Materialforschung: Einmal Hightech bleifrei, bitte!
Sie bringt Bewegung in die Mikrowelt: formwandelnde, bleihaltige Keramik. Der EU sind die giftigen Bauteile ein Dorn im Auge, doch Forscher sehen bisher keine Alternativen.
Motorventile öffnen und schließen in Millisekunden, Fensterglas stoppt Lärm durch gezielte Gegenschwingungen, winzige Mikrofone und Lautsprecher lassen Handys schrumpfen. Möglich machen all dies Kristalle, die auf ein elektrisches Signal hin ihre Form verändern, oder umgekehrt Druck in Stromstöße verwandeln. Solche Piezokristalle sind zugleich Muskeln und Nerven der Mikrotechnik und stecken überall dort, wo bewegliche Teile immer kleiner und schneller werden sollen.
Um derartige Gefahren zu vermeiden, trat im Jahr 2006 eine EG-Richtlinie in Kraft, die grundsätzlich giftige Substanzen wie Kadmium, Quecksilber und Blei in technischen Geräten verbietet. Zahlreiche Länder außerhalb der EU verfolgen eine ähnliche Politik. Seither verschwanden tatsächlich viele Giftstoffe aus Produkten, doch die Europäische Union sah sich auch gezwungen, auf Antrag der Industrieverbände eine ganze Liste von Ausnahmen zu genehmigen – etwa wenn es keine Alternativen zu den bisherigen Materialien gibt, wie auch im Fall der Piezokeramik.
Seltene Eigenschaften
Obwohl viele Kristalle in elektrischen Feldern minimal ihre Form ändern, ist dieser Effekt nur bei wenigen so stark, dass sie sich für den technischen Einsatz eignen. Ursache der Bewegung sind geladene Atome innerhalb des Molekülverbands. Sind negative und positive Teilchen nicht symmetrisch in der Kristallstruktur verbaut, führt jede Formänderung auch dazu, dass sich Ladungen gegeneinander verschieben. Wirkt etwa Druck auf das Material (griechisch: piezein = drücken), bilden sich dadurch unzählige kleine elektrische Felder, die sich über die Länge des Kristalls aufsummieren. Umgekehrt bewirkt eine von außen angelegte Spannung, dass sich der Kristall zusammenzieht oder dehnt.
Damit dieser Effekt besonders stark ist, müssen zum einen die Ladungen groß und möglichst weit getrennt sein, zum anderen sollten sich die Kristallatome leicht bewegen lassen. Natürliche Piezokristalle wie der aus Uhren bekannte Schwingquarz strecken sich auch bei hohen Spannungen lediglich um einige Millionstel ihrer Länge. Erst mit der Entwicklung von Blei-Zirkonat-Titanat (PZT) in den 1950er Jahren – als der Effekt bereits 70 Jahre bekannt war – erreichten Piezos daher ihren Durchbruch als mechanische Teile.
Schlafendes Potenzial
Unbehelligt vom Umweltschutzgedanken, der sich erst in den 80er und 90er Jahren durchsetzten, wurde das bleihaltige PZT zum fast ausschließlich genutzten Piezowerkstoff. Gelegentlich vorgeschlagene Alternativen blieben weitgehend unbeachtet, bis um das Jahr 2000 der international zunehmende Trend zum Verbot bleihaltiger Werkstoffe erkennbar wurde. Nun boomte plötzlich die Suche nach bleifreien Kristallen und mündete bis heute in mehr als 1000 veröffentlichten Arbeiten [1].
Ein wichtiger Auslöser dieser neuen Bewegung war eine 2004 von Toyota veröffentlichte Studie zu Kalium-Natrium-Niobat (KNN), das in seiner Atomstruktur PZT sehr ähnlich ist. Es sah zuerst so viel versprechend aus, dass Institute auf der gesamten Welt schnellstmöglich den Japanern nacheifern wollten. In Deutschland formierte sich hierzu unter anderem ein vom Forschungsministerium geförderter Verbund wissenschaftlicher Institute und großer Firmen wie Siemens und Bosch. Trotz aller bisheriger Bemühungen steht KNN in wichtigen Daten wie Hitzeesistenz und Kraft seinen bleihaltigen Vorgängern jedoch noch so weit nach, dass Experten es in den kommenden fünf Jahren noch nicht für massentauglich halten.
