Energiesystem: Frankreich oder Deutschland – wer ist grüner?
Es gibt sie, diese Tage, an denen der Wind kräftig weht und außerdem noch die Sonne vom Himmel strahlt. Ein Fest für alle Windräder und Solarmodule. Dann geht es nicht nur an der Strombörse hoch her, sondern auch auf Twitter. Dort gibt es etliche Nutzer, die den Strommix minuziös verfolgen und sich gegenseitig mit Ratschlägen überbieten: Die Waschmaschinen sollten jetzt sofort eingeschaltet werden und die Elektroautos geladen, fordern sie. Denn der Strom sei jetzt besonders grün. Überhaupt sei der Überschuss ein Zeichen, dass die Energiewende vorangeht. Solche Tage, so glauben viele, machen Deutschland unabhängiger von Erdgas und Kohle.
Wenn sich dagegen der Wind wieder legt und sich Wolken vor die Sonne schieben, erwachen die Zweifler. Wie kann ein Land sich für klimafreundlich halten, wenn gerade fast der gesamte Strom aus Kohlekraftwerken stammt? Warum sind gerade die drei letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet worden, wenn wir dann in Dunkelflauten auf den Atomstrom unserer französischen Nachbarn angewiesen sind?
Das Energiesystem Europas erlebt derzeit einen gewaltigen Umbau – und es ist noch nicht klar, welcher Pfad der beste ist. An vielen Ecken und Enden holpert es. Lässt sich in dieser Situation überhaupt sagen, ob das eine Land Strom klimafreundlicher erzeugt als das andere? Die zwei größten Volkswirtschaften der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, eignen sich gut für einen Vergleich.
Frankreich: Klimafreundlichster Strommix Europas
Frankreich bezieht einen enorm großen Anteil seines gesamten elektrischen Stroms aus Kernenergie (siehe »Strommix im Vergleich für das Jahr 2022«). Theoretisch sind bis zu 78 Prozent möglich, damit ist das Land weltweit Spitzenreiter. Verglichen mit fossilen Kraftwerken können die laufenden nuklearen Kraftwerke als klimafreundlich gelten: Selbst wenn man den Abbau, die Verarbeitung und den Transport von Uranerz, die Aufbereitung der Brennstäbe sowie den Bau und den aufwändigen Rückbau abgeschalteter Kraftwerke berücksichtigt, ist die Kernkraft über den gesamten Zyklus hinweg lediglich für Emissionen zwischen 4 und 110 Gramm CO2 pro Kilowattstunde verantwortlich. Das ist laut einem Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) vergleichbar mit dachmontierten Fotovoltaikmodulen (35 Gramm pro Kilowattstunde), aber vor allem deutlich besser als die von Erdgas- (419 Gramm pro Kilowattstunde) oder gar Kohlekraftwerken (1150 Gramm pro Kilowattstunde).
Die momentane Praxis sieht allerdings anders aus: Französische Fachleute kämpfen seit Jahren mit den auftretenden Störungen der alternden Kraftwerke. Im Herbst 2022 waren 32 der 56 aktiven Reaktoren wegen technischer Probleme nicht am Netz. Lediglich 63 Prozent der Stromproduktion in Frankreich stammten im Jahr 2022 aus Kernenergie. Über zehn Monate des vergangenen Jahres hinweg war Frankreich dadurch Nettoimporteur, führte also mehr Strom ein, als es an seine Nachbarn abführte. Damit hat Frankreich den Tiefpunkt einer langsamen, aber stetigen Entwicklung erreicht, die schon 1993 begann.
Trotz der anhaltenden Engpässe hat Frankreich es jedoch geschafft, in seinem eigenen Energiesektor auch 2022 nicht mehr CO2 auszustoßen als früher. Denn während in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Kernkraftwerke vom Netz gingen, stieg der Anteil von Wind-, Solarenergie und Wasserkraft am Strommix im gleichen Zeitraum von 15 auf 24 Prozent. Einzig: Betrachtet man nicht nur den Strommix, sondern bezieht auch den Energiebedarf des Verkehrs, der Industrie und des Wärmesektors mit ein, ist Frankreich noch immer stark abhängig von fossilen Energieträgern. Mehr als die Hälfte dieser so genannten Primärenergie stammte 2021 aus Erdöl, Erdgas und Kohle. In Deutschland allerdings sieht die Bilanz noch deutlich schlechter aus.
Deutschland: Energiewende nicht einmal halb fertig
Das deutsche Wort Energiewende ist auch im Englischen bekannt, denn der Wechsel zu erneuerbaren Energien wurde ab den 1990er Jahren maßgeblich in Deutschland propagiert und angestoßen. Tatsächlich aber ist die Entwicklung nur scheinbar weit fortgeschritten: Im Jahr 2022 stammten laut Statistischem Bundesamt 46,3 Prozent des eingespeisten Stroms aus Wind-, Solar-, Bio-, Wasserenergie und Erdwärme. Das waren nur wegen überdurchschnittlicher Wind- und Sonnenerträge 4,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Denn der Ausbau der Windräder und Solarmodule wurde in den letzten zehn Jahren auf Grund von Maßnahmen wie dem Förderdeckel für Fotovoltaikanlagen und der Abstandsregel für Windanlagen politisch ausgebremst.
