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Topologie: Axiome, Wanderschaft und Schwarzwälder Kirschtorte

50 Mathematiker verbringen eine Woche an einem abgeschiedenen Ort im Schwarzwald. Wohin das führt, ist unklar – und genau das ist der Punkt.
Mathematiker an der Tafel

Wenn nicht gerade eine Coronapandemie herrscht, finden am mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach im Schwarzwald in den meisten Wochen des Jahres kleine Zusammenkünfte zu verschiedenen Themen der Mathematik statt. Ich hatte vor, mich für eine Woche unter die Experten zu mischen: mit ihnen das Brot zu brechen, an ihren Vorlesungen teilzunehmen, ihre Gespräche auf dem Flur zu belauschen und herauszufinden, wie es auf solchen Workshops zu mathematischen Entdeckungen kommt. Doch leider ist es nicht so einfach, nach Oberwolfach zu gelangen. Und geradezu unmöglich, sich unbemerkt dort einzuschleichen.

Von den USA ging es per Flugzeug nach Frankfurt, es folgte eine zweistündige Zugfahrt Richtung Süden, bis zu dem Städtchen Wolfach. Von dort aus führte die Reise mit einem Taxi 30 Minuten entlang des Flusses Wolf. Schließlich erblickte ich das Institut, das auf halber Strecke eines steilen Hügels thront und von einer immergrünen Waldfläche umgeben ist. Es ist wohl genau diese Abgeschiedenheit, die Großes ermöglicht.

Im Haus war es ruhig. Der Speisesaal leer, getaucht in seichtes Sonnenlicht des Spätnachmittags. Ein kleiner Postkartenständer, ich nahm eine Karte. Sie zeigte eine schwarz-weiße Momentaufnahme aus den 1950er Jahren: Mathematiker mit Hornbrille und Zigaretten in der Hand, einige von ihnen oberkörperfrei, wie in einem Ferienlager. Das Bild suggerierte Sommerhitze und das Schmieden neuer Ideen.

Keine Schlüssel, dafür eingeschränktes WLAN

In diesem Moment trat Annette Disch aus ihrem Büro. Sie arbeitet schon seit mehr als der Hälfte des 76-jährigen Bestehens des Instituts an der Rezeption. Sie führte mich durch die Anlage und erklärte mir den Grund für die Stille: Nachmittags würden sich die Mathematiker Vorträge anhören. In 25 Minuten würde der nächste beginnen. Das Abendessen fand stets um 18.30 Uhr statt. Meine Zimmernummer lautet 212. Als ich zögerte zu gehen, wusste sie, warum. »Wir haben keine Schlüssel in Oberwolfach«, sagte sie. »Aber Sie können Ihre Tür nachts von innen abschließen.«

Keine Schlüssel, eingeschränktes WLAN und Mahlzeiten im Familienstil mit zufällig zugewiesenen Sitzplätzen vor dem Mittag- und Abendessen. »Man will vermeiden, dass immer die gleichen drei Freunde miteinander sprechen«, erklärte mir Stefan Friedl, Professor an der Universität Regensburg und einer der Organisatoren der Veranstaltung. »Wir möchten die Leute zwingen, mit Kollegen zu reden, die sie vielleicht noch nicht kennen.«

»Wir haben keine Schlüssel in Oberwolfach«

Jeden Nachmittag wird Kuchen serviert, außer mittwochs: Dann wandern die Teilnehmer über Feldwege in das Dorf Oberwolfach, um dort Schwarzwälder Kirschtorte zu essen. Und es gibt Alkohol. Im Speisesaal befindet sich ein Kühlschrank gefüllt mit großen Bierflaschen, ein Fass Rotwein sowie Schnaps für einen Euro – alles Selbstbedienung und auf Vertrauensbasis, man soll die Münzen einfach in einen Kasten legen.

