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Emotionen: Bloß nicht ausrasten!

Zetern, brüllen und rot anlaufen: Selbst die friedfertigsten Menschen gehen manchmal an die Decke. Doch warum sind wir überhaupt zornig? Und hilft es, seine Wut ab und an rauszulassen?
Wütende Frau

Wer den ungebrochenen, heiligen Zorn erleben will, der wird im Straßenverkehr fündig. Nichts lässt so zuverlässig die Gemüter hochkochen wie »der Idiot, der hier mit 30 Sachen durch die Gegend schleicht« und einem damit wertvolle Sekunden der eigenen Lebenszeit stiehlt. Die Psychologie hat das Phänomen längst für sich entdeckt. »Driving anger«, also die Wut beim Autofahren, hat sich bereits als eigenes Forschungsthema etabliert. Denn die Hitzköpfe der Landstraße werden häufig selbst zum Problem für andere Verkehrsteilnehmer. Zuvor in eine zornige Gemütslage versetzt, überfahren Probanden am Fahrsimulator zum Beispiel häufiger gelbe Ampeln. Das ergab eine israelische Studie von Rotem Abdu und Kollegen aus dem Jahr 2012. So genannte »high anger drivers«, die dauerhaft zu Wutausbrüchen hinterm Steuer neigen, sind gar eine Risikogruppe im Straßenverkehr: Sie lassen sich bis zu viermal häufiger auf aggressive Fahrmanöver ein und brechen messbar mehr Verkehrsregeln.

Längst existieren eigene Therapieprogramme, die Menschen helfen sollen, ihre Wut beim Autofahren besser in den Griff zu bekommen. Dort lernen die wutgeplagten Fahrer etwa, Provokationen gedanklich umzustrukturieren und ihnen mit mehr Gelassenheit oder gar Humor zu begegnen. Gemeinsam mit ihrem Therapeuten erarbeiten sie kurze Entspannungsrituale. Fünfmal tief durchatmen, wichtige Muskelgruppen lockern, eine bestimmte Wortformel (»Ich beruhige mich!«) mehrmals wiederholen: Schon derart einfache Gegenmaßnahmen helfen dabei, die vielen Zumutungen im Straßenverkehr gleichmütiger wegzustecken.

Zorn steht uns nicht gut zu Gesicht. Ein hochroter Kopf, angezogene Brauen, die Nüstern weit, die Augen zu Schlitzen verengt, während die Arme wild in der Luft herumfuchteln – nicht ganz zufällig erinnert die typisch zornige Körperhaltung an ein Kleinkind. In einem zivilisierten Umfeld gilt ungebremster Zorn als unschicklich. Wer regelmäßig zur Furie wird, positioniert sich gesellschaftlich schnell im Abseits. Der Ausdruck »aus der Haut fahren« zeugt davon, wie schnell wir im überbordenden Zorn unsere guten Manieren vergessen und für kurze Zeit nicht mehr wir selbst sind.

Manchmal üben Zornesausbrüche aber auch eine regelrechte Faszination auf uns aus: Der Schauspieler Klaus Kinski (1926–1991) hatte seine Beschimpfungssalven geradezu als Markenzeichen etabliert. Der frühere bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (1915–1988) war ebenfalls für sein hitzköpfiges Naturell bekannt – und bisweilen gefürchtet. Die Brandrede des italienischen Fußballtrainers Giovanni Trapattoni ging sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch ein: Nach der Niederlage des FC Bayern München gegen den FC Schalke 04 im Jahr 1998 machte er seinem Ärger in einer Pressekonferenz Luft, bezeichnete einige seiner Spieler als »schwach wie eine Flasche leer« und schloss mit den legendären Worten »Ich habe fertig«.

