Meeresbiologie: Ende im Fischernetz
Den Chinesischen Flussdelfin (Lipotes vexillifer)hat es vermutlich schon getroffen. Das letzte Foto des kleinen Zahnwals, der nur im chinesischen Fluss Jangtsekiang beheimatet war, stammt aus dem Jahr 2002. Obwohl Wissenschaftler seitdem intensiv nach den rund zweieinhalb Meter langen Meeressäugern mit der schnabelförmigen Schnauze gesucht haben, fand sich keine Spur mehr von ihnen. Experten vermuten, dass die Art bereits ausgestorben ist, der geballte Druck von Wasserverschmutzung, Schiffsverkehr und Fischerei war offenbar zu viel für sie. Damit wäre der Chinesische Flussdelfin der erste Wal, den Menschen seit Beginn der Geschichtsschreibung ausgerottet haben. Naturschützer befürchten allerdings, dass er nicht der letzte bleiben wird.
Gerade unter den kleinen Zahnwalen gibt es einige Vertreter, die kurz vor dem Aussterben stehen. Dabei trachtet ihnen normalerweise kaum jemand absichtlich nach dem Leben. Anders als die großen Walarten, die früher zu Tausenden gezielt geschlachtet wurden, sterben Delfine und Co meist einen zufälligen Tod: Sie verheddern sich in Netzen, die eigentlich für Fische oder Meeresfrüchte ausgeworfen werden. Einmal in den Maschen gefangen, können sie nicht mehr zum Atmen auftauchen und ertrinken.
Die "kleine Kuh" in Gefahr
Genau das ist zum Beispiel das Problem des Kalifornischen Schweinswals (Phocoena sinus) – besser bekannt unter seinem spanischen Namen Vaquita, "die kleine Kuh". Dieser etwa eineinhalb Meter lange und bis zu 55 Kilogramm schwere Meeressäuger lebt nur im nördlichen Golf von Kalifornien vor der Küste Mexikos. Zu seinem Pech liegen dort aber auch lukrative Fanggründe für Fische und Garnelen. Immer wieder landen Vaquitas daher als Beifang in Fischernetzen.
Die Folgen dieser Verluste untersucht das internationale Wissenschaftlerteam Comité Internacional para la Recuperación de la Vaquita (CIRVA), das die mexikanische Regierung 1996 eingesetzt hat. Seit 1997 analysieren die Forscher, wie sich die Bestandszahlen der bedrohten Meeressäuger entwickeln – ein schwieriges Unterfangen. Denn Vaquitas sind scheue Tiere, die Schiffe meiden und nur wenig Zeit an der Wasseroberfläche verbringen. Zählungen aus der Luft oder vom Boot aus sind daher schwierig. Also lauschen die Walexperten mit Unterwassermikrofonen nach den Klicklauten, mit denen sich die Schweinswale orientieren und nach Beute fahnden. Aus der Häufigkeit dieser Töne lassen sich die Bestandszahlen abschätzen.
Viel Freude hatten die Forscher an ihren Daten zuletzt nicht. Dem CIRVA-Report vom August 2014 zufolge steht die Art unmittelbar vor dem Aussterben: Wenn der Beifang nicht sofort gestoppt werde, könne der Vaquita vielleicht schon im Jahr 2018 verschwunden sein, heißt es in dem Bericht. Nicht einmal mehr 100 Tiere sollen noch im Golf von Kalifornien schwimmen, darunter weniger als 25 geschlechtsreife Weibchen. Bei der letzten Schätzung von 2012 waren die Wissenschaftler noch auf etwa doppelt so viele Exemplare gekommen. Der Schweinswal-Schwund geht offenbar weiter – und das, obwohl seine Ursachen seit Jahren bekannt sind und die mexikanische Regierung bereits verschiedenen Maßnahmen in die Wege geleitet hat.
