit der modernen chinesischen Bevölkerung verbinden, zur Unterstützung dieser Idee der "multiregionalen Kontinuität" angeführt.
Die chinesischen Forscher weisen diese Vorstellung zurück. Ihrer Ansicht nach betraten moderne Menschen Ostasien entlang der südostasiatischen Küste, wobei sie vermutlich mögliche einheimische Populationen ersetzten, die vom Homo erectus abstammten. Diese Überlegung paßt am besten zu genetischen und archäologischen Daten über die Besiedlung Australiens vor 50 000 bis 60 000 Jahren. Die südostasiatische Bevölkerung, aus der sich die modernen Australier entwickelten, ließ sich in Indochina nieder, bewegte sich jedoch auch nach Norden: Zuerst nach Südchina und dann in den Norden des Landes, wobei sie sich bis nach Zentralasien, Japan und Sibirien ausbreitete, um schließlich, vor ungefähr 13 000 Jahren, in die beiden Teile Amerikas vorzustoßen.
All dies geschah lange vor der Entwicklung des Ackerbaus, der in mindestens drei Teilen Chinas vor annähernd 10 000 Jahren getrennt entstand. Die kulturelle Homogenität Nordchinas – zusammen mit Wellen nordsüdlicher Migration – entwickelte sich dagegen aufgrund sehr viel jüngerer Ereignissse, die allerdings durch das sehr alte Süd-Nord-Muster geprägt waren – die ursprüngliche Besiedlung Chinas durch den modernen Menschen.
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.