Ein Überbleibsel aus rauen Tagen

Selten sind solche Ausraster nicht: In Umfragen bekennen sich die meisten Befragten zu ein bis zwei Wutausbrüchen pro Woche – besonders häufig nach erlebtem Unrecht, wenn einem beispielsweise eine andere Person Schaden zugefügt hat und man nichts dagegen unternehmen kann. Vieles deutet darauf hin, dass Zorn im Lauf der Evolution eine wichtige Rolle gespielt hat. Wenn wir wütend sind, wird das Hormon Noradrenalin ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt: So bereitet sich der Körper auf eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion vor, die im Notfall die eigene Haut retten kann – etwa wenn es darum geht, einen tödlichen Angreifer abzuwehren. Wut soll uns zu Höchstleistungen beflügeln. Der Organismus setzt Energiereserven frei, richtet die Aufmerksamkeit auf die Bedrohung, und nicht zuletzt sendet er dem Gegner eine eindeutige Botschaft: Achtung, mit diesem Typ ist nicht zu spaßen!

Im urbanen Alltag des 21. Jahrhunderts kommt es glücklicherweise nur noch selten zu solchen Extremsituationen. Meist sind es eher alltägliche Ärgernisse, die das Blut in Wallung bringen: Die Stereoanlage des Nachbarn von unten wummert unaufhörlich, das Auto ist eingeparkt, der Chef hinterfragt das eigene Können. Da wirkt eine derart eruptive Reaktion völlig übertrieben – hier triumphiert eher, wer Contenance bewahrt und es versteht, seinen Ärger zu zügeln.

Serie »Die sieben Todsünden«

Stolz, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Trägheit – das sind in der christlichen Glaubenslehre die sieben Todsünden. Dabei ist der Begriff »Todsünde« im Grunde irreführend, denn gemeint sind eigentlich sieben Laster, die Menschen erst zu Sündern werden lassen. Auf »Spektrum.de« stellen wir alle sieben Todsünden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten vor.

Teil 1: Dürfen wir stolz sein?
Teil 2: Bloß nicht ausrasten!

Trotzdem haben die meisten Menschen nach wie vor ein recht feines Gespür dafür, zu erkennen, wann ein Gegenüber an die Decke zu gehen droht. Das zeigte etwa eine Untersuchung eines Schweizer Teams um den Psychologieprofessor Didier Grandjean. Während die Probanden bewegungslos im fMRT-Scanner verharrten, lauschten sie einem Text in einer Fantasiesprache, der teils mit zorniger, teils mit neutraler Stimmlage gesprochen wurde. Sonst glichen sich die Hörproben, sogar hinsichtlich der Lautstärke waren sie ausbalanciert. Dennoch rief das zornige Kauderwelsch ein charakteristisches Aktivierungsmuster hervor, und zwar in der obersten Furche des Schläfenlappens – einem Teil unseres auditiven Verarbeitungspfads. Das passt zu den Ergebnissen einer Metastudie von Hillary Elfenbein und Nalini Ambady von der US-amerikanischen Harvard University: Wenn in einer Stimme Wut mitschwingt, können wir diese unabhängig vom kulturellen Hintergrund deutlich besser identifizieren als beispielsweise Furcht oder Freude. Auf Porträtfotos gelingt es allerdings schlechter, die Emotion korrekt zu erraten.

Kulturelle Unterschiede

Wie wir auf den Zornesausbruch eines Gegenübers reagieren, hängt stark von unserer Sozialisation ab. Je nach Kulturkreis genießt der Zorn einen völlig anderen Stellenwert. Der frühere US-Präsident Bill Clinton musste das am eigenen Leib erfahren. Um ein Handelsdefizit mit Japan von fast 60 Milliarden US-Dollar auszugleichen, setzte sich Clinton 1994 mit dem damaligen japanischen Premierminister Morihiro Hosokawa an den Verhandlungstisch. Das jedoch ging gehörig schief: Angeblich zeigte sich Hosokawa abgeschreckt von dem schroffen Gesprächston Clintons, den er als wütend und bedrohlich erlebte. Am Ende blieben die großen Zugeständnisse aus – der erhoffte Deal platzte. Möglicherweise hätten Clintons Berater den Präsidenten besser auf die Verhandlung einschwören müssen: Seinen Ärger in Verhandlungen offensiv zur Schau zu stellen, geziemt sich in Japan weniger als in den USA.