Kampf dem Beifang
So ließ sie beispielsweise im Jahr 2005 ein 1264 Quadratkilometer großes Schutzgebiet errichten und stellte dort die Stell- und Schleppnetzfischerei in bestimmten Bereichen mit hohen Vaquita-Dichten unter Verbot. 2008 wurde dann ein ausgefeilteres Schutzprogramm für die Meeressäuger verabschiedet. Erklärtes Ziel war es nun, den Beifang nicht nur zu reduzieren, sondern ganz zu unterbinden: Bis 2012 sollten sämtliche gefährlichen Netze nicht nur aus der Schutzzone, sondern aus dem gesamten Verbreitungsgebiet der bedrohten Art verbannt werden. Dazu wurden Programme gestartet, um Fischer für entgangene Einnahmen zu entschädigen, ihnen bei der Erschließung anderer Einkommensquellen zu helfen oder ihnen den Einsatz von walfreundlichen Netzen zu ermöglichen. Mehr als 30 Millionen US-Dollar hat die mexikanische Regierung zwischen 2009 und 2014 für solche Maßnahmen ausgegeben.
Doch so richtig gefruchtet hat das alles offenbar nicht. Man habe zu viel wertvolle Zeit verloren, kritisieren Experten wie der CIRVA-Vorsitzende Lorenzo Rojas-Bracho vom Nationalen Institut für Ökologie im mexikanischen Ensenada. So habe das Schutzgebiet in den ersten Jahren nur auf dem Papier existiert, für die Fischereibeschränkungen gab es teilweise widersprüchliche Vorschriften, die sich kaum kontrollieren ließen. Zudem wurden nur Netze mit Maschenweiten von mehr als 15 Zentimetern verboten, wie sie etwa für den Fang von Haien und Rochen eingesetzt werden. Feinere Netze für andere Fische oder Garnelen, in denen sich zum Teil deutlich mehr Schweinswale verhedderten, blieben außen vor.
Der Chinesische Flussdelfin wäre der erste Wal, den Menschen ausgerottet haben. Naturschützer befürchten allerdings, dass er nicht der letzte bleiben wird
Vor allem aber umfasst die Verbotszone bis heute nur einen Teil des Verbreitungsgebiets. Und selbst dort werden die Verbote längst nicht von jedem Fischer beachtet. Erst Anfang Dezember 2014 haben Walexperten der Weltnaturschutzunion IUCN Luftbilder veröffentlicht, auf denen 90 Fischerboote im Schutzgebiet zu sehen sind. Der Anreiz für die eigentlich verbotenen Fangaktionen ist groß. Vor allem die illegale Fischerei auf den Totoaba (Totoaba macdonaldi) boomt seit einigen Jahren. Dieser bis zu zwei Meter lange und 100 Kilogramm schwere Riesenfisch lebt im gleichen Gebiet wie der Vaquita und ist ebenfalls vom Aussterben bedroht. Was ihm zum Verhängnis wird, ist seine wertvolle Schwimmblase. Diese wird getrocknet und oft über die USA nach China geschmuggelt, wo sie als Suppenzutat mit angeblich heilkräftiger Wirkung beliebt ist. Ein Kilogramm bringt bis zu 8500 US-Dollar ein – eine Verlockung, der manche Fischer nicht widerstehen können. Immerhin ist das die Hälfte des Jahreseinkommens, das sich in der Region mit legalem Fischfang erzielen lässt.
Die CIRVA-Mitarbeiter fordern daher nicht nur eine Ausweitung des Verbots auf das gesamte Verbreitungsgebiet der "kleinen Kühe", sondern auch eine bessere Kontrolle der Vorschriften. Gemeinsam mit China und den USA müsse Mexiko zudem versuchen, den illegalen Totoaba-Handel in den Griff zu bekommen. Und man brauche neue Fangtechniken, die das Überleben der Schweinswale nicht gefährden.
Zumindest für die Shrimpsfischerei gibt es eine solche Alternative bereits. Ein kleines, leichtes Spezialnetz verhindert mit einer Reihe von Konstruktionstricks, dass sich Meeressäuger oder Schildkröten darin verfangen. Diese Netze sollen bis 2016 die tödlichen Vaquita-Fallen ersetzen. Im Dezember 2014 hat die mexikanische Regierung zudem einen neuen Plan angekündigt, der unter anderem ein zweijähriges totales Verbot der gefährlichen Netze im von CIRVA vorgeschlagenen Gebiet vorsieht. Ob das genügen wird, um den Vaquita zu retten, wagt derzeit noch niemand vorherzusagen.