Erster Kurs: vierdimensionale Topologie

Das Thema des Workshops, zu dem ich angereist war, ist niedrig-dimensionale Topologie. Trotz des sperrigen Namens ist es ein Bereich der modernen Mathematik, der verhältnismäßig zugänglich ist.

Eine Linie ist eine eindimensionale Form. Die xy-Ebene ist zweidimensional. Eine Billardkugel ist dreidimensional. Das wussten Sie wahrscheinlich schon. »Niedrig-dimensional« bezieht sich auf solche Formen, bis einschließlich der vierten Dimension. Wenn Sie sich ein vierdimensionales Objekt nicht vorstellen können, machen Sie sich keine Sorgen; die meisten Mathematiker können es auch nicht.

»Topologie« bedeutet, dass man nur an bestimmten Eigenschaften eines Objekts interessiert ist. Man ignoriert die Winkel, genauen Längen und sogar die Anzahl der Seiten einer Form. Diese Eigenschaften fallen in den eng verwandten Bereich der Geometrie. Topologen untersuchen stattdessen, ob ein Objekt ein Loch hat, und wenn ja, wie viele. Sie fragen auch, welche Formen sich ohne zu zerreißen in andere umwandeln lassen – so als würde man mit Strukturen aus Knete arbeiten. Zudem bezeichnen Topologen die betreffenden Objekte nicht als Formen, sondern als Mannigfaltigkeiten.

Jeremy van Horn-Morris und Gordana Matic | Die beiden Wissenschaftler untersuchen die Struktur dreidimensionaler Mannigfaltigkeiten.

Das berühmteste topologische Ergebnis der letzten 40 Jahre ist eine Arbeit von Grigori Perelman, in der er 2003 bewies, dass alle dreidimensionalen Formen ohne Loch einer Kugel entsprechen. Egal ob Eiswürfel, Suppenteller oder Granatapfel – topologisch gesehen sind sie alle gleich.

Der erste Vortrag, dem ich am Dienstagmittag meiner Ankunft beiwohnte, war von Mark Powell von der Durham University, der in einem Hörsaal im Bibliotheksgebäude neben dem Speisesaal sprach. Das Hauptmerkmal des Raums waren sechs große, verschiebbaren Tafeln. Powell machte einen athletischen Eindruck, mit rasierten Kopf und Polohemd, das seinen Bizeps eng umspannte.

Fünf offene Probleme fordern die Kursteilnehmer

In seiner Präsentation gab er einen Überblick über den Stand der vierdimensionalen Topologie. Zusammengefasst lief es darauf hinaus, dass es noch viel zu tun gäbe. Bisher haben Topologen nur wenige Anhaltspunkte, um selbst die grundlegendsten vierdimensionalen Mannigfaltigkeiten zu identifizieren. Noch unklarer ist, wie man solche Formen voneinander unterscheiden und klassifizieren kann, was das letztendliche Ziel der Topologie ist. »Wir wissen nicht einmal, wie man die vierdimensionale Kugeloberfläche erkennen soll«, sagt Powell.

Um seine Aussagen zu unterstreichen, präsentierte der Mathematiker fünf offene Probleme der vierdimensionalen Topologie. Dazu gehörte die Vermutung von Schoenflies, bei der es darum geht, wie die dreidimensionale Kugel innerhalb der vierdimensionalen Kugel sitzt; sowie das so genannte Entknotungsproblem, das davon handelt, einen Nichtknoten zu erkennen. In allen anderen Dimensionen außer vier kennt man die Antworten auf die genannten Probleme.

Arbeitsraum in Oberwolfach

Damit verdeutlichte Powell den vielleicht größten Unterschied zwischen der Art und Weise, wie Mathematiker und Nichtmathematiker das Fach sehen. Letztere halten es für ausgeschöpft: »Was gibt es denn noch herauszufinden?«, werde ich immer wieder gefragt, wenn ich erzähle, ich sei ein Mathematikredakteur. Experten haben dagegen eine vollkommen andere Sichtweise. Sie betrachten die Mathematik als unbekannten Kontinent, den wir gerade erst begonnen haben zu erforschen.

