Empathie: Sind Traumata ansteckend?
Jahrelang quälten ihn diese Bilder: Wenn sich die Aufzugtüren bei der Arbeit öffneten, stellte er sich vor, wie brennende Menschen herausstürzten, wie ihre Schreie die Lobby erfüllten. Ganz so, wie es Menschen am 11. September 2001 in New York erlebt hatten. Nur: Der Mann, den wir in diesem Text Martin Wheeler nennen wollen, war an diesem Tag gar nicht in dem brennenden World Trade Center. Allerdings behandelte der klinische Psychologe in den Jahren nach dem Unglück Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung, die den einstürzenden Twin Towers entkommen waren und die schrecklichen Bilder nicht mehr loswurden. Im Zuge der langen und quälenden Gespräche gruben sich die Erinnerungen seiner Patienten auch in Wheelers Gedächtnis ein. Im Alltag drängten sie sich in seine Gedanken, im Schlaf kehrten sie in Form von Albträumen wieder. Er erlebte die ersten Panikattacken seines Lebens.
Der klinische Psychologe ist nicht allein. Zwar kommt ein großer Teil derer, die regelmäßig mit traumatisierten Mitmenschen konfrontiert werden, recht gut damit klar. Doch einigen geht es wie Wheeler. In den vergangenen Jahren mehrten sich Hinweise darauf, dass auch Therapeuten, Notfallhelfer, Polizisten oder Angehörige, die mit Kriegsveteranen, Verletzten, Drogensüchtigen oder sexuell missbrauchten Menschen zu tun haben, allein auf Grund dessen ebenfalls Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln können. Sie werden von so genannten Intrusionen – Bildern, Flashbacks und Albträumen – heimgesucht, durchleben die schrecklichen Ereignisse also wieder und wieder – obwohl es gar nicht ihre eigenen Erlebnisse sind. Sie befinden sich permanent in einem Alarmzustand, hervorgerufen durch stressbedingte Übererregung, leiden unter Schlafstörungen und fühlen sich hoffnungslos.
Für eine indirekte Traumatisierung genügt es, wenn jemand von den Details eines Traumas erzählt bekommt – aus zeitlicher Distanz und ohne direkte sinnliche Eindrücke vom eigentlichen Ereignis
Die fünfte Ausgabe des amerikanischen Psychiatrie-Diagnosemanuals DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) hat mittlerweile darauf reagiert. Für die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung bedarf es nicht mehr eines direkten Kontakts mit einem traumatischen Ereignis; man muss also nicht mehr vor Ort dabei gewesen sein, ob als Opfer oder Zuschauer. Es genügt nun, wenn jemand von den Details eines Traumas erzählt bekommt. In der Fachliteratur wird das Phänomen unter verschiedenen Labels erforscht, eines davon ist die »Sekundäre Traumatisierung«: eine Traumatisierung, die aus zeitlicher Distanz und ohne direkte sinnliche Eindrücke vom eigentlichen Ereignis entsteht. Je nach Studie und untersuchter Gruppe, etwa Therapeuten, Sozialarbeiter oder Angehörige, bewegen sich die Risiken für eine solche indirekte Traumatisierung meist zwischen 10 und 20 Prozent.
Eine Studie von 2013 kam zu dem Ergebnis: Unter mehr als 200 Menschen, die Angehörige des Militärs psychologisch oder psychosozial betreuten, erfüllte fast jeder fünfte die Kriterien einer Sekundären Traumatisierung. Eine weiterführende Analyse offenbarte zudem, dass die Zahl der Symptome wie Intrusionen oder stressbedingte Übererregung bei den Probanden ähnlich hoch war wie bei Rettungshelfern, Sozialarbeitern oder Drogenberatern. Und Forscher um die Psychologin Tamara Thomsen von der Universität Hildesheim stuften anhand von Antworten von rund 300 Traumatherapeuten auf einem Onlinefragebogen jeden fünften als moderat und jeden zehnten als schwer indirekt traumatisiert ein.
