Bewusstsein: Ist die Realität mehr als die Summe ihrer Teile?
Was bewusste Wesen von ihren molekularen Bausteinen unterscheidet, veranschaulichte der Urvater der Psychologie William James gerne mit der Geschichte von Romeo und Julia. In seinem Opus "Die Prinzipien der Psychologie" aus dem Jahr 1890 schrieb er: "Romeo zieht es zu Julia wie Eisenspäne zu einem Magneten; wenn sich nichts in den Weg stellt, eilt er in gerader Linie zu seiner Liebe hin. Eine Mauer zwischen den beiden würde Romeo und Julia aber nicht dazu verführen, ihre Gesichter idiotisch gegen die Steine drücken, wie es Magnet und Späne täten. … und bald findet Romeo einen Weg, die Lippen von Julia zu küssen, über die Mauer hinweg oder um sie herum."
Diese Passage zitierte Erik Hoel, theoretischer Hirnforscher von der Columbia University in New York (USA), gerade 29 Jahre alt, kürzlich in einem Essay. Darin beschreibt er eine neue mathematische Theorie mit außergewöhnlichen Anspruch: Sie soll nichts weniger als die Entstehung des Bewusstseins und der Ursachen bewusster Handlungen erklären. Hoel argumentiert, dass es keine handelnden Wesen geben könne, sofern man die Welt mit den klassischen Augen des Reduktionismus betrachte. Für Anhänger dieser Weltsicht, darunter die meisten heutigen Wissenschaftler, seien die leidenschaftlichen Handlungen Romeos in Wirklichkeit nicht die Folge psychischer Zustände, sondern der unergründlich komplizierten Ursachen und Wirkungen zwischen den Atomen in Romeos Gehirn und Umgebung.
Diesen Reduktionismus lehnt Hoels Theorie der "Kausalen Emergenz" rundum ab. "Der Begriff beschreibt die Annahme, dass handelnde Wesen wirklich existieren", sagt Hoel. "Einfach zu sagen ‚Meine Atome haben mich dazu gebracht, dies oder jenes zu tun’ ist wahrscheinlich nicht die Wahrheit. Und das können wir vielleicht sogar bald nachweisen."
Romeos Gehirn mathematisch betrachtet
Den rein mathematischen Beweis, dass Handlungen mehr sein könnten als die Gesamtheit der atomaren Zustände im Gehirn, haben Hoel und seine ehemaligen Laborkollegen Larissa Albantakis und Julio Tononi der University auf Wisconsin in Madison nun vorgelegt. In der mathematischen Sprache der Informationstheorie argumentieren sie, dass die Ursachen vieler Ereignisse nicht in den Bausteinen makroskopischer Objekte liegen können. Stattdessen, so ihre Schlussfolgerung, könnten die makroskopischen Zustände eines physikalischen Systems (wie etwa der psychologische Zustand von Romeos Gehirn) die Zukunft des Systems oft besser vorhersagen, als eine noch so detaillierte Beschreibung des Systems es je könnte.
Simon DeDeo, Informationstheoretiker und Kognitionswissenschaftler an der Carnegie Mellon University und dem Santa Fe Institute, der an Hoels Arbeit nicht beteiligt war, fasst die Theorie der kausalen Emergenz so zusammen: "Makroskopische Zustände wie Leidenschaften oder Überzeugungen sind nicht nur sprachliche Hilfsmittel, die die echten [mikroskopischen] Ursachen zusammenfassend beschreiben. Makroskopische Zustände sind selbst echte Ursachen." Keine noch so genaue mikroskopische Beschreibung eines Systems könnte solche Ursachen von oben erfassen. Das treffe sich gut, findet DeDeo, denn über die Ursachen von Handlungen könne man in atomaren Begriffen sowieso kaum sinnvoll sprechen.
Die mathematischen Grundlagen der Theorie hatten die drei Forscher bereits im Jahr 2013 entwickelt, als Hoel Doktorant bei Tononi in Madison war. Im Mai 2017 veröffentlichte Hoel schließlich einen Artikel in der Fachzeitschrift "Entropy", in dem er die kausale Emergenz auf ein solides theoretisches Fundament stellt. Er zeigt dort, dass Prozesse auf der makroskopischen Ebene "kausale Energie" gewinnen können. Und das geschehe auf ganz ähnliche Weise wie bei einem Kode zur Fehlerkorrektur, der die Informationsmenge erhöht, die über einen Informationskanal geschickt werden kann.
