Elfenbeinspecht: Er lebt, er lebt nicht, er lebt …
Der letzte sichere Nachweis seiner Existenz ist von 1944. Es ist ein Bild, das schon die Trauer um sein drohendes Verschwinden ausdrückt: ein einsamer dunkler Vogel, der mit weit ausgebreiteten Flügeln über einen Kahlschlag voller abgestorbener Baumskelette fliegt. So hat ihn der Vogelzeichner und Naturschützer Don Eckelberry gemalt, nach einer Waldexkursion im Nordosten des US-Bundesstaats Louisiana. In diesem Wald war der Elfenbeinspecht einige Jahre zuvor auch zum ersten Mal ausführlich fotografiert und beringt worden, von Wissenschaftlern der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York.
Das Team um den Ornithologen James Tanner startete 1935 die erste fundierte Studie des Vogels, der schon damals »Lord God Bird« genannt wurde – wegen seiner außergewöhnlichen Größe und Schönheit, aber auch seiner extremen Seltenheit, die jede Beobachtung zu einer Art Offenbarungserlebnis machte.
Tanners Studie sollte die vorerst letzte sein. Und das Wort »vorerst« erschien bis vor Kurzem als Ausdruck eines geradezu verzweifelten Wunschdenkens. Denn 2021 erklärte der U.S. Fish and Wildlife Service den Elfenbeinspecht offiziell für ausgestorben, weil es seit 1944 keinen zweifelsfreien Beweis seiner Existenz mehr gegeben hatte – kein Foto, kein Video, keine eindeutige Tonaufnahme.
»Gralsvogel« der Ornithologie
Doch nun ist der »Lord God Bird«, der »Gralsvogel der Ornithologie«, womöglich erneut aufgetaucht. Das jedenfalls legt eine Studie nahe, die zehn Wissenschaftler des National Aviary am Zoo Pittsburgh erarbeitet haben. Das Team, geleitet von dem Ornithologen Steven C. Latta, hat zehn Jahre lang ein 93 Quadratkilometer großes Naturwaldgebiet in Louisiana untersucht. Und legt dafür auch eine Reihe von optischen Nachweisen für die Existenz des Spechts vor – Fotos ebenso wie Videosequenzen.
Die Studie ist noch nicht von unabhängigen Gutachtern geprüft. Und die Bilder, mit Wildkameras und Drohnen aufgenommen, sind nicht von der Art, die man als schlagende Beweise in den Abendnachrichten präsentieren könnte. Sie sind schwarzweiß, grobkörnig und aus mindestens 40 Meter Entfernung aufgenommen. Aber einige zeigen unverkennbar einen großen Specht mit langem, schlankem Hals und ausladendem Schopf am Hinterkopf. Und der Vergleich mit historischen Aufnahmen legt nahe, dass es sich tatsächlich um Campephilus principalis handeln könnte, den Elfenbeinspecht.
Es gibt eine Reihe von Merkmalen, die diesen Specht von anderen aus seiner Artenfamilie unterscheiden, wie seine erstaunliche Größe – sie entspricht mit bis zu 51 Zentimetern etwa der eines Mäusebussards. Vom ähnlichen, aber häufigeren Helmspecht (Campephilus pileatus) heben ihn strahlend weiße Deckfedern und zwei weiße Bänder ab, die sich vom Nacken über seinen Rücken ziehen. Wegen ungünstiger Lichtverhältnisse im Wald ist beides auf den Wildkamerafotos nicht immer klar zu erkennen, dafür aber ein weiteres auffälliges Merkmal: seine Fußhaltung.
Der Meisterkletterer unter den Spechten
Während die meisten Spechte ihre Füße bei der Arbeit am Baumstamm dicht nebeneinander platzieren, direkt unter ihrem Körper, streckt der Elfenbeinspecht sie seitlich und weiter nach vorn aus, so dass er am Stamm weniger hockt als hängt: wie ein Kletterer in einer Felswand. Tatsächlich klettert er ausgiebiger und auch geschickter als seine Verwandten, weil er weniger einzelne Stellen bearbeitet als vielmehr ganze Stämme und Zweige großflächig entrindet, um an die darunter versteckten Käferlarven zu kommen.
Diese Technik der Futtersuche hatte schon das Cornell-Team in den 1930er Jahren beobachtet, und das Team des National Aviary hat sie nun per Video dokumentieren können – sogar mit einer dreiköpfigen Spechtfamilie, die einen absterbenden Amberbaum bearbeitete. Die Aufnahmen entstanden ab 2019; zwei Standbilder daraus sind in der Studie publiziert.
Schwieriges Gelände
Bevor diese Bilder gelangen, verbrachte das Team mehrere Jahre damit, das unwegsame, zum Teil überschwemmte Waldgebiet in Louisiana zu erkunden, »spechtverdächtige« Bäume ausfindig zu machen und Orte, an denen einzelne Vögel der Art angeblich gesichtet worden waren, über längere Zeit zu beobachten. Die genaue Lage des Gebiets hält das Team aus naheliegenden Gründen geheim.
