Finde den Fehler: Eine Million US-Dollar für Klärung der abc-Vermutung
Für Zahlentheoretiker glich das Jahr 2012 einer Achterbahnfahrt: Der renommierte Mathematiker Shinichi Mochizuki veröffentlichte einen Beweis der abc-Vermutung, einer der wichtigsten offenen Fragen auf dem Gebiet. Doch schnell machte sich Ernüchterung breit: Die Fachleute hatten nicht weniger als 500 Seiten mit einem völlig neuen Formalismus vor sich, den Mochizuki 20 Jahre lang im Alleingang entwickelt hatte. In den vergangenen zehn Jahren biss sich die Fachwelt an seinem Beweis die Zähne aus. Selbst mehrere Konferenzen konnten keine Klarheit über den Status der abc-Vermutung schaffen. Um das zu ändern, hat Nobuo Kawakami, der Gründer des japanischen Medien- und Telekommunikationsunternehmens DWANGO, nun ein Preisgeld von bis zu einer Million US-Dollar ausgeschrieben.
Auf den ersten Blick wirkt die abc-Vermutung harmlos: Sie beschäftigt sich mit zwei natürlichen Zahlen a und b und deren Summe a + b = c. Wie in der Zahlentheorie üblich, hat die abc-Vermutung mit den Primteilern der Zahlen zu tun. Jede Zahl lässt sich durch ein Produkt aus Primzahlen darstellen, etwa: 15 = 3·5 oder 324 = 22·34. Letzteres ist ein Beispiel für eine »reiche« Zahl, denn sie hat viele gleiche Primteiler (die 2 kommt zweimal und die 3 viermal vor). Solche Zahlen sind selten. Und noch seltener ist die Summe aus zwei reichen Zahlen erneut reich. Darum dreht sich die abc-Vermutung, die die beiden Mathematiker Joseph Oesterlé und David Masser 1985 formuliert haben: Sie gibt eine Art Maß dafür an, wie »reich« die Summe zweier Zahlen sein kann. Das Besondere an der Vermutung ist, dass sie die additiven mit den multiplikativen Eigenschaften natürlicher Zahlen verbindet.
Da die Gleichung a + b = c so einfach ist, hängen viele andere Probleme damit zusammen. Zum Beispiel der Große Satz von Fermat, der sich mit Lösungen der Form an + bn = cn beschäftigt und Fachleuten mehr als 350 Jahre lang Kopfzerbrechen bereitete. Andrew Wiles konnte Mitte der 1990er Jahre beweisen, dass diese simple Gleichung für n > 2 keine ganzzahligen Lösungen a, b, c besitzt. Diese Tatsache würde aber auch direkt aus der abc-Vermutung folgen, falls sie wahr ist. Die Vermutung würde zudem einige offene zahlentheoretischen Fragen beilegen und könnte zu einem wichtigen Werkzeug in dem Bereich werden – insbesondere, wenn man sie mit elliptischen Kurven verbindet.
Lauert im 500-seitigen Beweis ein Fehler?
Deswegen stürzten sich nach der Veröffentlichung etliche Zahlentheoretiker und Zahlentheoretikerinnen auf Mochizukis viel versprechende Arbeit. Der japanische Mathematiker von der Universität Kyoto hatte in der Vergangenheit bereits bedeutende Ergebnisse erzielt. Doch seine »Inter-universal Teichmüller theory« (kurz: IUT), die die abc-Vermutung bestätigen soll, ist von seitenlangen Definitionen und Theoremen gefüllt, deren Beweise häufig nur lauten: »Der Beweis folgt aus der Definition.« Dieser ungewöhnliche Stil setzt sich über insgesamt rund 500 Seiten fort – die sich auf weitere 500 Seiten vergangener Arbeiten des Mathematikers stützen. Und der machte es seinen Kolleginnen und Kollegen nicht einfach: Er lehnte es ab, seine Ergebnisse im Ausland zu präsentieren, so dass einige Konferenzen zu dem Thema meist ohne ihn stattfanden.
2018 kam es schließlich zum Eklat: Der Mathematiker Peter Scholze und sein Kollege Jakob Stix veröffentlichten die Arbeit »Why abc is still a conjecture« (Warum die abc-Vermutung noch immer eine Vermutung ist). Darin behaupten sie, »eine ernste, unlösbare Lücke« in einem Beweis von Mochizuki gefunden zu haben. Die beiden Zahlentheoretiker reisten sogar nach Japan, um mit ihm darüber zu diskutieren. Doch die drei Fachleute kamen auf keinen gemeinsamen Nenner: Die Unklarheiten im Beweis blieben für Stix und Scholze offen, während Mochizuki behauptete, seine beiden Kollegen würden Objekte gleichsetzen, die sich in Wahrheit unterscheiden, und daher falsche Schlüsse ziehen.
Zu weiteren Kontroversen kam es im Jahr 2021, als Mochizukis Beweis in überarbeiteter Form im Fachjournal »Publications of the Research Institute for Mathematical Sciences« erschien, deren Chefredakteur Mochizuki selbst war. Allerdings ist das nicht ungewöhnlich: Mathematiker veröffentlichen häufig ihre Arbeiten in Zeitschriften, bei denen sie als Redakteure arbeiten. Wichtig ist nur, dass sie nicht an der Begutachtung beteiligt sind. Scholze sah ein Problem darin, dass der Beweis aus seiner Sicht noch immer unvollständig ist.
Eine Million US-Dollar als Motivation
Trotz der Veröffentlichung können die meisten Zahlentheoretiker dem Beweis noch immer nicht folgen. Obwohl Mochizuki einen hervorragenden Ruf in seinem Fach genießt, sind die meisten Fachleute der Meinung, dass er die abc-Vermutung nicht bewiesen hat. Das Rätsel um a + b = c ist also noch offen.
Um diese Unsicherheit zu beseitigen, hat der eingangs erwähnte Gründer des japanischen Medien- und Telekommunikationsunternehmens DWANGO, Nobuo Kawakami, nun die Initiative ergriffen. Er sei zwar selbst kein Mathematiker, sehe aber die IUT-Theorie als wichtigen Beitrag des Fachs an, berichtet »New Scientist«. Daher gab Kawakami im Juni 2023 bekannt, in den nächsten zehn Jahren jährlich eine Arbeit, die bedeutende Fortschritte im Bereich der IUT-Theorie von Mochizuki macht, mit 20 000 bis 100 000 US-Dollar auszuzeichnen. Die erste Ausschüttung soll 2024 stattfinden: Kawakami wird selbst entscheiden, welche begutachtete Veröffentlichung das Geld erhält.
Findet hingegen jemand einen ernsthaften Fehler in der Theorie, bekommt die Person eine Million US-Dollar. Mit diesem Preisgeld wolle er mehr Menschen dazu motivieren, auf diesem Gebiet zu forschen, sagte Kawakami auf einer Pressekonferenz. Denn nach Ansicht von Experten gibt es weltweit nur etwa zehn Leute, die sich bisher gut mit der IUT-Theorie auskennen. Es bleibt also abzuwarten, ob Kawakamis Bemühungen Früchte tragen und die offenen Fragen um die abc-Vermutung bald ein für alle Mal geklärt werden.
Am 31. Juli wurde der Text leicht geändert, um zu verdeutlichen, dass es zwar Anhänger von Mochizukis Beweisvorschlag gibt, die Mehrheit der Zahlentheoretiker jedoch der Meinung ist, dass die abc-Vermutung unbewiesen bleibt.
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