Viele Köpfe, viel Wissen, viele neue Ideen

Beim Mittagessen saß ich neben Priyam Patel, einer jungen Mathematikerin von der University of Utah. Als wir an Tellern voller Schnitzel und Salat vorbeiliefen, erzählte sie mir, fast jede ihrer Veröffentlichungen sei aus einer gemeinsamen Arbeit mit anderen Mathematikern entstanden. Noch vor etwa 20 Jahren war das überaus selten, doch heute entspricht es eher der Norm. »Wenn man eine durchschnittliche Arbeit von 1920 mit einer heutigen vergleicht, ist die Anzahl der Autoren dramatisch gestiegen«, sagte der Teilnehmer David Futer von der Temple University.

»Wenn man eine durchschnittliche Arbeit von 1920 mit einer heutigen vergleicht, ist die Anzahl der Autoren dramatisch gestiegen«

Dafür gibt es viele Gründe. Einerseits vereinfacht die moderne Technologie die Zusammenarbeit. Zudem müssen Mathematiker in den einzelnen Bereichen viel mehr über Mathematik wissen als früher, um Fortschritte zu erzielen. Daher ist es sinnvoll, viele Köpfe an einen Tisch zu versammeln, die alle über ein unterschiedliches Wissen verfügen. Das motiviert offenbar viele Forscher, eine Woche in Oberwolfach zu verbringen.

Und Priyam erzählte mir dann auch, dass sie schon eine Zusammenarbeit im Auge habe. Sie hatte am Vormittag einen Vortrag von Katie Vokes vom Institut des Hautes Études Scientifiques in Frankreich gehört. Vokes beschrieb darin einen von ihr entwickelten Test, der beurteilt, wann bestimmte Arten von Mannigfaltigkeiten eine gewisse Eigenschaft besitzen. Insbesondere bestimmt der Test, wann Graphen, die mit »Oberflächen endlichen Typs« verbunden sind, hyperbolisch sind.

Weil Priyam mit eng verwandten Formen arbeitet, nämlich Oberflächen unendlichen Typs, wollte sie herausfinden, ob sich Katies Test für ihren Fall erweitern lässt. Sie plante daher, sich mit Katie auszutauschen. Als ich Priyam bat, zuhören zu dürfen, war sie überrascht: »Wenn man über Mathematik spricht, möchte man nicht immer andere Menschen um sich haben. Man befindet sich an einem sehr verletzlichen Ort«, erklärt sie. »Man lässt seine Ideen einfach fließen.« Dennoch willigte sie ein.

Durchdacht und vorsichtig trifft auf Einfach-mal-loslegen

Nach dem Mittagessen suchte ich nach Mathematikern, um sie bei der Arbeit zu beobachten. Im zweiten Stock fand ich Autumn Kent und Yair Minsky dicht nebeneinander an einem niedrigen Tisch sitzend. Ich fragte, ob ich mich zu ihnen setzen könne. Sie stimmten zu, es wirkte aber so, als hätten sie nur keinen höflichen Weg gefunden, abzulehnen.

Autumn Kent von der University of Wisconsin war mir aus einem Interview bekannt, das sie vor ein paar Jahren zum Thema Transfrau in der Mathematik gegeben hatte. Yair Minsky von der Yale University ist ein Mann mit grauem Bart und sanfter Art. Sie sprachen darüber, wie man dreidimensionale Mannigfaltigkeiten zusammenkleben könnte. Die Schwierigkeit besteht darin, die Grenzflächen der Objekte passend zu verformen, damit sie sich zusammenfügen. Autumn und Yair versuchten zu verstehen, wie sich dadurch die Eigenschaften der Mannigfaltigkeit verändern.

Autumn Kent und Yair Minsky | Beide Mathematiker diskutieren darüber, wie man Mannigfaltigkeiten zusammenkleben kann.