Niemand will es, alle suchen es
Während die staatlich geförderte Suche nach Piezowerkstoffen der Zukunft weiterhin floriert, gibt sich die industrielle Forschung zumindest öffentlich verhalten – verständlich, wird die Umstellung für Unternehmen letztlich eine teure Umrüstungen ihre Anlagen bedeuten, nur um zu einem Material zu wechseln, das weniger kann als sein Vorgänger. Mehr noch werden Hersteller nicht nur ein einziges neues Verfahren entwickeln müssen, sondern eine Vielzahl spezialisierter Ansätze, denn nach derzeitigen Prognosen wird weder KNN noch BNT oder ein anderer Kandidat die alten Piezos schnell in allen ihren Eigenschaften ersetzen können.
Unternehmen sind daher gezwungen, bereits jetzt an der Umstellung zu arbeiten, um nicht letztlich im Wettbewerb das Nachsehen zu haben. "Uns Forscher bringt dies in eine sehr bizarre Position zu unseren Partnern in der Industrie", berichtet Jürgen Rödel von der TU-Darmstadt, Europas größtem Forschungsstandort für bleifreie Piezotechnik. "Eigentlich will niemand die neuen Materialien und wir hören hauptsächlich Beschwerden über Nachteile gegenüber bleihaltiger Piezokeramik. Doch wehe die Konkurrenz präsentiert einen Fortschritt. Dann heißt es auf einmal, warum wir nicht auch schon so weit sind."
Diese Angst vor dem Können der Anderen ist nicht unbegründet, denn würde eine Firma die Lösung des Problems präsentieren, stünde die Ausnahmeregelung der EU auf der Kippe und alle weiteren Unternehmen müssten nachziehen. "Viele große Hersteller hoffen, dass niemand mit Ergebnissen vorprescht und die Pläne für den Umstieg möglichst lange in der Schublade bleiben können", so Rödel weiter. "Wir arbeiten deshalb verstärkt mit kleinen Unternehmen, die flexibel sind."
Dass das Verhalten der großen Firmen ein Problem darstellt, empfindet auch Stéphanie Zangl vom Öko-Institut in Freiburg, das für die EU Ausnahmeanträge prüft: "Wir sind darauf angewiesen, dass die Industrie uns und die Fachwelt über den Stand ihrer Forschung auf dem Laufenden hält, sonst wird unsere Arbeit sehr schwierig. Letztlich wird sich die Umstellung aber nicht aufhalten lassen und jedem Unternehmen sollte dies bereits seit Jahren klar sein."
Haben sie allerdings ausgedient, werden die Teile zum Risiko für die Umwelt, denn die am häufigsten genutzten Kristalle sind Keramiken mit einem Bleianteil von rund 60 Prozent. Werden Geräte mit Piezoelementen nicht fachgerecht recycelt, kann das Schwermetall in den Wasserkreislauf gelangen. Von Tieren aufgenommen reichert es sich in deren Körpergewebe an und gelangt über die Nahrungskette auch bis zum Menschen, wo es langfristig schon in geringen Dosen zu Nervenschäden führt.
Um derartige Gefahren zu vermeiden, trat im Jahr 2006 eine EG-Richtlinie in Kraft, die grundsätzlich giftige Substanzen wie Kadmium, Quecksilber und Blei in technischen Geräten verbietet. Zahlreiche Länder außerhalb der EU verfolgen eine ähnliche Politik. Seither verschwanden tatsächlich viele Giftstoffe aus Produkten, doch die Europäische Union sah sich auch gezwungen, auf Antrag der Industrieverbände eine ganze Liste von Ausnahmen zu genehmigen – etwa wenn es keine Alternativen zu den bisherigen Materialien gibt, wie auch im Fall der Piezokeramik.
