Eine Portion Forschung: Geliermittel, die Umwälzung des Glibbers
Wie sich die Struktur einer Speise ziemlich gründlich verändern lässt? Indem man geliert. Der Prozess beginnt mit Eiweißfäden, die das Lebensmittel von allen Seiten durchdringen, einspinnen und letztlich in eine gallertartige Konsistenz überführen. Die Proteine zum Gelieren werden dazu aus Tier- oder Algenresten herausgekocht, wobei die westliche Koch- und Backzunft bis vor Kurzem noch recht einseitig vorging.
Das für lange Zeit nahezu konkurrenzlose Geliermittel der Wahl: »Fischleim« als tierische Proteinquelle. Man holte den Leim anfangs tatsächlich aus Fisch; heute ist es meist preiswerter und einfacher, Schlachtabfälle von Schweinen und Rindern zu verwerten, was eine zunehmende Zahl an Menschen für unappetitlich bis unvertretbar hält. Doch dazu später mehr.
In Asien waren Gelees auf Algenbasis bereits Ende des 17. Jahrhunderts populär. Die ersten fernöstlichen Gelees waren dank der Beobachtungsgabe des Japaners Minoya Tarozaemon entstanden. Er hatte bemerkt, wie sich in mit Rotalgen aufgepeppten Suppen gelartige Schlieren bilden, die warm, lauwarm und kalt gut mundeten. Das Konzept setzte sich durch.
In anderen Regionen der Welt sorgten Gelees erst im 18. Jahrhundert mit der Haute Cuisine von Koch Marie-Antonin Carême für Begeisterung. Sein Erfolg machte die kulinarische Innovation rasch in weiten Teilen der Bevölkerung populär, auch in den Küchen der Armeen Napoleons.
Die Entwicklung neuer Geliermittel
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts veränderte sich in der Welt der Geliermittel kaum etwas. Dann tat sich einiges, aus allerlei Gründen. Unter anderem war Gelatine aus Schlachtkühen nicht mehr gefragt. Als tierische Alternative boten sich nun Schweine an. Doch in manchen Kulturen kommt der Konsum von Schweinefleisch nicht in Frage. Das zwang zum Umdenken bei der Herstellung vieler Produkte, vor allem bei Süßigkeiten. Hinzu kam, dass neue Geliermitteln in anderen wachsenden Marktsegmenten immer beliebter wurden – nämlich für vegetarische und vegane, halal und koschere Produkte.
Der Markt hat sich aber noch aus einem weiteren Grund drastisch verändert: Mit Geliermitteln lässt sich die Textur von Speisen gezielt beeinflussen, und gerade in diesem Punkt hat eine kulinarische Revolution stattgefunden.
Bereits 1998 hatte das Restaurant »El Bulli« auf das Konzept der »heißen Gelees« gesetzt. Das Kochteam dort verwendete Agar-Agar, ein pflanzliches Geliermittel. Es wird aus den Zellwänden bestimmter Rotalgen gewonnen, die hauptsächlich aus den Inhaltsstoffen Agarose und Agaropektin bestehen, daher der Name.
Mehlfreie Nudeln dank Agar-Agar
Durch den Einsatz von Agar-Agar gelangten Gerichte wie heißes Apfelgelee und Roquefort-Eis auf die Speisekarte. Damit nicht genug, die neuen Geliermittel eigneten sich auch zur Herstellung von »mehlfreien Nudeln«, für die nur mehr eine Flüssigkeit der Wahl geliert und dann als Tagliatelle, Ravioli oder etwas anderes zurechtgeschnitten werden kann.
Und die Köche legten nach. Dank der kulinarischen Kreativität von Ferran Adrià fanden die Ideen des Japaners Tarozaemon ihren Weg in die westliche Küche. In England setzte Heston Blumental im Jahr 2005 in seiner Gaststätte »Fat Duck« neue Geliermittel ein, insbesondere Gellan, um Zubereitungen wie seinen berühmten »Hot and Cold Tea« zu kredenzen. In New York setzte Wylie Dufresne in seinem Restaurant »WD-50« auf innovative Geliermittel, etwa auf Methylzellulose, mit der er Erbsennudeln und Parmesan in Safranbrühe zubereitete. Die Nudeln formen sich, sobald man das Geliermittel zur heißen Flüssigkeit gibt.
