Kryogeophysik: Eingedellt und ausgebeult
Die Erde ist keine Kugel, sondern eine Kartoffel: Das ist keineswegs despektierlich gemeint, es entspricht vielmehr ihrer tatsächlichen Gestalt. Schuld daran sind auch regionale Unterschiede in der Erdanziehung - und die Eiszeiten, wie europäische Satelliten nun enthüllten.
Die deutsche und polnische Ostseeküste versinkt, und wohl nichts und niemand kann dies verhindern. Schuld ist aber ausnahmsweise weder die Erderwärmung noch anderes Tun des Menschen – auch wenn dies den Untergang womöglich beschleunigt. Denn gleichzeitig wachsen auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres die Ländereien Schwedens oder Finnlands stetig empor: Eine Markierung, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Normalnull-Stand der Ostsee bei Stockholm anzeigte, liegt heute über einen Meter höher, Finnland gewinnt ohne eigenes Zutun jährlich über sieben Quadratkilometer Neuland an seiner Küste, und das Zentrum Skandinaviens hob sich während der letzten 10 000 Jahre sogar um 300 Meter.
Seit die letzte Eiszeit vor zehn- bis zwölftausend Jahren endete, läuft dieser Prozess in Nordeuropa, aber auch in Kanada ab, das einst vom mächtigen Laurentischen Eisschild mit einem teilweise mehr als drei Kilometer mächtigen Panzer aus Gefrorenem in die Tiefe gedrückt wurde. Selbst heute noch prägt der einstige Mega-Gletscher die Form unseres Planeten und das lokale Schwerkraftfeld, wie der Geophysiker Mark Tamisiea vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics im US-amerikanischen Cambridge und seine Kollegen jetzt enthüllten.
Doch auch ohne diese Einflüsse fällt die Gravitation in Nordkanada bis zu dreißig Milligal – der Maßeinheit für die Schwerebeschleunigung auf der Erde sowie kleiner Änderungen im Schwerefeld des Planeten – schwächer aus als im globalen Durchschnitt, während sie im dichten und schweren Gebirgsstock der Rocky Mountains 15 bis 20 Milligal stärker ist. In der Hudson-Bay dagegen hat das aufliegende Gewicht des Eisschilds die Erdkruste derartig zusammengestaucht und in die Tiefe genötigt, dass sich das Gestein und damit die Schwerkraft immer noch nicht davon erholt hat. Bis zu knapp der Hälfte der Anomalie geht nach den Berechnungen deshalb tatsächlich auf die Eiszeit zurück.
Über die Gravitationssenken lässt sich außerdem die Form des Laurentischen Eisschilds ableiten. Denn jedem aktuellen Schwerkraftloch stand zuvor wohl eine pleistozäne Auswölbung des Gletschers gegenüber, wo besonders schwere Eismassen die kontinentale Kruste entsprechend tief in den Mantel drückten. Da die beiden Grace-Satelliten zwei Dellen in Kanada erspähten – jeweils eine westlich und östlich der Hudson-Bay –, ragten hier einst zwei Höcker auf. Das bislang überwiegend akzeptierte Modell ging dagegen nur von einem einzigen Gletscherdom aus, sodass gängige Theorien zur Dynamik und zum Ende des Laurentischen Eisschilds über den Haufen geworfen werden könnten – etwa den zeitlichen und räumlichen Verlauf seines Zerfalls. Immerhin ließ sein Schmelzwasser zum Beginn der heutigen Warmzeit die Weltmeere um sechzig Meter ansteigen.
Der langsame Ausbeulung Nordkanadas wird die kartoffelige Erde allerdings nicht runder machen, denn jedem Aufstieg steht ein Abstieg andernorts gegenüber. Und auch außerhalb des Forschungsbetriebs haben die Schwerkraft-Erkenntnisse kaum praktischen Nutzen für das Äußere: Die Abweichung ist so minimal, dass ein Mensch mit Gewichtsproblemen gerade einmal um 1/25 000 leichter wäre als andernorts.
Was bewirkt einen derartigen Aufstieg und Fall, der weit über die bekannten klimatisch ausgelösten Meeresvorstöße und -rückzüge hinausgeht? Verantwortlich sind uralte geotektonische Wechselwirkungen, die unter dem Begriff der Isostasie zusammengefasst werden. Eigentlich "schwimmen" unsere Kontinentalplatten in der Gesteinsschmelze des äußeren Mantels wie Korken im Wasser. Erhöht sich der Druck der Platten – etwa weil sich ein Gebirge bildet oder sich eiszeitliche Eisschilde auftürmen –, sinken sie tiefer ein. Erodieren die Berge dagegen oder schmelzen die Gletscher, nimmt ihr Gewicht wieder ab und die Landmassen steigen auf, bis sich Auftrieb und Gewichtskraft endlich die Waage halten und sich die Isostasie einstellt.