Seltene Eigenschaften
Obwohl viele Kristalle in elektrischen Feldern minimal ihre Form ändern, ist dieser Effekt nur bei wenigen so stark, dass sie sich für den technischen Einsatz eignen. Ursache der Bewegung sind geladene Atome innerhalb des Molekülverbands. Sind negative und positive Teilchen nicht symmetrisch in der Kristallstruktur verbaut, führt jede Formänderung auch dazu, dass sich Ladungen gegeneinander verschieben. Wirkt etwa Druck auf das Material (griechisch: piezein = drücken), bilden sich dadurch unzählige kleine elektrische Felder, die sich über die Länge des Kristalls aufsummieren. Umgekehrt bewirkt eine von außen angelegte Spannung, dass sich der Kristall zusammenzieht oder dehnt.
Damit dieser Effekt besonders stark ist, müssen zum einen die Ladungen groß und möglichst weit getrennt sein, zum anderen sollten sich die Kristallatome leicht bewegen lassen. Natürliche Piezokristalle wie der aus Uhren bekannte Schwingquarz strecken sich auch bei hohen Spannungen lediglich um einige Millionstel ihrer Länge. Erst mit der Entwicklung von Blei-Zirkonat-Titanat (PZT) in den 1950er Jahren – als der Effekt bereits 70 Jahre bekannt war – erreichten Piezos daher ihren Durchbruch als mechanische Teile.
PZT erhält seine Kraft aus den im Vergleich zu anderen Elementen großen Bleiionen, die eine positive Ladung tragen. Gruppen aus Blei-Zirkonat und Blei-Titanat sind dabei durchmischt, was die Struktur des Gesamtkristalls schwächt und so jede Zelle beweglicher macht. Zwar dehnt sich auch dieses künstliche Material nur rund 400 Mal stärker aus als Quarz, doch für die Mikrotechnik ist dies bereits ausreichend. Attraktiv macht das Material außerdem seine Widerstandskraft gegen hohe Temperaturen, und dass sich Eigenschaften wie seine Härte leicht durch Zusatzstoffe verändern lassen.
Schlafendes Potenzial
Unbehelligt vom Umweltschutzgedanken, der sich erst in den 80er und 90er Jahren durchsetzten, wurde das bleihaltige PZT zum fast ausschließlich genutzten Piezowerkstoff. Gelegentlich vorgeschlagene Alternativen blieben weitgehend unbeachtet, bis um das Jahr 2000 der international zunehmende Trend zum Verbot bleihaltiger Werkstoffe erkennbar wurde. Nun boomte plötzlich die Suche nach bleifreien Kristallen und mündete bis heute in mehr als 1000 veröffentlichten Arbeiten [1].
Ein wichtiger Auslöser dieser neuen Bewegung war eine 2004 von Toyota veröffentlichte Studie zu Kalium-Natrium-Niobat (KNN), das in seiner Atomstruktur PZT sehr ähnlich ist. Es sah zuerst so viel versprechend aus, dass Institute auf der gesamten Welt schnellstmöglich den Japanern nacheifern wollten. In Deutschland formierte sich hierzu unter anderem ein vom Forschungsministerium geförderter Verbund wissenschaftlicher Institute und großer Firmen wie Siemens und Bosch. Trotz aller bisheriger Bemühungen steht KNN in wichtigen Daten wie Hitzeesistenz und Kraft seinen bleihaltigen Vorgängern jedoch noch so weit nach, dass Experten es in den kommenden fünf Jahren noch nicht für massentauglich halten.