"Ich halte diese Theorie für wirklich bedeutsam"George Ellis
Zurück geht der Ansatz auf den Mathematiker und Gründer der Informationstheorie, Claude Shannon, der im Jahr 1948 nachwies, dass bestimmte Kodes das Rauschen (und damit die informationstheoretische Unschärfe) bei der Datenübermittlung verringern können. Darauf aufbauend argumentiert Hoel, dass makroskopische Zustände ebenfalls das Rauschen (und damit die kausale Unschärfe) in der Struktur physikalischer Systeme reduzieren können. Dadurch werde das Verhalten des Systems auf der makroskopischen Ebene vorhersagbarer (und damit deterministischer).
"Ich halte diese Theorie für wirklich bedeutsam," sagt George Ellis, ein südafrikanischer Kosmologe, der sich wie Hoel mit der Idee der Verursachung von oben befasst. Ellis denkt, dass kausale Emergenz viele "emergente" Phänomene erklären kann, also solche, die sich aus dem Verhalten ihrer Teile nicht oder kaum vorhersagen lassen. Beispiele für solche Phänomene sind die supraleitende Materialien oder die Aggregatzustände der Materie. Manche Forscher glauben, dass die kausale Emergenz auch in anderen kollektiven Systemen wirken könnte, etwa in Vogelschwärmen oder Superorganismen – und vielleicht sogar in simplen Strukturen wie Kristallen und Wellen.
Grenzbereich zwischen Physik, Biologie, Informationstheorie und Philosophie
Unter Physikern ist die Theorie jedoch bisher nicht sonderlich bekannt. Das überrascht kaum, denn seit Jahrhunderten dominiert der Reduktionismus das physikalische Bild der Natur. Neue erkenntnistheoretische Ideen wie die kausale Emergenz fassen dagegen in den Grenzbereichen zwischen Physik, Biologie, Informationstheorie und Philosophie viel leichter Fuß. Ob die Theorie dauerhaft zum Verständnis der Beziehung zwischen dem Mikro- und Makrokosmos beitragen wird – etwa im Fall bewusster Entscheidungen — hängt ganz zentral von einer Frage: Was ist eine Ursache?
Was zum Beispiel ist die Ursache eines tödlichen Unfalls, wenn Alkohol im Spiel war? Ärzte würden vielleicht sagen, es war das Versagen des Gehirns. Psychologen sprächen wohl eher von verminderter Entscheidungsfähigkeit. Und ein Soziologe wäre dazu geneigt, als Ursache die unkritische Haltung in unserer Gesellschaft gegenüber Alkohol zu zitieren. "Aristoteles hat zwölf verschiedene Arten von Ursachen beschrieben", erläutert DeDeo. "Davon aber halten wir Wissenschaftler nur eine für valide: direkter Kontakt, Wirken durch Berührung."
Für einen Physiker sind alle Ursachen Zustände von Teilchen, die durch die Naturkräfte aufeinander wirken. Diese Kräfte wirken, wenn man sie isoliert betrachtet, vollkommen deterministisch und zuverlässig – zum Beispiel können Physiker die Pfade von Teilchen im Large Hadron Collider nach einer Kollision mit höchster Präzision vorhersagen. Schwer zu identifizieren sind Ursachen und Effekte in diesem reduktionistischen Weltbild nur dann, wenn die Zahl der Interaktionen so groß ist, dass man sie nicht gleichzeitig messen kann.