Der deutsche Energiemix hat ein offenes und vor allem schmutziges Geheimnis: einen großen Anteil fossiler Energieträger
Zudem hat der deutsche Energiemix ein offenes und vor allem schmutziges Geheimnis: einen großen Anteil fossiler Energieträger. Dazu zählt einerseits die Kohleverstromung, die im vergangenen Jahr wegen der Erdgaseinsparungen noch um 8,4 Prozent zulegte. Vor allem aber wird der Wärmebedarf in Deutschland noch zu großen Teilen fossil gedeckt: Rund 42 Prozent der Haushalte heizen mit Erdgas, fast 14 Prozent mit Erdöl. Auch die Fernwärmekunden (8,7 Prozent) lassen sich teilweise dem fossilen Sektor zurechnen, denn die Wärmenetze werden häufig aus Kohle- und Gaskraftwerken oder Ölraffinerien gespeist.
Trotz alledem sinkt die Kohleverstromung schon seit einem Jahrzehnt: Im Krisenjahr 2022 lag der Anteil von Kohle am Strommix ganze zwölf Prozent unter dem des Jahres 2013. Mit einem beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren und dem spätestens auf das Jahr 2038 festgelegten Kohleausstieg dürfte sich der langfristige Abwärtstrend weiter fortsetzen. Wegen des fossilen Energiebedarfs von Heizungen, Verkehr und Industrie in Deutschland aber bleibt der gesamte Energiemix sehr dreckig. Ganze drei Viertel der in Deutschland genutzten Primärenergie (siehe »Primärenergie im Vergleich für das Jahr 2021«) stammten 2021 aus Kohle, Erdgas und Erdöl, nur 18,5 Prozent aus erneuerbaren Energien.
Stromtrassen würden beim CO2-Sparen helfen
Die Richtung ist klar: Heizungen sollen ausgetauscht und zunehmend durch sparsame Wärmepumpen ersetzt werden, die zwar Strom brauchen, aber deutlich mehr Wärmeenergie aus der Luft, dem Boden oder Grundwasser nutzen. Auch Elektrofahrzeuge und industrielle Prozesse wie etwa die Stahlproduktion, die mit grünem Wasserstoff laufen sollen, werden in Zukunft mehr Strom benötigen. Dafür soll der Anteil der erneuerbaren Energien weiter zunehmen, gleichzeitig soll sich laut Bundesregierung die absolute Strommenge aus erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2030 mehr als verdoppeln.
Doch viel erneuerbarer Strom hilft nicht immer viel: Schon heute gibt es zwar Tage, an denen der deutsche Strommix nachhaltig zu sein scheint, weil viel Windenergie eingespeist wird. Weht jedoch übermäßig viel Wind in Deutschland, kann der Strom der zahlreichen unter Volllast laufenden Windkraftanlagen im Norden nur unzureichend in die südlich gelegenen Städte transportiert werden. Grund sind die fehlenden Stromtrassen.
Der Ausbau der Netze hinkt dem Ausbau der Erneuerbaren bislang enorm hinterher. Paradoxerweise fordert beispielsweise der Leitungsbetreiber TransBW gerade in Zeiten üppigen Windstroms die Stromkunden im Südwesten zum Sparen auf. Denn wenn die Leitungen quer durch das Land überlastet sind, steht ein so genannter Redispatch an: Die Netzbetreiber müssen dann aus dem Ausland Strom zukaufen, um das Netz stabil zu halten, und dieser Strom kommt meist aus fossil betriebenen Reservekraftwerken. Wer also an windreichen Tagen im Süden besonders viel Strom verbraucht, der verursacht größere CO2-Emissionen als gedacht – jedenfalls so lange, bis die Leitungen aus dem Norden besser ausgebaut sind.
Der Umfang solcher Redispatch-Maßnahmen an Tagen mit ungleichmäßiger Stromeinspeisung nimmt aktuell immer weiter zu und hat sich in nur sieben Jahren mehr als verdreifacht. Erst wenn der Ausbau der Leitungen zwischen Nord- und Süddeutschland mit dem Ausbau erneuerbarer Energien mithält, dürfte sich auch an windreichen Tagen ein positiver Effekt auf die CO2-Bilanz bemerkbar machen.