Der verblüffendste kulinarische Trick gelang einmal mehr im »El Bulli«: Mit Alginat als Geliermittel perfektionierten die Molekularköche dort die »Sphärifizierung« und schufen so Melonenkaviar oder Erbsenravioli.
Kappa-Carrageen und Jota-Carrageen sorgen für kulinarische Innovationen
Alginat, das in Gegenwart von Kalzium geliert, erlaubt innen flüssige und außen gelierte Zubereitungen. Für andere spezielle Zwecke im gastronomischen Bereich haben sich weitere Geleebildner etabliert, etwa Carrageen.
Carrageen zählt heute zu den häufigsten Zusatzstoffen und ist ein pflanzliches Gelier- sowie Verdickungsmittel. Der Vielfachzucker wird in zahlreichen Lebensmitteln verwendet, etwa in Tortenguss, Puddingpulver, Frischkäse, Margarine, Eiscreme, fertigen Salatdressings oder Lightprodukten. Mit Hilfe von Carrageen lassen sich zudem Trübungen in Weinen beseitigen oder Fettpfropfen in Sahneflaschen verhindern.
Serie: »Eine Portion Forschung«
Was steckt in unseren Lebensmitteln? Wie ernähren wir uns in der Zukunft? Und welche Entwicklungen machen das möglich? Eine neue Videoserie von »Spektrum der Wissenschaft« und »Scientific American« serviert Ihnen fortan regelmäßig eine Portion Forschung.
Es gibt verschiedene Typen. Manche davon sind nicht nur in Supermarktprodukten, sondern auch in der gehobenen Küche gefragt. Kappa-Carrageen sorgt zum Beispiel für ein schnell aushärtendes Gelee – eine Eigenschaft, die sich eignet, um Speisen einen außergewöhnlichen Überzug zu verpassen. Daneben hat sich Jota-Carrageen einen Platz erobert: Es ermöglicht besondere Gerichte wie Olivenölpudding, den etwa das Team des »Les Moles« im Süden Tarragonas servierte.
Stoff für ein eigenes Kapitel liefern die Pektine. In der Konditorei haben sie längst ihren Platz etwa für Glasuren oder Toppings. Doch auch ihre Rolle verändert sich. Pektine sind zum Beispiel unverzichtbar bei speziellen Techniken wie der »LM Nappage«, mit der Gebäck eine Art überfrierfähiges Topping übergestülpt werden kann.
Gelieren als Mittel für schmackhaftes, weiches Essen?
Inwiefern auch pflanzliche Geliermittel gesundheitlich bedenklich sind, diskutieren Forschende kontrovers. Ein Beispiel: Wissenschaftlich ist zwar bisher nicht abschließend geklärt, ob Carrageen als Zusatzstoff tatsächlich gesundheitsschädlich ist. Doch er steht im Verdacht, bei empfindlichen Menschen allergische Reaktionen auszulösen oder etwa zu Bauchkrämpfen oder Durchfall zu führen. In Säuglingsnahrung sollte der Stoff laut dem Wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss der Europäischen Kommission nicht verwendet werden. Ein weiteres: Agar-Agar kann in größeren Mengen abführend wirken.
Manch Ernährungswissenschaftler hofft wiederum, dass sich Kranke und Alte mit Hilfe von Geliermitteln besser ernähren können. Bei Menschen mit der Schluckstörung Dysphagie beispielsweise gelangen Nahrung und Flüssigkeit nicht mehr richtig in den Magen, was es erschwert, wichtige Vitamine und Mineralien zu sich zu nehmen.
Mit Hilfe der Molekulargastronomie könnten sich im Sinne der medizinischen Ernährungstherapie pürierte Speisen schmackhafter und ästhetischer zubereiten lassen, schlug ein Team um Rebecca Reilly 2013 im »Journal of Nutritional Health and Food Science« vor. Die besondere Zubereitung würde sich demnach auch für Pflegeheime, Krankenhäuser und andere Gemeinschaftseinrichtungen eignen, in denen eine weichere Kost gewünscht ist. Und – noch weiter gedacht –, einer immer älter werdenden Weltbevölkerung womöglich kulinarischen Genuss sichern. Dieser Text ist zuerst bei »Investigacion y Ciencia« unter dem Titel »La revolución de los gelificantes« erschienen. Der Artikel wurde zur besseren Lesbarkeit angepasst.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.