Funktionierende Schutzgebiete
Dabei können Meeresschutzgebiete durchaus einen wertvollen Beitrag zur Rettung bedrohter Kleinwale leisten. Das haben neuseeländische Forscher am Beispiel des Hector-Delfins (Cephalorhynchus hectori) nachgewiesen. Dieser gerade einmal eineinhalb Meter große und 50 Kilogramm schwere Zwerg lebt nur in den flachen Küstengewässern Neuseelands, wo er auf die Jagd nach kleinen Fischen und Tintenfischen geht. Wassertiefen von mehr als 100 Metern scheinen die Tiere zu meiden, fast nie tauchen ihre rundlichen, wie ein Mickymaus-Ohr geformten Rückenflossen weiter als 15 Kilometer vom Festland entfernt auf.
Doch auch die Hector-Delfine verheddern sich in den Fangnetzen der vielen Fischer, die in der Region unterwegs sind. Große Verluste können die Bestände nicht verkraften. Denn Hector-Delfine werden spät geschlechtsreif und vermehren sich nur sehr langsam. Die Weibchen beginnen erst im Alter von sieben bis neun Jahren mit der Familiengründung und bringen nur alle zwei bis vier Jahre ein Kalb zur Welt. Bei einer für Walverhältnisse relativ kurzen Lebenserwartung von rund 20 Jahren kommen so im Durchschnitt nur vier Junge auf jedes Muttertier. Die Wachstumsrate einer Hector-Population liegt demnach bei zwei Prozent pro Jahr. Das reicht zwar, um natürliche Verluste auszugleichen, doch die Beifang-Problematik hat auch diese Art kräftig dezimiert. Anfang der 1970er Jahre sollen vor Neuseelands Küsten noch zwischen 21 000 und 29 000 Tiere geschwommen sein, inzwischen ist der Bestand auf weniger als 7500 geschrumpft. Die Weltnaturschutzunion IUCN stuft die Art als stark gefährdet ein.
Vor der Banks-Halbinsel an der Ostküste von Neuseelands Südinsel kamen zahlreiche Hector-Delfine in Fischernetzen ums Leben. Deshalb hat die neuseeländische Regierung dort 1988 das 1170 Quadratkilometer große Banks Peninsula Marine Mammal Sanctuary eingerichtet. Kommerzielle Fischerei mit so genannten Kiemennetzen ist dort verboten, Hobbyfischer dürfen ihre Netze nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Stellen einsetzen. Doch hilft das der bedrohten Art auch tatsächlich?
Um das herauszufinden, haben Andrew Gormley von der University of Otago im neuseeländischen Dunedin und seine Kollegen mehr als 20 Jahre lang die Delfine der Region fotografiert. Anhand von Narben, Kerben in der Rückenflosse und anderer besonderer Merkmale konnten sie 462 Tiere sicher wiedererkennen, anschließend zogen sie mit statistischen Methoden Rückschlüsse auf die jährliche Überlebensrate und das Populationswachstum. Mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit hat sich das Schutzgebiet demnach positiv ausgewirkt: Nach seiner Einrichtung lag die Überlebenswahrscheinlichkeit der Tiere um 5,4 Prozent höher als vorher, das jährliche Populationswachstum hat um sechs Prozent zugenommen.
Trotz solcher guten Nachrichten leben aber auch Neuseelands Delfine nicht in einer heilen Welt. Das gilt besonders für den Maui-Delfin (Cephalorhynchus hectori maui), der seit 2002 als eigene Unterart des Hector-Delfins anerkannt ist. Früher kam er in verschiedenen Regionen rund um die Nordinsel Neuseelands vor, noch 1970 soll es Schätzungen zufolge an die 2000 Tiere gegeben haben. Mittlerweile aber sind die Bestände auf ein paar klägliche Reste an der Westküste der Nordinsel geschrumpft, die IUCN hält die Unterart für vom Aussterben bedroht.
Die jüngsten Bestandsschätzungen bestätigen das. In den Jahren 2010 und 2011 hatten Wissenschaftler der neuseeländischen Naturschutzbehörde (Department of Conservation), der University of Auckland und der Oregon State University Gewebeproben für genetische Untersuchungen gesammelt. Aus den Proben erstellten die Forscher DNA-Profile von 41 verschiedenen Maui-Delfinen (PDF). So ließ sich nicht nur herausfinden, welches Tier sich zu welchem Zeitpunkt wo aufgehalten hatte, man konnte mit statistischen Methoden auch die Größe und die genetische Vielfalt der Population berechnen.