Auch Angehörige sind vor einer psychischen »Ansteckung« nicht gefeit. So fand etwa die israelische Traumaforscherin Zahava Solomon von der Universität Tel Aviv in diversen Studien bei einem Teil der Ehefrauen von ehemaligen Kriegsgefangenen eine indirekte Traumatisierung. Hingegen zeichnete eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 ein widersprüchliches Bild: Eltern von Kriegsveteranen schienen sich gar nicht »anzustecken«, und Kinder zeigten zwar Symptome, aber nicht allzu ausgeprägt. Am meisten machten die Kriegstraumata der Veteranen deren Partnern zu schaffen.
Wie Erinnerungsbilder von einem Kopf zum anderen springen
Jenseits aller Zahlen drängt sich natürlich die Frage auf, wie sich die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung überhaupt auf Helfer oder Angehörige übertragen. Warum sah etwa Martin Wheeler vor seinem inneren Auge jahrelang brennende Menschen aus Fahrstühlen stürmen, obwohl er am 11. September überhaupt nicht in den Twin Towers gewesen war? Gerade bei solchen sinnlichen Eindrücken ist es auf den ersten Blick besonders frappierend, dass sie in den Kopf eines anderen gelangen. »Anders als bei den primären Traumaopfern gibt es ja keinen direkten Input von den Sinnesorganen, der vom Gehirn im Gedächtnis abgelegt werden könnte«, sagt die Psychologin Judith Daniels von der Universität Groningen. »Es gibt nur die Vorstellungen davon.« Dass sich nicht allein abstrakte Gedanken, sondern tatsächlich auch sinnliche Eindrücke in den Köpfen der Zuhörenden festsetzen können, scheint mittlerweile recht sicher. Daniels verweist auf eine Studie von 2010. »Sie zeigte, dass, auch wenn ein Trauma nur verbal, also als Skript präsentiert wird, die Versuchsteilnehmer dennoch davon berichten, visuelle Intrusionen zu haben.«
Die Psychologin hat dafür eine mögliche Erklärung parat: »Die Gehirnregionen, die visuelle Vorstellungen erarbeiten, überlappen sehr stark mit Regionen, die visuelles Wiedererleben verarbeiten.« Für das Gehirn sei es auf einer gewissen Verarbeitungsebene vermutlich egal, ob die Bilder durch das Auge und den visuellen Nerv oder aber durch die Vorstellungsfähigkeit entstanden sind. »Wenn die Verarbeitung entsprechend läuft, können wohl beide als visuelle Intrusionen zu Belastungen führen.«
Doch warum kann mancher Therapeut, Helfer oder Angehörige das Gehörte vergleichsweise leicht verdauen, während ein anderer monate- oder gar jahrelang mit den Gedanken und Eindrücken ringt? Vieles deutet darauf hin, dass es auf die betreffende Person und ihre Situation ankommt. Die bereits erwähnte Untersuchung von Tamara Thomsen und ihren Kollegen ergab: Die Empathiefähigkeit, also das Vermögen, die Gefühle von Patienten emotional nachzuerleben, könnte das Risiko für eine sekundäre Traumatisierung erhöhen. »Wir haben einen Teil der Stichprobe der Studie anderthalb Jahre später noch einmal befragt und damit einen Einblick in den zeitlichen Verlauf gewonnen«, sagt Thomsen. »Und wir konnten feststellen: Therapeuten mit größerer emotionaler Empathie zeigten anderthalb Jahre später tendenziell eher eine sekundäre Traumatisierung.«
Bei Angehörigen von Traumaopfern könnte zudem fehlende Distanz ein Problem sein. So sind Ehefrauen von ehemaligen Kriegsgefangenen offenbar anfälliger für eine indirekte Traumatisierung, wenn sie sich zu sehr mit ihrem Ehemann identifizieren und möglicherweise dadurch dessen traumatische Erlebnisse verinnerlichen.