Das zeigt auch ein Experiment von Hajo Adam von der US-amerikanischen Rice University und seinem Team. Ihre Probandengruppe bestand zur einen Hälfte aus europäischstämmigen US-Amerikanern, zur anderen Hälfte aus Menschen asiatischer Herkunft. Die Versuchspersonen sollten sich in die Rolle eines Handyverkäufers versetzen, der mit einem Kunden via Chat einen Servicevertrag aushandelt. Wenn sie im Gespräch bessere Konditionen für ihre »Firma« herausschlugen, stiegen danach ihre Chancen in einem Lotteriespiel – hartnäckiges Verhandeln lohnte sich also für die Teilnehmer.

Dass die Gegenseite lediglich computersimuliert war, konnten sie zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Hajo Adam und sein Team variierten die Reaktionen der Gegenseite: Mal hatten es die Versuchspersonen mit einem neutralen, mal mit einem eher wütenden »Kunden« zu tun. Doch nicht alle reagierten auf ihren virtuellen Chatpartner gleichermaßen: Mit einem zornigen Gegenüber konfrontiert, waren die asiatischstämmigen Teilnehmer zu weniger Zugeständnissen bereit, sie verhandelten also härter. Ganz anders die Versuchspersonen europäischer Herkunft: Diese gaben schneller nach, wenn ihre Chatpartner wütend wurden – letztlich zu Ungunsten ihrer Firma. Hatten sie es mit einem neutralen Verhandlungspartner zu tun, war das Muster genau umgekehrt: Hier gaben die Probanden mit asiatischem Hintergrund eher nach.

Derartige kulturelle Unterschiede sind allerdings keineswegs in Stein gemeißelt. In einer Folgestudie fügte Adam einen zusätzlichen Kniff ein: Er ließ vor dem Start der Studie bekannt geben, Wutgebaren sei in Verhandlungen durchaus üblich und in dem nun folgenden Gespräch völlig akzeptabel. Jetzt ließen auch die asiatischstämmigen Teilnehmer den virtuellen Zornesausbruch ihres Vertragspartners durchgehen und waren ebenso wie die US-Amerikaner bereit für Zugeständnisse.

Adams Experiment zeigt nicht nur, wie wandelbar der kulturelle Stellenwert von Zorn sein kann. Es legt auch nahe, wie nützlich Zorn und seine Zurschaustellung in bestimmten Kontexten sein können – etwa, um das Gegenüber mit sanfter Gewalt vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Ob exzessives Wutgebaren die höflichste Methode der Verhandlungsführung ist, sei jedoch dahingestellt.

Ungesunde Wut

Gut für die Gesundheit ist die ständige Raserei jedenfalls nicht. Als eine der sieben Todsünden kann uns übermäßiger Zorn tatsächlich früher ins Grab bringen. Allzu häufige Wutausbrüche sind ein Risikofaktor für Bluthochdruck und machen koronare Herzerkrankungen wahrscheinlicher. Dazu kommen die handfesten Folgen für die soziale Umwelt: Einige Studien rücken die Zornesneigung in die Nähe von Gewalt in der Partnerschaft, Kindesmisshandlung und sogar Mord. Das allerdings ist kein Automatismus. Zorn mündet nur dann in physische Aggression, wenn die vielen zwischengeschalteten Kontrollmechanismen allesamt versagen. Unter gewöhnlichen Umständen schützen uns Empathie und prosoziale Werte, aber auch die Furcht vor den möglichen Konsequenzen davor, dass sich die angestaute Energie sogleich in körperlicher Gewalt entlädt.

Bestimmte psychische Störungen machen unbändige Wutausbrüche jedoch wahrscheinlicher – beispielsweise Psychosen, das Borderline-Syndrom oder die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Häufige Zornesattacken erschweren es Kriegsveteranen mit Posttraumatischem Belastungssyndrom, sich wieder in den zivilen Alltag einzugliedern. Das Klassifikationssystem DSM-5 bietet mit der »intermittierenden explosiblen Störung« sogar eine eigene Diagnose für Patienten, die ihre aggressive Wut nicht in Schach halten können. Allerdings ist das Störungsbild umstritten, Kliniker vergeben die Diagnose nur selten.