Die letzten 55
In diesen Daten stecken durchaus ein paar Hoffnungsschimmer. So gibt es offenbar mehr weibliche als männliche Maui-Delfine – ein gutes Zeichen, da sich geschrumpfte Populationen mit Frauenüberschuss oft leichter wieder erholen. Zudem handelt es sich um recht mobile Tiere, die offenbar mühelos Kontakt zu weiter entfernt lebenden Artgenossen halten können. Einer der Meeressäuger ist in drei Wochen immerhin rund 80 Kilometer weit geschwommen. Da sollte ein genetischer Austausch zwischen den einzelnen Gruppen kein Problem sein. Vielleicht können sogar gelegentliche Paarungen mit Verwandten anderer Unterarten für mehr genetische Vielfalt sorgen. Jedenfalls sind die Forscher zu ihrer eigenen Verblüffung auch auf zwei weit gereiste Hector-Delfine von der Südinsel gestoßen, die mit den Mauis schwammen. Sexuelle Kontakte zwischen beiden Arten hat bisher allerdings niemand beobachtet.
Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Maui-Delfin in einer äußerst prekären Lage befindet. Den Berechnungen zufolge sollen nur noch etwa 55 Tiere im Alter von mehr als einem Jahr vor den Küsten der Nordinsel schwimmen. Alle künftigen Generationen hängen von derzeit rund 20 erwachsenen Weibchen im Alter von mehr als sieben Jahren ab. Und der Vergleich mit früheren Erhebungen zeigt für den Bestand einen weiteren leichten Abwärtstrend von etwa drei Prozent pro Jahr.
Meeresbiologen haben keinen Zweifel daran, was hinter dieser Entwicklung steckt. Zwar haben Maui-Delfine wie viele andere Meeressäuger mit den verschiedensten Widrigkeiten zu kämpfen – von starkem Bootsverkehr über Lärmbelastung und Schadstoffe bis zum Rückgang der Beutetiere durch zu intensive Fischerei. Die größte Gefahr besteht aber auch in diesem Fall darin, als Beifang in Fischernetzen zu enden. 95 Prozent aller nicht natürlichen Todesfälle gehen auf diese eine Ursache zurück. Zu diesem Ergebnis kommt eine Risikoanalyse, die ein von der neuseeländischen Regierung beauftragtes Expertengremium im Jahr 2012 durchgeführt hat. Wenn sich daran nichts ändere, schrieben die Forscher bereits damals als Fazit ihrer Studie, werde der Bestand mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent weiter schrumpfen.
Genau dieser Fall ist offenbar auch eingetreten. Zwar hat die neuseeländische Regierung die Grenzen des 2008 eingerichteten Schutzgebiets West Coast North Island Mammal Sanctuary im Jahr 2013 noch einmal erweitert. In einem Teil der Maui-Lebensräume ist der Einsatz von gefährlichen Stell- und Schleppnetzen damit verboten. Aber eben nicht im ganzen Verbreitungsgebiet. Und das ist nach Einschätzung vieler Naturschützer und Wissenschaftler zu wenig.
So warnt der Wissenschaftsausschuss der Internationalen Walfangkommission IWC immer wieder vor dem kompletten Verschwinden des Maui-Delfins. "Der Ausschuss wiederholt seine extreme Besorgnis über den weiteren Rückgang einer so kleinen Population", heißt es im jüngsten Report des Expertengremiums aus dem Jahr 2014. Statt der im Jahr 2012 geschätzten fünf kämen mittlerweile zwar nur noch drei oder vier Tiere pro Jahr in Netzen ums Leben, aber das sei bei der geringen Bestandszahl eben immer noch zu viel. Um die Zukunft der Tiere zu sichern, müsse man im gesamten Verbreitungsgebiet alle artengefährdenden Fischereipraktiken verbieten – und zwar umgehend! Damit nicht schon bald der nächste Wal auf die Vermisstenliste gesetzt werden muss.
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