Wie mühsam diese Suche gewesen sein muss, weiß ich zumindest ansatzweise aus eigener Erfahrung. Denn ich habe auch einmal an einer Elfenbeinspecht-Suchaktion teilgenommen, im Frühjahr 2007. Drei Jahre zuvor hatten zwei erfahrene Ornithologen einen Elfenbeinspecht in einem Wald in Arkansas gesichtet. Und der Leiter des Cornell-Lab of Ornithology fand ihren Bericht derart glaubwürdig, dass er eine mehrjährige, groß angelegte Suche nach dem Vogel mit initiierte. Das Suchgebiet am White und Cache River wurde in Planquadrate aufgeteilt und diese sukzessive von Teams dutzender Freiwilliger durchstreift. Zusätzlich wurden an mehreren Stellen Wildkameras und Audiorekorder installiert.
15 Sichtungen – aber kein einziges Foto
Die Suchaktion verlief nicht ergebnislos, aber ohne wasserdichte Beweise. Im Laufe der drei Jahre wurde der Specht insgesamt 15 Mal gesichtet, von Beobachtern, die nach eingehender Befragung durch die Cornell-Experten als verlässlich eingestuft wurden. Einer dieser Beobachter war Mitglied des Teams, dem ich damals zugeteilt war, ein »Hardcore Birder« – wie er sich selbst bezeichnete – aus New Baltimore, der keine zwei Stunden brauchte, um die zwei Dutzend Vogelarten im Umkreis des Suchcamps zu bestimmen, und abends gern mit den Eulen »plauderte«, deren Stimmen er perfekt imitieren konnte.
Leider war es ihm nicht gelungen, den Vogel zu fotografieren – ein Pech, das ihn mit allen verband, die den Specht seit seinem Verschwinden gesehen haben wollen. Und das waren viele. In den Jahrzehnten seit 1944 hatte es immer wieder Berichte über Elfenbeinspecht-Sichtungen gegeben – nicht nur von Vogelkundlern, die gezielt nach ihm Ausschau hielten, sondern von Waldarbeitern, Jägern und Hobby-Kanuten, denen er zufällig über den Weg geflogen war. Viele dieser Berichte klangen glaubwürdig, gerade deshalb, weil sie von Menschen kamen, die nie zuvor ein Vogelbuch aufgeschlagen hatten. Aber der »Lord God Bird« schaffte es jedes Mal zu entwischen, bevor ein Beobachter seine Kamera in Stellung bringen konnte.
Wenn ein Tier nur noch in Form von Geschichten existiert, dann legt das natürlich einen Verdacht nahe: dass es sich bei ihm um ein Phantom handelt. Ein Wunschbild, geboren aus der Sehnsucht, die Natur möge uns Menschen eine zweite Chance geben und eine schon verloren geglaubte Art wiederauferstehen lassen. Und tatsächlich werden immer mal vermeintlich ausgestorbene Spezies wiederentdeckt.
Gnadenlose Jagd hat den Vogel scheu gemacht
Das ging auch mir durch den Kopf, während ich durch den Wald am Cache River stapfte. Ich erinnerte mich an meine eigenen Spechtbeobachtungen: Von den elf europäischen Arten hatte ich immerhin schon sechs selbst gesehen. Spechte machen es Beobachtern einerseits nicht leicht, weil sie sich ständig hinter Baumstämmen verstecken und teils ausgedehnte Reviere haben. Andererseits sind es große, auffällige Tiere, die sich zudem durch Trommeln und durchdringende Rufe bemerkbar machen und beim Bearbeiten von Bäumen unverkennbare Spuren hinterlassen. Auch ihre Ortstreue erleichtert das Auffinden; sie besetzen oft viele Jahre in Folge dasselbe Revier. Wie kann es sein, dass ein Vogel mit diesen Charakteristika in Jahrzehnten nicht aufzuspüren ist, nicht einmal von hoch motivierten Ornithologen, die außer mit Ferngläsern noch mit Drohnen und anderem Hightech-Gerät ausgerüstet sind?
Die Studie des National Aviary liefert einige Antworten auf diese Frage. Sie legt nahe, dass der Elfenbeinspecht auch deshalb ein so flüchtiges Wesen geworden ist, weil ihm die Menschen keine andere Wahl gelassen haben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist er erbarmungslos gejagt worden, teils von vogelkundigen Sammlern, die oft gleich mehrere Exemplare für ihre Kollektionen abschossen, teils schlicht für den Kochtopf. Logisch, dass nur die scheuesten Vögel solchem Dauerbeschuss entkommen konnten, und wahrscheinlich, dass sie diese Vorsicht auch an ihre Nachkommen vererbt haben.