Traumata können sich über das Leben hinweg aufsummieren
Zudem diskutieren Forscher, ob nicht das Risiko einer indirekten Traumatisierung ansteigt, wenn der Betreffende selbst schon zuvor traumatische Erlebnisse zu verdauen hatte. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie zweifeln an der Möglichkeit einer sekundären Traumatisierung und vermuten in eigenen Traumata den Hauptgrund für die Symptome der Betroffenen. Immerhin könnten sich Traumata über das Leben hinweg aufsummieren; mit jedem Trauma werde also eine Posttraumatische Belastungsstörung wahrscheinlicher. Von einem traumatischen Ereignis erzählt zu bekommen, wäre dann vielleicht nur noch der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Wenn Therapeuten selbst eine Traumavorgeschichte haben, müsse man mit dem Begriff der »Sekundären Traumatisierung« durchaus vorsichtig sein, räumt auch Tamara Thomsen ein. »Dann lautet die Frage, ob es sich wirklich um eine Sekundäre Traumatisierung oder nicht vielmehr um eine Retraumatisierung handelt.« Selbst wenn die Diagnose letztlich dieselbe wäre: eine Posttraumatische Belastungsstörung.
Indirekte Traumatisierungen vollständig auf eigene Traumata zurückzuführen, hält Judith Daniels indes für wenig plausibel. Sie verweist auf die derzeitige Datenlage, darunter eine Metaanalyse von Jennifer Hensel von der University of Toronto und deren Kollegen. Sie hätten nur einen geringen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen eines eigenen Traumas und der Entwicklung einer Sekundären Traumatisierung gefunden. Mit der eigenen traumatischen Vorgeschichte ließ sich demnach nur ein kleiner Teil der Unterschiede in den Symptomausprägungen erklären. »Das ist also nicht nichts, aber keinesfalls eine ausreichende Erklärung dafür, wie diese Symptome zu Stande kommen«, so Daniels.
Die Psychologin ist in ihrer Forschung mit Therapeuten stattdessen auf einen weiteren wichtigen Risikofaktor gestoßen, der zunächst einmal etwas abstrakt daherkommt: eine dissoziative Verarbeitung des Erzählten. Dabei verändert sich die Wahrnehmung des Therapeuten, während ihm ein Patient von schlimmen Erlebnissen berichtet. Das eigene Handeln erlebt er plötzlich als automatisiert, wie auf Autopilot, während die äußere Welt irreal oder wie im Traum erscheint. Und das könnte eine indirekte Traumatisierung begünstigen. Denn Daniels zufolge laufen in diesem Zustand Gedächtnisprozesse verändert ab: Der Therapeut speichert das Berichtete ohne Informationen über Ort und Zeitpunkt des Geschehens und mit einer geringeren Differenzierung zwischen sich und dem Patienten ab. Auf Grund dieser besonderen Weise der Gedächtnisbildung erlebt er dann in der Erinnerung die Bedrohung als eine aktuelle, die sich gegen ihn selbst richtet.
Bis zu einem gewissen Grad hat man es demnach selbst in der Hand, inwieweit Berichte von traumatischen Erlebnissen die Psyche belasten. Denn erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass es durchaus wirksame Bewältigungsstrategien gibt. Beispielsweise kann ein Therapeut oder Helfer im Rahmen der Gespräche mit Patienten den Fokus auch auf positive Aspekte wie den möglichen Heilungsprozess richten. Auf diese Weise kann er, entsprechend seiner Rolle, den nötigen emotionalen Abstand zu den Betroffenen wahren, um so überhaupt in der Lage zu sein, ihnen weiterzuhelfen. Denn wer es nicht schafft, eine gewisse gesunde Distanz zu halten, nimmt die schrecklichen Erinnerungen irgendwann mit nach Hause – und wird selbst zum Patienten.
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