Autumn skizzierte mit Bleistift auf einem Papier verschiedene Formen und sprach darüber, wie ein passendes Werkzeug aussehen könnte. Ich stellte mir vor, die beiden würden ein Baumhaus bauen, statt über Mathematik zu diskutieren. Beide kennen die Grundlagen der Bautechniken, haben aber zusätzlich unterschiedliche Erfahrung bei ihren individuellen Projekten gesammelt. Außerdem weisen sie verschiedene Herangehensweisen auf: Yair wirkte sehr durchdacht und vorsichtig; dazu bereit, jeden Schritt doppelt durchzudenken, während Autumn, mit dem Bleistift im Anschlag, am liebsten direkt mit dem Hämmern begonnen hätte.

Sie zerlegten das Projekt in verschiedene Teile: wie man es aufbaut, welche Methoden man verwendet und so weiter. Sie versuchten etwa herauszufinden, wie der Verformungsprozess das Volumen bestimmter Bereiche innerhalb der Mannigfaltigkeit vergrößert. Falls sie das Volumen nicht kontrollieren könnten, müssten sie einen anderen Weg finden, um das Problem anzugehen.

»Manchmal stellt man sich nicht die richtigen Fragen, aber andere können das tun«

Das Auffälligste an Autumn und Yair war nicht ihr geheimnisvolles Vokabular oder die Glyphen auf Autumns Block. Es war die Art und Weise, wie sie miteinander redeten. Wenn sich Menschen unterhalten, dann tun sie das oftmals nicht mit voller Aufmerksamkeit. Wenn aber Mathematiker über ihr Fach sprechen, sind sie dabei umgemein fokussiert. Sie hören zu, als hinge ihr Leben davon ab.

Speed-Dating mit Kreide und Glyphen

Später am Nachmittag fand die erste Runde der Fünf-Minuten-Vorträge statt. Es war eine Art Speed-Dating für mathematische Ideen. Zwölf Forscher hatten jeweils fünf Minuten Zeit, um ihre Arbeit vorzustellen. Das Zeitlimit wurde strikt eingehalten. Saul Schleimer von der University of Warwick, einer der Organisatoren des Workshops – lange Haare, Jeans, Wanderschuhe – saß in der ersten Reihe mit einer Stoppuhr. Daneben Stefan Friedl mit Wandersandalen und einem aus der Form gekommenem weißen T-Shirt, in der Hand eine Pfanne und einen Metalllöffel. Diese schlug er aufeinander, um gesprächige Mathematiker von der Bühne zu jagen.

Mathematik mag abstrakt sein, aber die Vorträge sind physisch anspruchsvoll. Die Forscher sprachen schnell und mühten sich ab, ihre Erklärungen mit Kreide abzubilden. Schrieben sie ein falsches Symbol, wischten sie über die irrtümliche Stelle mit ihrer Hand, statt eine Pause zu machen, um einen Schwamm zu holen. Sie hoben und senkten schwere Tafeln, die nicht immer dort blieben, wo sie sollten.

Der Präsentationsstil war bewusst gewählt. Kreide und Tafeln bieten einige Vorteile gegenüber eine Powerpoint-Präsentation. Denn selbst für Experten ist es schwierig, anderen mathematischen Ideen zu folgen. Es braucht Zeit, um sie zu verarbeiten. Das Schreiben während des Vortrags zwingt die Redner, langsam über ihr Thema zu sprechen und ihr Publikum nicht mit einer Flut aus Informationen zu überschwemmen.

Während die Vortragenden etliche Symbole lieferten, hatte ich manchmal das Gefühl, sie könnten die anderen täuschen. Vieles klang wie Kauderwelsch. Doch plötzlich wurden einige Mathematiker um mich herum nervös. Aus anderen Teilen des Raums hörte ich Tuscheln. Schließlich hob jemand die Hand und fragte: »Sollte das nicht ein Größer-Zeichen sein statt eines Kleiner-Zeichens?« Der Sprecher erschrak, fand den Fehler, berichtigte ihn rasch und fuhr fort.