"Es ist schon ein bisschen mutig, über die Mathematik der Ursachen zu sprechen"Simon DeDeo
Und viele Philosophen betonen, dass eine einzige Ebene der Verursachung in einer kausalen Welt durchaus reiche, um alle Phänomene zu erklären. Eine zweite Ebene der Verursachung im Makrokosmos wäre dem so genannten "Ausschlussargument" zufolge eine unnötige Doppelung. Die Schlussfolgerung: Alle Kausalität geht vom Mikrokosmos aus. Trotzdem ist es meist zielführender, von Ursachen und Wirkungen auf der Ebene des Makrokosmos zu sprechen. Wenn man die Ursache eines tödlichen Autounfalls ergründen will oder verstehen, warum Romeo über Mauern klettert, "macht es einfach wenig Sinn, hinunterzusteigen bis zur Ebene der Nervenzellen", erklärt DeDeo. Genau da kommt Erik Hoel ins Spiel.
Hoel ist ein freundlicher, etwas schlaksiger Kerl. Aufgewachsen ist er im Buchladen "Jabberwocky" (Quatsch), den seine Eltern in Newburyport (Massachusetts, USA) betreiben. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden und studierte zuerst kreatives Schreiben. Noch heute schreibt er Geschichten, zurzeit einen Roman. Eine Frage aber ließ ihn nicht los: Was ist Bewusstsein und warum besitzen wir es? Als Hoel sich in der Forschungslandschaft umsah, bemerkte er, dass diese Frage noch viel Spielraum für Kreativität lässt. Also wechselte er nach seinem Abschluss im Kreativen Schreiben nach Madison in Wisconsin (USA), um bei Julio Tononi zu studieren, dem Einzigen, der nach Hoels Auffassung eine echte wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins entwickelt hatte.
Tononi hält Bewusstsein für eine Art Information: Bits, die nicht in den Zuständen einzelner Nervenzellen leben, sondern auf einer der höheren Ebenen der komplexen Netzwerke des Gehirns, in denen Gruppen von Gruppen von Gruppen (und so weiter) von Nervenzellen miteinander kommunizieren. Nach Tononis Auffassung ist die "integrierte Information" auf diesen höheren Ebenen unseres Gehirns das, was wir als subjektives Bewusstsein wahrnehmen.
Wie erzeugt man bewusste Gedanken und Entscheidungen?
Es war diese Theorie der "integrierten Information", die Hoel im Jahr 2010 in Tononis Labor nach Madison zog. Seine erste Aufgabe dort war es, zu erkunden, welche Form die Information auf den verschiedenen Ebenen eines simulierten neuronalen Netzes annimmt. Das nötige Grundlagenwissen in der Informationstheorie brachte Hoel sich selbst bei. Im nächsten Schritt ging es um die Frage, wie sich die Menge integrierter Information von einer zur nächsten Ebene des neuronalen Netzes verändert, wenn man nur die Verbindungen zwischen den Nervenzellgruppen betrachtet. Dabei versuchten Hoel und seine Kollegen herauszufinden, wie so ein Ensemble von Nervenzellen zusammengeschaltet sein muss, um ein Maximum integrierter Information zu erzeugen — und damit womöglich bewusste Gedanken und Entscheidungen.
Während dieser Lehrjahre tauchte Hoel in die philosophischen Debatten rund um Bewusstsein, Reduktionismus und Kausalität ab. Zurück an die Oberfläche kehrte er mit der Erkenntnis, dass man nur verstehen kann, wie Bewusstsein auf der Ebene des Makrokosmos entsteht, wenn man einen Weg findet, die kausale Wirkung verschiedener Hirnzuständen zu vergleichen. Einen Ansatz dazu fand Hoel in der Arbeit des Informatikers und Philosophen Judea Pearl. In den 1990er Jahren hatte Pearl eine logische Sprache entwickelt, mit der kausale Zusammenhänge gut analysierbar sind, die so genannte "kausale Analysis". In dieser Symbolsprache formulierten Hoel, Albantakis und Tononi ein Maß, das quantifiziert, wie stark der aktuelle Zustand eines Systems die folgenden Zustände zu beeinflussen vermag. Sie nannten es: effektive Information.
