Werther-Effekt: Eine Million Suchanfragen mehr nach "Suizid"
In der Netflix-Serie "13 Reasons Why" (deutsche Fassung: "Tote Mädchen lügen nicht") erzählt ein Mädchen über 13 Folgen hinweg seiner Nachwelt, warum es sich das Leben genommen hat. Schon beim Start der Serie hagelte es Kritik: Die Darstellung könne zur Nachahmung animieren, warnten Psychologen. Diese Befürchtung bestätigten US-Forscher nun in der Fachzeitschrift "JAMA Internal Medicine". Die Zahl der häufigsten Google-Abfragen, die den Begriff Suizid enthielten, nahm demnach um knapp ein Fünftel zu.
17 der 20 verbreitetsten Suchwortkombinationen wurden vermehrt eingegeben, darunter "how to commit suicide" (plus 26 Prozent), "suicide prevention" (plus 23 Prozent), "commit suicide hotline" (plus 18 Prozent) und "suicide hotline" (plus 12 Prozent). Insgesamt kam es in einem Zeitraum von knapp drei Wochen zu 900 000 bis 1,5 Millionen Suchanfragen mehr, als statistisch zu erwarten waren. Das Team um den Epidemiologen John W. Ayers von der San Diego State University in Kalifornien hatte sich auf die 19 Tage nach Serienstart beschränkt, weil am Tag darauf ein prominenter Suizid durch die Medien ging und die Daten zu kontaminieren drohte.
"Die Serie könnte viele dazu inspiriert haben, nach Suizidmethoden zu suchen, um ihre Gedanken in die Tat umzusetzen", kommentiert Ayers. Dieser so genannte Werther-Effekt wurde vielfach belegt; der Name geht auf eine Welle von Selbsttötungen nach Veröffentlichung von Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" zurück. Medienberichte über Suizide fördern Nachahmungstaten, warnt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Beispielsweise verdoppelte sich in den vier Wochen nach dem Suizid des deutschen Fußballprofis Robert Enke die Zahl derer, die sich wie er auf Bahnschienen das Leben nahmen.
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Aus diesem Grund beschränken sich seriöse Medien auf eine knappe Meldung, wenn ein Prominenter von eigener Hand stirbt. "Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid", so fordert es der Deutsche Presserat in seinen Grundsätzen. Die Unterhaltungsindustrie sollte sich das ebenfalls zu Herzen nehmen – nicht nur, was Suizide angeht, sondern bei jedweden Gewaltszenen. Realistisch sind solche Zugeständnisse allerdings nicht. Immerhin könnte man die Filmindustrie verpflichten, entsprechende Präventionsforschung zu finanzieren. Ungeklärt ist bislang beispielsweise, ob es Möglichkeiten gibt, Suizide und andere Formen der Gewalt so darzustellen, dass etwaige Nachahmer eher abgeschreckt werden.
Im Fall von "13 Reasons Why" ist das eher nicht gelungen. Die Serie endete zwar damit, dass sich der Protagonist einem anderen Mädchen zuwendet, anstatt weiter der verstorbenen Hannah nachzutrauern. Leider haben die Macher der Serie aus der Kritik anscheinend nichts gelernt, denn Medienberichten zufolge soll die Verstorbene in der zweiten Staffel weiterhin eine Rolle spielen. Den Zuschauern vermitteln sie damit erneut: Wer sich das Leben nimmt, macht sich unsterblich.
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