Kartenspiele und ein unpassendes Axiom

Wegen schlechten Wetters beschlossen die Organisatoren, die für Mittwoch geplante Wanderung zu verschieben. Stattdessen: wieder Präsentationen und fünfminütige Vorträge. Am Abend jedoch wurde es gesellig; die Leute saßen in Zweier- oder Dreiergruppen und unterhielten sich. An einem Tisch stellte Henry Segerman von der Oklahoma State University seine Sammlung von topologischen 3-D-gedruckten Formen aus.

Ausgelassenheit am Abend | Nach den Vorträgen nutzen die Teilnehmer ihre Freizeit, um gemeinsam Spiele zu spielen.

Im Mittelpunkt des Raums stand ein voller Tisch, an dem vor allem Doktoranden und jüngere Professoren ein Kartenspiel namens »The Mind« spielten, das häufig hysterisches Gelächter hervorrief. Friedl hatte mir über Skype versprochen, dass sich die Woche wie ein Familientreffen anfühlen würde. Das war für mich schwer vorstellbar gewesen. Jetzt verstand ich es.

Dann kam Priyam auf mich zu. Sie und Katie würden gleich anfangen, sich auszutauschen. Schnell holte ich mein Notizbuch, eine Flasche Bier und setzte mich auf einen Stuhl, um ihnen zuzuhören.

Priyam hoffte, Katies Test – der prüft, wann Graphen hyperbolisch sind – ließe sich auf Flächen unendlichen Typs erweitern. Eine effektive Technik in eine andere Umgebung zu verfrachten ist ein üblicher Weg, neue Entdeckungen zu machen. Dafür müssen Mathematiker allerdings erst verstehen, weshalb die Technik funktioniert. In der neuen Umgebung sind in der Regel nicht alle Bedingungen erfüllt, aber bestenfalls sind nicht alle zwingend notwendig.

»Um erfolgreich zu sein, muss man kommunizieren können«

David Futer formulierte eine leicht verständliche Analogie für diese Art von Arbeit: Es ist wie der Versuch, den Lieblingskuchen für Gäste zu backen, die keine Eier essen. »Man hofft, dass der gleiche Kuchen ohne die Eier immer noch schmeckt.«

Katie trug einen dicken Wollpullover und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck. Ihre Arbeit zu Oberflächen endlichen Typs basierte auf neun Bedingungen. Nach einer halben Stunde hatten sie zumindest das grobe Bild geklärt. Sie fanden heraus, dass Priyam Umgebung eine der Bedingungen nicht erfüllte. Priyam müsste also tatsächlich ohne Eier auskommen. Die beiden hofften nun, dass in der erweiterten Umgebung bestimmte andere Eigenschaften erfüllt sein würden. In diesem Fall würde der Test auch für Priyams Arbeit mit Flächen unendlichen Typs funktionieren – der Kuchen also immer noch schmecken. Allerdings konnten die beiden dies an diesem Abend nicht mehr klären.

Katie Vokes und Priyam Patel | Die beiden Forscherinnen überlegen, ob sich die Arbeit von Katie Vokes auf Priyam Patels Graphen erweitern lässt.

Mathematiker auf Wanderschaft im Nebel

Am Donnerstagnachmittag startete bei weitgehend klarem Himmel die verschobene Wanderung in die Stadt zur Schwarzwälder Kirschtorte. Etwa 20 Mathematiker nahmen am Ausflug teil. Wir teilten uns in zwei Gruppen auf: eine lief entlang der Straße in die Stadt, die andere kletterte einen bewaldeten Hügel hinauf, obwohl der Zustand der Waldwege nach dem Sturm am Vortag unsicher war. Ich schloss mich der mutigen Gruppe an und landete neben Anna Parlak, einer Doktorandin an der University of Warwick. Wir hatten vor dem Workshop bereits über Skype miteinander gesprochen, aber seit meiner Ankunft hatte ich nicht mehr viel von ihr gehört.

