Empathie: Einfühlsame Bücherwürmer
Ein falsches Lächeln von einem echten unterscheiden und anhand weniger Hintergrundinfos erschließen, was das Gegenüber denkt – solche Fähigkeiten wären ohne geistigen Perspektivwechsel unvorstellbar. Und offenbar können sich Menschen besser in andere einfühlen, wenn sie anspruchsvolle Literatur lesen. Das funktioniert sogar kurzfristig, fand ein Team um David Kidd von der New School for Social Research in New York heraus.
Die Wissenschaftler hatten knapp 700 Versuchsteilnehmer in fünf verschiedenen Experimenten zunächst in Ruhe lesen lassen. Und zwar entweder Sachtexte, Ausschnitte aus literarischen Werken etwa von Anton Tschechow oder Ausschnitte aus Unterhaltungsromanen à la Rosamunde Pilcher. Als die Leser danach Tests zu Einfühlungsvermögen und mentalem Perspektivwechsel zu bestehen hatten, zeigte sich: Die Literaturleser erkannten emotionale Gesichtsausdrücke akkurater und konnten besser erschließen, woran die Hauptfigur eines kleinen Films gerade dachte.
"Wie im echten Leben ist die Welt der Literatur voller komplizierter Individuen, deren innere Zustände nicht einfach zu entschlüsseln sind und unser Denkvermögen herausfordern", erklären die Forscher. Im Gegensatz zu Unterhaltungsromanen spiele hohe Literatur stärker mit stilistischen Mitteln und ließe den Leser oft im Ungewissen – der müsse sich folglich selbst überlegen, was in den Protagonisten vor sich gehe. Und das trainiere die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
Literaturkurse werden bereits heute genutzt, um etwa bei Gefängnisinsassen das Mitgefühl zu fördern oder empathisches Handeln bei Ärzten zu unterstützen. Die Forscher weisen auch auf die soziale Bedeutung des Literaturunterrichts in der Schule hin. Sie wollen nun ergründen, ob der Gang ins Theater oder Kino das Einfühlungsvermögen ebenso stärkt.
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