Der zweite Grund, der sie schwer auffindbar macht, ist die Zersplitterung ihres Lebensraums. Von den ausgedehnten Wäldern, die sich ursprünglich von Texas über die gesamte Südostküste bis nach North Carolina erstreckten, ließ die Holzindustrie nur Reste übrig. Und selbst diese enthielten lediglich wenige jener alten, dicken Bäume, unter deren Rinde die Spechte ihre bevorzugten Käferlarven finden. Um zu überleben, mussten die Vögel also häufiger zwischen den verbliebenen Habitatresten pendeln. Und sie waren daher längst über alle Berge, wenn nach einer Sichtung eine Suchaktion gestartet wurde.
Langstreckenflüge über den Baumkronen
Dass Elfenbeinspechte physisch im Stande sind, weite Flugstrecken zurückzulegen, haben Ornithologen schon in den 1930er Jahren beobachtet. Das Team um Steven Latta hat ihre Flugbewegungen nun erstmals auf Video dokumentiert: von oben, mit Hilfe von Drohnen. Diese wurden an einen festen Punkt in 120 Meter Höhe gelenkt, knapp unterhalb der Grenze, die die US-Luftfahrtbehörde für Drohnenflüge festlegt, zugleich aber hoch genug, um die Vögel und andere Waldtiere nicht zu verschrecken.
Die Aufnahmen zeigen, dass sich die mutmaßlichen Campephilus-principalis-Exemplare teils im spechttypischen Wellenflug fortbewegen, teils aber auch wie klassische Langstreckenflieger: mit schnellen, ununterbrochenen Schlägen ihrer langen, spitz zulaufenden Flügel.
Zwischen Juli 2019 und Oktober 2021 hat die Arbeitsgruppe des National Aviary insgesamt 2590-mal Drohnen aufsteigen lassen, die 864 Stunden Videomaterial lieferten. Zusätzlich installierten sie bis zu 19 Wildkameras, die 438 000 Kamerastunden aufnahmen. Sollten diese Bilder durch unabhängige Fachgutachter als überzeugender Beweis für die Existenz des Elfenbeinspechts eingestuft werden, wäre das ein Meilenstein für den Artenschutz, ein Grund zum Jubeln nicht nur für Liebhaber der Vogelwelt.
Wie viele Elfenbeinspechte gibt es noch und wo?
Aber selbst wenn es – hoffentlich – dazu kommt, wird der »Herrgottsvogel« vorerst ein rätselhaftes Wesen bleiben. So viele Fragen sind offen: Woher kamen die Vögel, die im Sichtfeld der Wildkameras in Louisiana auftauchten, wohin flogen sie? In welchen Baumhöhlen sind sie aus dem Ei geschlüpft, wie viele von ihnen existieren überhaupt? Und selbst wenn ihre Population stabil oder bereits erneut im Wachsen begriffen ist: Gibt es noch oder wieder ausreichend Lebensraum, in dem ihre Population dauerhaft überleben kann?
Diese Fragen werden vermutlich nicht nur die nächsten Generationen von Ornithologen beschäftigen. Doch es sind auch Fragen, die Skeptiker der Studie am Überleben der Art generell zweifeln lassen. Der Ornithologe und Biodiversitätsforscher Alex Lees von der Manchester Metropolitan University etwa fasste seine Kritikpunkte unter anderem in einem Thread auf Twitter zusammen. Die Bildqualität der vorgelegten Aufnahmen mit Elfenbeinspechten beispielsweise sei völlig unzureichend, um darauf die gesuchte Art zweifelsfrei zu identifizieren; zumal die Vögel immer wieder den gleichen Waldbereich aufgesucht hätten, was bessere Fotomöglichkeiten bieten sollte. Schon bei vorherigen dokumentierten Sichtungen hatten Ornithologen darauf hingewiesen, dass es sich dabei auch um den sehr ähnlichen Helmspecht hätte handeln können: Er teilt sich den Lebensraum mit dem Elfenbeinspecht.
Sollte der Elfenbeinspecht aber wider Erwarten doch überlebt haben, gibt es einen weiteren Hoffnungsschimmer: Die im 20. Jahrhundert rabiat abgeholzten Sumpfwälder im Südwesten der USA sind inzwischen vielerorts großflächig nachgewachsen; einige Gebiete hätten schon wieder einen Zustand erreicht, in dem sie als Habitat für Elfenbeinspechte geeignet seien: naturnah, dicht bewachsen und reich an totem und absterbendem Holz.
Und wenn der »Lord God Bird« tatsächlich offiziell zurückkehrt, wird das auch für die Wälder ein Segen sein. Denn gibt es einen besseren Grund, sie ungestört wachsen zu lassen, als die Bewahrung eines der seltensten Vögel der Welt?
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