In der Forschungswelle des neuen Jahrtausends wurden auch zahlreiche zuvor geschmähte Arbeiten zu wichtigen Grundlagen. Eine solche "Schläfer-Studie" schrieben ebenfalls japanische Forscher im Jahr 1991 zu Bismuth-Natrium-Titanat (BNT) [3]. Bismuth steht im Periodensystem direkt neben Blei und besitzt ähnliche Vorteile für die Piezotechnik. Im Gegensatz zu diesem gehört es aber zu den wenigen ungiftigen Schwermetallen. Leider wird auch BNT seinem toxischen Vorgänger noch auf Jahre hin nicht das Wasser reichen können. Zudem gelingt seine Herstellung bisher nur bei hohen Temperaturen und Drücken.
Niemand will es, alle suchen es
Während die staatlich geförderte Suche nach Piezowerkstoffen der Zukunft weiterhin floriert, gibt sich die industrielle Forschung zumindest öffentlich verhalten – verständlich, wird die Umstellung für Unternehmen letztlich eine teure Umrüstungen ihre Anlagen bedeuten, nur um zu einem Material zu wechseln, das weniger kann als sein Vorgänger. Mehr noch werden Hersteller nicht nur ein einziges neues Verfahren entwickeln müssen, sondern eine Vielzahl spezialisierter Ansätze, denn nach derzeitigen Prognosen wird weder KNN noch BNT oder ein anderer Kandidat die alten Piezos schnell in allen ihren Eigenschaften ersetzen können.
Unternehmen sind daher gezwungen, bereits jetzt an der Umstellung zu arbeiten, um nicht letztlich im Wettbewerb das Nachsehen zu haben. "Uns Forscher bringt dies in eine sehr bizarre Position zu unseren Partnern in der Industrie", berichtet Jürgen Rödel von der TU-Darmstadt, Europas größtem Forschungsstandort für bleifreie Piezotechnik. "Eigentlich will niemand die neuen Materialien und wir hören hauptsächlich Beschwerden über Nachteile gegenüber bleihaltiger Piezokeramik. Doch wehe die Konkurrenz präsentiert einen Fortschritt. Dann heißt es auf einmal, warum wir nicht auch schon so weit sind."
Diese Angst vor dem Können der Anderen ist nicht unbegründet, denn würde eine Firma die Lösung des Problems präsentieren, stünde die Ausnahmeregelung der EU auf der Kippe und alle weiteren Unternehmen müssten nachziehen. "Viele große Hersteller hoffen, dass niemand mit Ergebnissen vorprescht und die Pläne für den Umstieg möglichst lange in der Schublade bleiben können", so Rödel weiter. "Wir arbeiten deshalb verstärkt mit kleinen Unternehmen, die flexibel sind."
Dass das Verhalten der großen Firmen ein Problem darstellt, empfindet auch Stéphanie Zangl vom Öko-Institut in Freiburg, das für die EU Ausnahmeanträge prüft: "Wir sind darauf angewiesen, dass die Industrie uns und die Fachwelt über den Stand ihrer Forschung auf dem Laufenden hält, sonst wird unsere Arbeit sehr schwierig. Letztlich wird sich die Umstellung aber nicht aufhalten lassen und jedem Unternehmen sollte dies bereits seit Jahren klar sein."
Im kommenden Jahr will die EU ihre Ausnahmeregelung für PZT bis 2014 verlängern. Erst dann soll die Verzichtbarkeit der alten Piezos erneut zur Debatte stehen. Ihre Anzahl wird bis dahin noch einmal deutlich weiter steigen, denn bereits jetzt steht eine Vielzahl neuer Anwendungen der Mikromuskeln in den Startlöchern: Darunter winzige Ultraschallsonden für Arterien und Implantate, um die Körperfunktionen eines Patienten zu überwachen. Auch im Maschinenbau sollen Piezos vermehrt zum Einsatz kommen, um Schwingungen in Bauteilen zu reduzieren und so deren Lebenszeit zu erhöhen oder Energie direkt aus Bewegungen zu ziehen. Mit oder ohne Blei sind sie aus dem Alltag der Zukunft kaum noch wegzudenken.
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