Muss man seinem Ärger Luft machen?

Zorn ist demnach meistens peinlich, manchmal auch gefährlich, in jedem Fall aber nicht besonders gut für Herz und Gefäße. Was also tun, um bei einem Anflug von Zorn möglichst schnell wieder die Fassung zu gewinnen? Dampf ablassen, lautet ein häufiger Ratschlag. Die Idee geht auf die psychoanalytische Idee der Katharsis zurück, einer psychologischen »Reinigung« also: Die Wut müsse raus aus dem Organismus, sie brauche ein Art Ventil, damit sie sich nicht im Körper anstaue. Doch funktioniert der menschliche Geist wirklich nach derlei mechanischen Prinzipien?

Zahlreiche Studien haben versucht, das Katharsis-Konzept empirisch zu testen. Ein bekanntes Experiment stammt vom US-Psychologen Brad Bushman. 300 College-Studenten sollten hier zunächst einen Aufsatz zum Thema Abtreibung schreiben. Ein (fiktiver) Versuchspartner gab dann eine handschriftliche Rückmeldung über den Text, die jedoch ungeachtet des Inhalts stets die gleiche war: »Das ist einer der schlechtesten Essays, die ich je gelesen habe!«

»Dampf ablassen, um Wut zu reduzieren, ist, als würde man ein Feuer mit Benzin löschen«
Brad Bushman, Psychologe

Natürlich diente die Rückmeldung lediglich dazu, die Teilnehmer in Rage zu versetzen. Um ihrem Ärger Luft zu machen, durfte ein Teil der Versuchspersonen dann auf einen Boxsack einprügeln. Dabei sollten sie sich das Konterfei ihres Versuchspartners vorstellen, das ihnen zuvor über ein Porträtfoto präsentiert worden war. Mitglieder einer Kontrollgruppe mussten hingegen einfach nur dasitzen und abwarten – ohne Gelegenheit, sich abzureagieren. Das Ergebnis: Wer seinen Zorn über den Boxsack zu therapieren versuchte, war danach messbar wütender und aggressiver als die Teilnehmer aus der Kontrollgruppe, die ihre Zeit einfach nur absaßen und nichts taten. Anstatt Aggressionen abzubauen, hatte die vermeintliche Therapie alles nur noch schlimmer gemacht. »Dampf ablassen, um Wut zu reduzieren, ist, als würde man ein Feuer mit Benzin löschen«, resümiert Bushman. »Es macht die Flamme bloß stärker.«

Tatsächlich bewirkt die vermeintliche Katharsis oftmals ihr genaues Gegenteil. Wer seinem Ärger handfesten Ausdruck verleiht, kann sich damit bestenfalls kurzzeitig Erleichterung verschaffen. Auf lange Sicht aber provoziert er damit Rache und Vergeltungsschläge, die dann erneute Wutausbrüche nach sich ziehen. Auch ein Effekt namens »Verhaltensfeedback« könnte der Katharsis einen Strich durch die Rechnung machen: Denn häufig folgen die Gefühle unseren Taten, nicht umgekehrt. Wer seine Wut also frei auslebt, fühlt sich allein dadurch schon wütender als im Ruhezustand. Unser hitziges Gemüt ist zumeist ein schlechter Ratgeber in Situationen, in denen wir uns ungerecht behandelt fühlen.

So unbefriedigend es sich auch anfühlen mag: Oftmals ist es das Beste, sich abzulenken – oder auch einfach nur stoisch abzuwarten, bis der Wutausbruch vorübergeht und der kühle Kopf wieder Oberhand gewinnt. In seinen Schriften »Über den Zorn« empfahl der stoische Philosoph Seneca deswegen: »Das größte Gegenmittel gegen den Zorn ist der Aufschub.«

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