Einsamkeit: Alleinsein als Chance
Einsamkeit macht krank, betonen seit Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Medizin und Psychologie – und es müsse dringend etwas gegen diese Gefahr für die Gesundheit getan werden. Sie kann jeden treffen. Besonders häufig leiden einer Studie der Psychologinnen Maike Luhmann und Louise Hawkley zufolge aber Menschen über 80 Jahre und jüngere Erwachsene an bedrückender Einsamkeit. Besteht diese dauerhaft und wird sie als unfreiwillig erlebt, ist sie ein Stressor, der die Funktion des Immunsystems herabsetzt und eine Reihe von Krankheiten wie Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt, die zu einem früheren Tod führen. Das sah nicht zuletzt der bedeutende Einsamkeitsforscher, Psychologe und Neurowissenschaftler John T. Cacioppo (1951–2018) von der University of Chicago so.
Die Forschung zum Thema erfährt durch die Coronapandemie verschärfte Brisanz. Schützen wir uns durch all die Maßnahmen zwar vor dem Virus, öffnen aber durch Ausgangsbeschränkungen und das Minimieren sozialer Kontakte das Tor für andere Leiden und Krankheiten? Schließlich gibt es immer wieder Diskussionen darüber, inwiefern die Pandemie und die vermehrte soziale Isolation psychische Störungen wie Depressionen, Internetsucht und Alkoholismus sowie aggressives Verhalten begünstigt. Sowohl die Hilfsorganisation Weißer Ring als auch die Gewaltschutzambulanz der Charité in Berlin verzeichneten 2020 zum Beispiel einen Anstieg an Fällen häuslicher Gewalt.
Das beklemmende Gefühl der Einsamkeit nimmt in der Pandemie zu, sagen aktuelle Studien. Bei einer Untersuchung des University College London gaben rund ein Drittel der zehntausenden Befragten an, sich während der Pandemie einsam zu fühlen; 18 Prozent erlebten das Gefühl häufig. Zum Vergleich: In den Jahren zuvor berichteten etwa 9 Prozent von häufiger Einsamkeit. Besonders gefährdet waren junge Erwachsene, Frauen, Menschen mit niedrigem Einkommen oder Bildungsstand, Arbeitslose sowie Personen in Singlehaushalten oder Städten. Das Risiko, sich allein zu fühlen, stieg während des Lockdowns insbesondere für Studenten, junge Erwachsene, allein lebende Personen und solche mit geringem Einkommen an. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie der Universität Bremen, der zufolge sich im Juni 2020 rund 27 Prozent der Befragten täglich oder mehrfach pro Woche einsam fühlten. 2019 waren es noch 11 Prozent.
Die empirische Einsamkeitsforschung der letzten Jahre definiert Einsamkeit als subjektives und schmerzhaftes Gefühl, von anderen getrennt zu sein. Sie setzt voraus, dass der Mensch ein Gesellschaftstier ist – und nur ein Zusammenleben und Zusammenwirken seiner Natur entspricht. Die Stabilisierung der eigenen Person durch den kontinuierlichen Austausch mit anderen nennt John T. Cacioppo »soziale Koregulation«. Aus dieser Perspektive hat Einsamkeit eine wichtige Signalfunktion. Sie ist Ausdruck dafür, dass wir uns wieder in eine Gemeinschaft eingliedern sollen, ganz analog zum Hunger, der uns veranlasst, Nahrung zu uns zu nehmen. Erst wenn ein Individuum über einen längeren Zeitraum unfreiwillig unter Einsamkeit leidet und es ihm nicht möglich ist, in erfüllenden Kontakt mit anderen zu treten, wird sie bedrohlich.