Seit die letzte Eiszeit vor zehn- bis zwölftausend Jahren endete, läuft dieser Prozess in Nordeuropa, aber auch in Kanada ab, das einst vom mächtigen Laurentischen Eisschild mit einem teilweise mehr als drei Kilometer mächtigen Panzer aus Gefrorenem in die Tiefe gedrückt wurde. Selbst heute noch prägt der einstige Mega-Gletscher die Form unseres Planeten und das lokale Schwerkraftfeld, wie der Geophysiker Mark Tamisiea vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics im US-amerikanischen Cambridge und seine Kollegen jetzt enthüllten.
Sie nutzten dazu die Daten der beiden Grace-Satelliten (Gravity Recovery and Climate Experiment), die selbst winzigste Unterschiede im Schwerefeld der Erde messen können: Jede lokale Abweichung lenkt den führenden Satelliten leicht vom Kurs ab, was sein nachfolgender Kollege aufzeichnet und auf der Erde anschließend umgerechnet wird. Vorsicht ist dabei allerdings geboten, denn viele Einflüsse können die Werte verfälschen. Das in großen Mengen freigesetzte Schmelzwasser grönländischer Gletscher beispielsweise beult das Nordpolarmeer gravitationsmäßig aus und dellt die Insel ein, was mitunter die Werte angrenzender Gebiete etwas verzerren kann.
Doch auch ohne diese Einflüsse fällt die Gravitation in Nordkanada bis zu dreißig Milligal – der Maßeinheit für die Schwerebeschleunigung auf der Erde sowie kleiner Änderungen im Schwerefeld des Planeten – schwächer aus als im globalen Durchschnitt, während sie im dichten und schweren Gebirgsstock der Rocky Mountains 15 bis 20 Milligal stärker ist. In der Hudson-Bay dagegen hat das aufliegende Gewicht des Eisschilds die Erdkruste derartig zusammengestaucht und in die Tiefe genötigt, dass sich das Gestein und damit die Schwerkraft immer noch nicht davon erholt hat. Bis zu knapp der Hälfte der Anomalie geht nach den Berechnungen deshalb tatsächlich auf die Eiszeit zurück.
Den Rest der Negativbilanz erklären Tamisiea und seine Kollegen mit absteigenden Konvektionsströmen im Erdmantel, die die kontinentale Kruste vor Ort gegenwärtig etwas nach unten ziehen. Ihr Einfluss wird jedoch zukünftig zunehmen, da das geophysikalische Erbe der letzten Eiszeit insgesamt nachlässt. Immer noch steigt das Land hier langsam isostatisch auf, während Mantelmaterial an seiner Basis nachströmt, sodass die Gravitation stetig zunimmt. Beim gegenwärtigen Tempo von jährlich zwölf Millimetern dürfte es allerdings weitere 300 000 Jahre dauern, bis das Defizit vollständig aufgeholt und die Delle aufgefüllt ist.
Über die Gravitationssenken lässt sich außerdem die Form des Laurentischen Eisschilds ableiten. Denn jedem aktuellen Schwerkraftloch stand zuvor wohl eine pleistozäne Auswölbung des Gletschers gegenüber, wo besonders schwere Eismassen die kontinentale Kruste entsprechend tief in den Mantel drückten. Da die beiden Grace-Satelliten zwei Dellen in Kanada erspähten – jeweils eine westlich und östlich der Hudson-Bay –, ragten hier einst zwei Höcker auf. Das bislang überwiegend akzeptierte Modell ging dagegen nur von einem einzigen Gletscherdom aus, sodass gängige Theorien zur Dynamik und zum Ende des Laurentischen Eisschilds über den Haufen geworfen werden könnten – etwa den zeitlichen und räumlichen Verlauf seines Zerfalls. Immerhin ließ sein Schmelzwasser zum Beginn der heutigen Warmzeit die Weltmeere um sechzig Meter ansteigen.
Der langsame Ausbeulung Nordkanadas wird die kartoffelige Erde allerdings nicht runder machen, denn jedem Aufstieg steht ein Abstieg andernorts gegenüber. Und auch außerhalb des Forschungsbetriebs haben die Schwerkraft-Erkenntnisse kaum praktischen Nutzen für das Äußere: Die Abweichung ist so minimal, dass ein Mensch mit Gewichtsproblemen gerade einmal um 1/25 000 leichter wäre als andernorts.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.