Angewandt auf neuronale Netze konnten die Forscher zeigen, dass die effektive Information in simplen neuronalen Netzen steigt, wenn man eng zusammengeschaltete Gruppen von Nervenzellen als Einheiten analysiert. Die möglichen Zustände dieser Einheiten bilden dann eine kausale Struktur und die Übergänge zwischen den Zuständen können mathematisch als so genannte Markov-Ketten beschrieben werden. Tatsächlich erreicht in einem solchen Modell die Menge effektiver Information ihr Maximum auf einer der makroskopischen Ebene — anders gesagt: eine übergeordnete Verbreitungsebene eines Systems kann die größte kausale Wirkung auf die künftigen Zustände des ganzen Systems haben. Fasst man die Einheiten auf dieser Ebene aber erneut zu einer Einheit zusammen und geht eine Ebene höher, gehen wichtige Details über die kausale Struktur des Systems verloren, und die effektive Information auf der nächsthöheren Ebene fällt wieder geringer aus.
"Kausalität verleiht dem Universum Struktur"Larissa Albantakis
Tononi und seine Kollegen vermuten, dass diese eine Ebene höchster effektiver Information im Gehirn (und damit höchster kausaler Wirkung auf das gesamte Gehirn) den Prozessen entspricht, die für das bewusste Entscheiden und Handeln verantwortlich sind. Ausgehend von funktionalen Hirnscans spekuliert Albantakis, dass dies wahrscheinlich die Ebene der Mikrokolumnen im Gehirn ist, deren funktionale Gruppen aus etwa 100 Nervenzellen bestehen.
Überhaupt möglich sei die Existenz der kausalen Emergenz aber nur, weil die Aktivität von Nervenzellen so verrauscht und redundant sei, sagt Hoel. Als einfaches Beispiel dafür könne man sich ein Netzwerk vorstellen, dass aus zwei Gruppen (A und B) von je zehn Neuronen besteht. Jedes Neuron aus Gruppe A ist mit mehreren Neuronen der Gruppe B verbunden. Wenn ein Neuron der Gruppe A feuert, führe das in der Regel dazu, dass mindestens ein Neuron in der Gruppe B auch feuert. Exakt welches Neuron in der Gruppe B das aber ist, sei nahezu unvorhersagbar.
Ist der Zustand der Gruppe A {1,0,0,1,1,1,0,1,1,0} — die Einsen und Nullen beschreiben, welche Zellen gerade feuert — dann kann das resultierende Muster in der Gruppe B fast jedes beliebige sein. Zwar werden im Schnitt auch in der Gruppe B sechs Neurone feuern. Aber auf Grund des Rauschens der neuronalen Aktivität ist das genaue Muster fast vollständig dem Zufall überlassen; anders gesagt, die kausale Wirkung der Mikrozustände ist fast hoffnungslos "indeterministisch". Fasst man aber beide Gruppen jeweils zu einer Einheit zusammen und geht damit eine Beschreibungsebene höher, ist der Zustand der Gruppe schlicht A {6} und führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Zustand {6} in der Gruppe B. Der Makrozustand des Netzwerks ist also viel zuverlässiger und effektiver und trägt daher mehr "effektive Information" über künftige Zustände des ganzen Systems.
Zusammenhänge auf einer höheren Ebene
So weit, so abstrakt. Ein reales Beispiel verdeutlicht, was gemeint ist. "Unser Leben ist voller Rauschen", betont Hoel. Wenn Sie mir einfach den Zustand aller ihrer Atome mitteilen, kann ich daraus niemals den Zustand ihrer Atome zwölf Stunden später ableiten. Kenne ich dagegen ihre psychologische oder physiologische Beschreibung, sieht die Sache schon viel einfacher aus: Wo werden Sie wohl in zwölf Stunden sein?" (Es war gerade Mittag, als er mich das fragte). "Vermutlich werden Sie im Bett liegen und schlafen. Das ist natürlich ein extrem einfaches Beispiel für kausale Emergenz. Aber es veranschaulicht, dass Zusammenhänge, auf einer höheren Ebene betrachtet, zuverlässiger sein können."
Hoel und seine Kollegen konnten mathematisch beweisen, dass jedes beliebige System sein Maximum effektiver Information auf jener Ebene erreiche, welche die größte und zuverlässigste kausale Struktur besitzt. Und das, sagt Hoel, könnte nicht für die Ebene bewusster Entscheidungen im Gehirn zutreffen, sondern auch auf alle anderen Objekte, die wir in der Welt wahrnehmen, auf Steine, einen Tsunami, einen Planeten … "Der Grund dafür, dass wir evolutionär auf die Wahrnehmung dieser Objekte eingestimmt sind, könnte darin liegen, dass sie auf der Ebene, die wir von ihnen wahrnehmen, am meisten effektive Information aussenden", sagt Hoel. "Das würde bedeuten, dass auch die Objekte unserer Wahrnehmung kausal emergent sind."