Die evolutionsbiologische Deutung der Einsamkeit erscheint plausibel. Doch um der Bedeutung des Gefühls gerecht zu werden, bedarf es auch anderer Erklärungsversuche. Wir Menschen sind eben nicht nur Herdentiere, deren Lebensaufgabe es ist, sich fortzupflanzen und die Wärme einer sozialen Gruppe zu genießen. Die banale Feststellung, dass wir gesellige Wesen sind, sollten wir weder ungeprüft hinnehmen noch zur Erklärung heranziehen. Wer Gemeinschaften aus einer gewissen Distanz betrachtet, wird erkennen, dass es uns nicht ohne Weiteres gelingt, ein befriedigendes und gesundes Zusammenleben für alle zu garantieren. So sind es doch regelmäßig gerade bestimmte Dynamiken der Gesellschaft, in denen wir uns nicht wohlfühlen, die uns ausgrenzen, von unseren Idealen entfremden – und einsam machen. Wir können uns daher auch ohne »soziale Isolation« einsam fühlen, das heißt unabhängig davon, wie häufig wir objektiv mit anderen interagieren.
An Herausforderungen wachsen
Einsamkeit ist nichts, was man mit einer Flucht nach vorn irgendwie »abschaffen« könnte, wie es Stimmen aus Wissenschaft und Politik manchmal fordern. Wir müssen uns stattdessen von der negativen Sicht auf das Phänomen lösen. Sie ist zu einfach und fatalistisch. Die Erfahrung der Einsamkeit, das Leiden an ihr und ihre Bewältigung gehören zum Menschsein. Menschen sind allgemein in der Lage, inneren Widerständen und äußeren Widrigkeiten die Stirn zu bieten. Sie können in Ausnahmesituationen über sich hinauswachsen und viel über sich lernen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst in Einsamkeit kann Ressourcen freilegen und birgt die Chance, ein tieferes Selbstverständnis zu erlangen.
Sozialphilosophische Überlegungen können helfen, die Bedeutung der Einsamkeit für unser Zusammenleben besser zu verstehen. Wie Lars Fredrik Händler Svendsen, Philosoph und Professor für Philosophie an der Universität Bergen in Norwegen, in seinem 2016 erschienenen Buch »Philosophie der Einsamkeit« deutlich macht, ist unsere soziale Natur in ein so genanntes Individualbewusstsein eingebettet, das nur uns selbst zugänglich ist. Daraus ergibt sich ein vertrackter Sachverhalt: Einerseits sind wir von Geburt an eingebunden in soziale Beziehungen und werden eigentlich nur durch den Kontakt mit anderen zu dem, der wir sind. Jede Zelle unseres Körpers kommuniziert mit anderen Zellen und steht im Austausch mit der Umwelt. Ein buchstäblich einsames Selbst kann es allein deshalb nicht geben. Auch unser Sprachvermögen bildet sich nur über Mitmenschen aus. Damit gründet letztlich sogar unser Bewusstsein und unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion, die an Sprache gebunden sind, auf sozialen Interaktionen.
Andererseits ist das Ergebnis dieser Sozialisationserfahrungen ein Individuum, eine einmalige Persönlichkeit. Das, was ich mit »ich« bezeichne, ist unmittelbar nur für mich erfahrbar. Auch das Gefühl, von der Welt der anderen getrennt zu sein, ist also Teil der menschlichen Natur. Insofern gehört die Erfahrung des Getrenntseins, des mit sich Alleinseins und der Einsamkeit ebenfalls zum Menschen, sie ist eine anthropologische Konstante. Sie lässt sich nicht hinreichend durch unsere tierische Natur erklären, sondern ist über unser Reflexionsvermögen vermittelt.
Manche modernen Philosophen und Philosophinnen beschreiben Einsamkeit sogar als eine existenzielle Erfahrung. Sie gehe Hand in Hand mit Erkenntnissen zur Endlichkeit und Sinnlosigkeit unseres Daseins und dem Verlust traditioneller Werte. Der US-amerikanische Psychologe, Bestsellerautor und emeritierte Professor für Psychiatrie an der Stanford University Irvin Yalom integriert diese Vorstellung in abgewandelter Form in seine Theorie und Praxis von Psychotherapie. Seiner Ansicht nach gehört die existenzielle Isolation zu jedem Menschen – und die Verdrängung dieser Tatsache führt zu Neurosen verschiedener Ausprägung.