Nun liefen wir unter hohen Kiefern einen schlammigen Pfad hinauf, der von Reifenspuren durchzogen war. Ich suchte am Rand des Wegs nach trockenerem Boden, während ich versuchte, mit Anna Schritt zu halten, die von dem Aufstieg unbeeindruckt schien. Ich sagte ihr, dass mir ihr fünfminütige Vortrag am Nachmittag zuvor gut gefallen hatte. Darin hatte sie erklärt, zwei verschiedene Objekte – Arten von polynomischen Ausdrücken – sollten unter bestimmten Bedingungen immer gleich sein. Doch sie kannte Beispiele, bei denen das nicht der Fall war. Nach dem Vortrag hatte eine andere Mathematikerin sie gebeten, zu erklären, warum ihrer Meinung nach diese Gleichheit gelten sollte. Als sie es erklären wollte, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. »Manchmal stellt man sich nicht die richtigen Fragen, aber andere können das tun«, erzählte sie mir nun.

Die Gruppe machte an einer Kreuzung eine Pause und versuchte, verschiedene Wegweiser zu entziffern. Niemand war sich sicher, welchen Weg wir nehmen sollten. Jemand machte einen Witz darüber, dass Topologen einen schlechten Orientierungssinn hätten, der weniger Anklang fand als erwartet. Schließlich begannen ein paar Leute, den Weg ganz links hinaufzuwandern und wir folgten ihnen.

Ich sah Yair vor mir und beeilte mich, ihn einzuholen. Ob er und Autumn das Volumenwachstum in den Griff bekommen haben? Es sei ein Auf und Ab gewesen, sagte er: Als ich mich am Dienstag zum ersten Mal mit ihnen zusammengesetzt hatte, dachten sie, sie hätten eine Möglichkeit gefunden, aber am Mittwoch erkannten sie, dass es nicht funktionieren würde. Jetzt suchten sie nach einem neuen Ansatz.

Als wir schließlich aus dem Wald herausliefen, fragte ich Yair zu seiner Meinung über die Metapher mit den Eiern. Er entgegnete, Mathematik zu machen sei für ihn eher wie das Wandern in dichtem Nebel. Manchmal kommt man dorthin, wo man hin will, ein anderes Mal lichtet sich der Nebel gerade so weit, dass man feststellt, in die falsche Richtung gelaufen zu sein.

Metaphern sind im Überfluss vorhanden, wenn man über Mathematik spricht. Mal erforscht man einen fremden Kontinent, baut ein Baumhaus oder backt einen Kuchen. Oder man wandert im Nebel. Das liegt zum Teil daran, dass Mathematik auf hohem Niveau für Laien kaum vorstellbar ist. Selbst unter Experten erfordert sie effektive Kommunikation, oft gespickt von Anspielungen. Mathematische Ideen sind subtil und kompliziert. Sie auszudrücken ist wie der Versuch, eine starke Emotion in Worte zu fassen oder, um eine weitere Analogie zu ziehen, wie das Erzählen eines Traums, den man schnell vergisst. Angesichts der Schwierigkeit, über die einzelnen Themen zu kommunizieren, ist es hilfreich, gemeinsam Zeit im Wald zu verbringen.

Sind Topologen lustiger als Zahlentheoretiker?

Nach dem Kuchen liefen wir stadtauswärts am Fluss Wolf entlang. Die untergehende Sonne beleuchtete die steilen grünen Weiden auf den gegenüberliegenden Hügeln.

In meinen ersten Tagen in Oberwolfach fühlte sich jede Interaktion mit Mathematikern formal an, wie zwischen Fremden, die einander misstrauisch gegenüberstehen. Doch auf dem Heimweg an diesem Nachmittag hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sich mein Status in der Gruppe gewandelt hatte – sie bezogen mich fast liebevoll ein, obwohl ich kein wirklicher Teil des Teams war.