Noch ist Hoels Theorie vor allem eines: theoretisch. Deshalb plant er jetzt Hirnscan-Experimente in Madison und an der Columbia University in New York, wo er seit Kurzem Mitarbeiter im Labor des Hirnforschers Rafael Yuste ist. Außerdem werden beide Forschungsgruppen sich daran machen, die Ebene der maximalen effektiven Information in den Gehirnen mehrerer Modellorganismen zu identifizieren. "Auf welcher Ebene sticht die kausale Struktur des Gehirns heraus?" Das sei die entscheidende Frage, so Hoel.
Sollten die neuen Daten ihre Theorie der kausalen Emergenz bestätigen, würden die Forscher dies als Nachweis einer allgemeinen Tatsache der Natur verstehen. "Bei Handlungen oder Bewusstsein manifestieren sich diese Ideen vielleicht nur am deutlichsten", sagt William Marshall, ein Postdoktorand aus der Gruppe in Wisconsin. "Sollten wir herausfinden, dass es kausale Emergenz tatsächlich gibt, müssten die Grundannahmen des Reduktionismus neu bewertet werden." Mit weit reichenden Konsequenzen für die Wissenschaft.
"Wir bewegen uns hier auf so tiefem konzeptuellen Terrain, dass nicht mal wirklich klar ist, wie die Reise weitergeht"Sara Walker
Sara Walker ist Physikerin und Astrobiologen an der Arizona State University. Dort erforscht sie den Ursprung des Lebens. Von neuen Messgrößen wie der effektiven und der integrierten Information erhofft sie sich, Struktur im Graubereich zwischen toter und lebender Materie (grob zwischen lebenden Zellen und Viren) zu finden. Mit Tononis Team hat Walker bereits zusammengearbeitet, etwa beim Vergleich echter und künstliche Zellzyklen. Ihre vorläufigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass integrierte Information mit dem Zustand korreliert, den wir Leben nennen. Walker begeistert, dass es Hoel gelungen ist, die effektive Information auf das Fundament der Informationstheorie zu stellen. "Wir bewegen uns hier auf so tiefem konzeptuellen Terrain, dass nicht mal wirklich klar ist, wie die Reise weitergeht."
In einer anderen Arbeit stellte die Madison-Gruppe kürzlich eine Methode vor, mit der man kausale Emergenz leichter messen kann. Dieses "Blackboxing" funktioniere, so die Forscher, besonders gut bei Dingen wie einzelnen Nervenzellen. Da der Zustand einer Nervenzelle nicht einfach mit der Summe der Zustände seiner Komponenten beschrieben werden kann, lassen sich ihre Komponenten nicht einfach zu Einheiten zusammenfassen wie auf der Ebene eines ganzen neuronalen Netzes. Beim Blackboxing packt man ein Neuron deshalb gleichsam in eine Kiste und zählt nur ihre Inputs und Outputs als Repräsentation ihres Zustands. "Blackboxing ist die allgemeinste Form der kausalen Emergenz." erklärt Tononi in einer E-Mail. "Bei biologischen und mechanischen Systemen, könnte die Methode eine große Hilfe sein."
Robert Bishop, ein Philosoph vom Wheaton College, ist da schon etwas kritischer: "Ich bin der Auffassung, dass effektive Information ein nützliches Maß für Emergenz ist, wahrscheinlich aber nicht das einzige." Hoels Maß glänze mit Einfachheit, es stütze sich allein auf die Zuverlässigkeit und die Anzahl kausaler Verbindungen. Er denke aber, dass es nicht universell, also auf alle Arten komplexer Systeme anwendbar sein wird.
Besitzen höhere Ebenen mehr kausalen Einfluss?