Die Erfahrung des existenziellen Alleinseins kann entweder in manchen Situationen auftreten, etwa wenn man eine nahestehende Person verliert oder erfährt, dass man lebensbedrohlich erkrankt ist. Oder sie schwingt als Grundgefühl der Selbsterfahrung kontinuierlich mit, wie es in Versen von Hermann Hesses berühmtem Gedicht »Im Nebel« (1905) deutlich wird: »Wahrlich, keiner ist weise, / Der nicht das Dunkel kennt, / Das unentrinnbar und leise / Von allen ihn trennt. // Seltsam, im Nebel zu wandern! / Leben ist Einsamsein. / Kein Mensch kennt den andern, / Jeder ist allein.« Ob die existenzielle Einsamkeit wirklich wesentlich zum Menschen gehört, mag dahingestellt sein. Geflügelte Worte wie die Aussage, man werde allein geboren und sterbe allein, scheinen solche Vorstellungen zu stützen. Aber welchen Sinn ergibt schon der Satz, man werde allein geboren, wo man doch zu diesem Zeitpunkt noch unmittelbar mit der Mutter verbunden und vollkommen abhängig ist?
Freiheit oder Last?
Im Gegensatz zur Einsamkeit als subjektives, unangenehmes Gefühl wird eine positive Einsamkeitserfahrung heutzutage gern mit dem »Alleinsein« gleichgesetzt. Betrachtet man genauer, wie wir diesen Begriff im Alltag verwenden, fällt auf, dass er weit gefasst ist und ebenfalls negative Erfahrungen beinhaltet. Wenn man sich mit etwas alleingelassen fühlt, etwa der Pflege von Angehörigen, ist das oft ein Ausdruck der Verzweiflung. Aber man verrichtet schlicht auch viele Dinge allein, was nur heißt, dass kein anderer dabei ist: zum Beispiel einkaufen, spazieren gehen, Essen kochen, auf der Couch entspannen oder den Eindrücken des Tages nachsinnen. Für manch einen ist bereits das wertvolle Zeit für sich.
Die US-amerikanischen Psychologen Christopher Long und James Averill, damals beide an der University of Massachusetts in Amherst, erkundeten die Vorteile des Alleinseins. Sie fällten 2003 eine erhellende Unterscheidung: Alleinsein als »Freiheit von …« versus als »Freiheit zu …«. Die »Freiheit von …« ergibt sich bereits daraus, dass man sich im Alleinsein aus sozialen Bezügen löst und einfach bei sich ist. Wir sind im Berufs- und Privatleben ständig im Austausch mit Kollegen, Freunden oder der Familie. So sehr sie uns helfen, uns zu orientieren und unsere Arbeit zu verrichten, so sehr sie Anteil haben an unserem Glück und Sinn stiftend sind, so sicher ist auch, dass sie uns fordern und einspannen. Die Interaktion mit anderen prägt uns, wobei es eine nicht endende Aufgabe bleibt, unsere Meinung mitzuteilen, unsere Position zu behaupten, unsere Bedürfnisse zu artikulieren, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, unsere moralische Integrität zu überprüfen. All das ist anstrengend und fällt im Alleinsein weg. Und wir können uns auf eine wohltuende Art und Weise gehen lassen.
Diese Form des Alleinseins ergibt sich quasi von selbst. Sie kann aber in eine unangenehme Erfahrung der Einsamkeit kippen, selbst wenn man sich nach Erholung im Alleinsein gesehnt hat. Long und Averill gehen davon aus, dass man vor dieser Eintrübung gefeit ist, wenn man den Zustand auch als »Freiheit zu …« erlebt. Das heißt: indem man auf Ressourcen zurückgreifen kann, um die Zeit mit sich so zu gestalten, dass sie einem tatsächlich guttut. Nutzt man das Alleinsein als eine »Freiheit zu …«, dann bietet sie laut den beiden Forschern Gelegenheiten für Kreativität, Kontemplation, Spiritualität und Intimität.
Die schöpferische Einsamkeit wird von vielen Philosophen und Künstlern, aber auch von bastelnden und tüftelnden Laien beschrieben: als Raum der Kreativität, als Voraussetzung für eine produktive Auseinandersetzung mit sich selbst, als inspirierende Stimmung, die neue Gedanken und Erzeugnisse entstehen lässt, und als Grundlage für das Flow-Erleben. Letzteres beschreibt einen Zustand, in dem man so in seinem Tun aufgeht, dass man alles um sich herum vergisst. Solche Momente werden psychologischen Studien zufolge als erfüllend erlebt und steigern das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit.