Ich wanderte mit vier Forschern, darunter Friedl. Sie wollten wissen, was ich von ihnen halte. Ich hatte bereits erfahren, dass sich Topologen als lustige Gruppe betrachteten. Einer der Teilnehmer hatte mir zuvor erzählt, er habe gehört, Oberwolfach fühle sich an wie eine Leichenhalle, wenn Zahlentheoretiker dort tagten. Ich bestätigte, mich gut amüsiert zu haben, zögerte kurz und sagte schließlich: »Ich glaube, die meisten Menschen haben eine falsche Vorstellung davon, wie Mathematiker sind.«

»Welche denn?«, fragte Richard Webb von der Manchester University, der am Vortag einen der verständlichsten Vorträge der Woche gehalten hatte. Ich kann nicht sagen, ob Webb das Stereotyp nicht kannte oder mich lediglich bat, es zu erläutern. »Dass Mathematiker«, wagte ich, »nicht mit anderen Leuten reden können.« Webb dachte ernsthaft darüber nach, bis er sagte: »Das trifft eher auf die Studenten zu«, aber Mathe sei wie alles andere: »Um erfolgreich zu sein, muss man kommunizieren können.«

Als sich der Kreidestaub legt, will niemand gehen

An diesem Abend versammelten sich alle zu einer zusätzlichen fünfminütigen Vortragsrunde. Die Bratpfanne und der Löffel waren auch wieder dabei, aber der Raum fühlte sich anders an, aufregender, als ob man nach Einbruch der Dunkelheit heimlich auf eine Feier schleichen würde. Es sprach sich herum, dass die Redner an diesem Abend ein Getränk in der Hand halten mussten. Vorne, neben den Tafeln und der Kreide, entkorkte Futer eine Flasche Rotwein und stellte eine Reihe von Gläsern auf.

Die meisten Vortragenden nippten nur ein paar Mal an ihren Getränk, aber Abigail Thompson von der University of California, schaffte es fast, ihr Glas zu leeren. Sie war die Letzte und sprach über einige Forschungsarbeiten, die auf einem neuen Theorem aufbauen, wonach sich alle vierdimensionalen Mannigfaltigkeiten in drei gleiche Teile zerlegen lassen. Ich machte mir eine kurze Notiz: Wenn ein neuer Ei-Ersatz auf den Markt kommt, gibt es eine Menge neuer Kuchen, die man backen könnte.

Selbst als sich der Kreidestaub gelegt hatte, wollte niemand gehen. Ein Mathematiker stürmte nach nebenan und kam mit zwei weiteren Flaschen Wein zurück. Die Leute schnappten sich Stühle und unterhielten sich in kleinen Gruppen. Jemand beschlagnahmte den Laptop, der zuvor für die Vorträge genutzt wurde, und projizierte ABBA-Videos auf die Leinwand.

Ich fand einen Platz mit einigen anderen im hinteren Teil des Raums. Viele von uns reisten am nächsten Tag ab, und die Gespräche wurden persönlicher: Flüge zurück nach Salt Lake City und Miami, Züge nach Berlin, der Wunsch, noch etwas Zeit mit den Kindern zu verbringen, bevor am Montag die Arbeitswoche wieder begann.

Ich dachte an Anna, die jetzt wusste, warum die vermeintliche Gleichheit nicht funktioniert, und an Yair und Autumn, die zumindest eine Sackgasse identifiziert und vielleicht einen anderen Weg gefunden hatten. Und ich dachte an Priyam und Katie, die vorhatten, einige Wochen später wieder über Skype zusammenzukommen und sich ihrem ehrgeizigen Projekt zu widmen.

Gerade noch bevor solche persönlichen Zusammenkünfte auf Grund von Corona undenkbar wurden, konnte ich beobachten, wie sich Mathematiker aus aller Welt in den Wäldern Deutschlands zusammenfanden und bis spät in die Nacht zusammensaßen. Matheprobleme mögen nur eine Antwort haben, aber es braucht oftmals Gespräche vieler Beteiligter, um sie zu finden.

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