Ganz am anderen Ende des Begeisterungsspektrums steht Scott Aaronson, theoretischer Informatiker an der University auf Texas in Austin (USA). Aaronson sagt, die fundamentalen Annahmen der kausalen Emergenz seien überhaupt nicht radikal. Hoels Essay "Agent above, Atom below" (pdf) (der mit Romeo und Julia) kommentierte Aaronson wie folgt: "Es war schwer darin irgendetwas zu finden, dem selbst der orthodoxeste Reduktionist der Welt widersprechen würde. Natürlich will man höhere Abstraktionsebenen nutzen, um Vorhersagen zu machen und um kausale Geschichten zu erzählen – der Essay zählt dafür lediglich ein paar Gründe auf. "
Hoel erwidert, Aaronson wolle nicht zugeben, wie tief das Problem tatsächlich liege. Seine Theorie beweise schließlich, dass "höhere Ebenen von Systemen mehr kausalen Einfluss besitzen als die darunterliegenden Ebenen. Das nachzuweisen, war der schwierige Teil und steht im direkten Gegensatz zum Denken der meisten Reduktionisten." Hoel und seinen Kollegen geht es tatsächlich um viel mehr, als mathematisch zu beschreiben, wie wir die Welt in kausale Geschichten kleiden können. Der Philosoph David Chalmers formulierte das Problem des Bewusstseins so: Es gibt ein "einfaches Problem", die Frage, wie neuronale Schaltkreise komplexes Verhalten erzeugen, und es gibt ein "hartes Problem", die Frage, was bewusste Wesen von Automaten unterscheidet. Hoel und seine Mitstreiter haben sich an die harte Frage gemacht. Denn sie versuchen zu zeigen, dass es Verursachungen auf höheren Ebenen bewusster Lebewesen gibt, die sie von anderen physikalischen Systemen unterscheidet.
"Es ist typische Physikerdenke, zu glauben, dass man bis ans Ende der Zeit alles vorhersagen kann, sobald man nur alle mikroskopischen Zustände des gesamten Universums kennt."Larissa Albantakis
"Ob effektive Information die kausale Wirkung misst, von der wir glauben, sie wahrzunehmen, jene, die wir uns unserer bewussten Wahrnehmung und uns selbst zuschreiben?", fragt Hedda Hassel Mørch, eine Chalmers-Schülerin von der New York University. Ihre Antwort lautet, dass effektive Informationen womöglich "echte ontologische Emergenz beschreibt, doch das würde eine neue Art des philosophischen Denkens über Naturgesetze und Kräfte verlangen, und wie diese in Beziehung stehen".
Regelmäßig haben Hoel und Albantakis mit einem Kritikpunkt zu kämpfen, den Physiker gerne anführen: Rauschen, die treibende Kraft hinter kausaler Emergenz, gebe es nicht wirklich. Rauschen ist für Physiker schlicht all das, was ihre Modelle außen vor lassen. "Es ist typische Physikerdenke, zu glauben, dass man bis ans Ende der Zeit alles vorhersagen kann, sobald man nur alle mikroskopischen Zustände des gesamten Universums kennt. Aus deren Sicht macht es keinen Sinn, von unterschiedlich starker kausaler Wirkung auf verschiedenen Ebenen zu sprechen", legt Albantakis dar. Was in diesem Weltbild der Physiker aber fehle, seien identifizierbare Gegenstände. Objekte könne man im kosmischen Zustand der Atome des Universums nur dann identifizieren, wenn man Ebenen verschieden starker Verursachung unterscheide.
Wie die höheren Ebenen den niederen die kausale Kontrolle abtrotzen, haben die Forscher um Hoel mit der kausalen Emergenz nun auf mathematischer Ebene gezeigt. "Es ist, als hätten wir die Tür einen Spalt breit geöffnet", sagt Hoel. "Wir können jetzt für bestimmte Systeme beweisen, dass sie Ursachen auf den höheren Ebenen erzeugen." Wer das immer noch nicht glaube, solle halt das Gegenteil beweisen.
Von "Spektrum der Wissenschaft" übersetzte und redigierte Fassung des Artikels "A Theory of Reality as More Than the Sum of Its Parts" aus "Quanta Magazine", einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
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