Mit sich selbst auseinandersetzen
Einsamkeit bietet darüber hinaus Gelegenheit, um fokussiert zu überlegen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen oder aber um heiter tagzuträumen und melancholisch zu sinnieren. Hier hat man die Ruhe und Zeit, Erfahrungen Revue passieren zu lassen, Gedanken und Gefühle abzuwägen und über Beziehungen mit anderen nachzudenken. Diese Form der Selbsterkenntnis führt nicht zwangsläufig zu tiefen Einsichten oder gar zu einer wie auch immer gearteten Erleuchtung. Dennoch kann es sich lohnen, sich darauf einzulassen – ohne Erwartungen und ohne sich abzulenken. Die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) geht in ihrem Buch »Über das Böse« davon aus, dass es einen bildet, wenn man sich in dieser Einsamkeit zu ertragen lernt und sich selbst so erlebt, als wäre man ein anderer. Das fördere die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Letztlich hängt für sie ein moralisch gelingendes Miteinander unter anderem davon ab, dass jeder Einzelne gelernt hat, mit sich einsam und im Gespräch zu sein.
Das Alleinsein bietet darüber hinaus die Chance, spirituelle Erfahrungen zu machen. Dabei vertieft und versenkt sich das Individuum in sich selbst. Sei es, um im Gebet eine innige Beziehung zu einem höheren Wesen herzustellen, sei es, um die Grenzen des Ich-Bewusstseins zu überwinden wie bei bestimmten Meditationspraktiken. Auch nicht religiöse Menschen können diese Form der Einsamkeit als bereichernd erleben: als Öffnung und Relativierung der eigenen Persönlichkeit, als ein Sich-verbunden-Fühlen mit einem großen Ganzen, das einen zwar übersteigt, an dem man aber Anteil hat.
Einsamkeit kann man schließlich auch als intime Begegnung mit sich erleben, wie Long und Averill verdeutlichen. Hier lernt man, sich selbst genug zu sein und nachsichtig mit seinen Schwächen und der eigenen Bedürftigkeit umzugehen. Das Verhältnis zu Menschen, die uns am Herzen liegen, ist dabei womöglich auf eine liebevolle Weise präsent und erzeugt ein Gefühl der Dankbarkeit. So ist man in diesem Zustand zwar physisch allein, fühlt sich aber mit anderen verbunden und als Teil einer Gemeinschaft.
Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896–1971) geht davon aus, dass sich bereits in frühen Jahren ausbildet, ob wir Einsamkeit im Erwachsenenalter als belastend oder als bereichernd erfahren. Überlassen die Eltern das Kind beim Spielen sich selbst, darf es seine eigenen Regeln schaffen und Entdeckungen machen und stiften die Eltern dabei gleichzeitig eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sicherheit, sei dies eine wichtige Voraussetzung für das Erleben der »guten Einsamkeit«.
Winnicott ist sogar der Ansicht: Eine Person, die auf diese Art und Weise gelernt hat, mit sich selbst allein zu sein, sei später nie wirklich allein. Werde das Kind hingegen regelmäßig aus seiner Welt des Erforschens und spielerischen Ausprobierens herausgerissen, indem ihm gezeigt werde, wie es sich eigentlich gehöre und richtig gehe, verletze dies das Selbstvertrauen. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass die Person das Alleinsein später nicht gut erträgt. Ob manche Menschen Alleinsein auf Grund ihrer Sozialisation wirklich nie als belastend erleben, ist allerdings offen. Um etwaige Einsamkeit während der Covid-19-Pandemie nicht zur Last werden zu lassen, sollte man vermehrt nach draußen gehen. Viele Menschen erleben es als erholsam und befriedigend, mit sich in der Natur allein zu sein – wovon nicht zuletzt der Trend des Waldbadens zeugt.
Eine wichtige Botschaft lautet: Es liegt ein Stück weit in unserer Macht, wie wir Einsamkeit erleben. Wir sind ihr nicht ausgeliefert, sondern können sie gestalten – und damit beeinflussen, was sie mit uns macht und wie sie sich anfühlt. Und wir können uns selbst in ihr besser verstehen, annehmen und lieben lernen.
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