Wie der deutsche Süden in der Energiewende aufholen kann
Trotz all dieser Probleme ist die deutsche Energiewende nicht gescheitert, aber doch auf ganzer Linie stecken geblieben. Laut Bundesnetzagentur müsste das Stromnetz auf eine Länge von insgesamt 14 044 Kilometern ausgebaut werden; gerade mal ein Sechstel davon ist bisher realisiert. Mehr als die Hälfte der geplanten Vorhaben befinden sich noch im Planfeststellungsverfahren. Das heißt, es müssen Anwohner gehört und beteiligt werden, was die Vorhaben oft stark verzögert. Ausgerechnet gegen die Leitungen aus dem windreichen Norden nach Baden-Württemberg und Bayern gibt es bis heute großen regionalen Widerstand.
Neben dem Neubau der Nord-Süd-Stromtrassen könnte es auch helfen, die erneuerbaren Energien im Süden auszubauen. Würden Bayern und Baden-Württemberg ihre Windkraftkapazitäten zügig erhöhen, könnte ein Redispatch aus fossilem Importstrom bald viel seltener notwendig werden. Gleichzeitig könnten Wärmepumpen oder mit grünem Wasserstoff gespeiste Gas-Brennwertkessel den noch immer hohen CO2-Ausstoß beim Heizen verringern. Dadurch stiege zwar der Strombedarf, doch die neuen Verbraucher ließen sich ohne Komfortverluste zeitweise abregeln. Würde Deutschland auf diesem Pfad gut vorankommen, wäre schon 2030 ein ganz anderer Energiemix denkbar, lediglich ergänzt durch Gaskraftwerke, die noch kurzzeitig einspringen müssten. Die CO2-Emissionen würden dann laut Plänen der Bundesregierung um die Hälfte sinken.
Was ist besser: Kernkraftwerke oder Windräder?
Ist nun das französische Energiesystem CO2-ärmer als das deutsche? Der direkte Vergleich der Emissionen zeigt nicht das gesamte Bild: Es wird unterschlagen, dass beide Länder sich auf einem jeweils eigenen, sehr unterschiedlichen Pfad befinden. In Frankreich wird seit Jahrhunderten zentralistisch geplant, entsprechend dominieren Großanlagen in Form von Kernkraftwerken und großen Wasserkraftanlagen die Infrastruktur. Frankreich tut sich schwer, sich von dieser vorgegebenen Struktur zu lösen und zu einem System von Kleinanlagen zu wechseln.
Das erklärt, warum Präsident Emmanuel Macron im Oktober 2021 ankündigte, mit einem Investitionsprogramm »die Atomkraft neu zu erfinden«, um Frankreich damit CO2-neutral zu machen. Dieses Programm sieht vor, den nuklearen Brennstoff effizienter zu nutzen, um den stark strahlenden Abfall zu reduzieren sowie neue Kleinreaktoren einzusetzen.
Für eine sichere Stromversorgung in Deutschland müssen Wind- und Solaranlagen gleichmäßig übers Land verteilt sein
Auch in Deutschland gibt es Pfadabhängigkeiten, aber sie sind anderer Natur: Hier zu Lande gibt es schon lange ein System aus wenigen großen und vielen kleinen Energieanbietern. Das macht die kleinteilig gedachte Energiewende möglich. Doch diese Form des Systemumbaus bringt neue Probleme mit sich: Für eine sichere Stromversorgung müssen Wind- und Solaranlagen gleichmäßig übers Land verteilt sein. Da das bisher nicht gelungen ist, muss nun das Leitungsnetz stark erweitert werden.
Hinzu kommt, dass Deutschland seinen Ausstieg aus der Kernenergie endgültig vollzogen hat – und in wenigen Jahren auch die Kohlekraftwerke stilllegen möchte. Damit ist der Weg hin zu einem massiven Ausbau erneuerbarer Energien vorgezeichnet, eine Rückkehr ins alte System dürfte in einigen Jahren kaum noch möglich sein.
Unsichtbare Emissionen: Warum Kraftwerke nicht alles sind
Der Vergleich der Energiesysteme fällt allerdings nur scheinbar zu Gunsten von Frankreich aus: Pro Kilowattstunde genutzter Primärenergie stößt ein Mensch in Deutschland laut dem Global Carbon Project aktuell rund 58 Prozent mehr CO2 aus als ein Mensch in Frankreich. Ein Teil der jeweiligen Emissionen stammt aber gar nicht aus den eigenen Schornsteinen und Auspuffen. Beide Länder haben in den letzten Jahrzehnten Teile ihrer Schwerindustrie verlagert. Fabriken, Hochöfen oder Bergwerke werden heute in Osteuropa, Südamerika oder Fernost betrieben, während verarbeitete Rohstoffe und Produkte aus diesen Ländern wiederum eingeführt werden. Doch für diese externalisierten Emissionen sind deutsche und französische Bürgerinnen und Bürger durch ihren Konsum mitverantwortlich.
Der französische Hohe Klimarat kritisierte die hohen importierten Emissionen der Franzosen in einem Bericht von 2020: 70 Prozent der französischen Emissionen seien indirekt. Demnach stoße Frankreich pro Kopf direkt nur 6,7 Tonnen CO2-Äquivalente aus – doch weitere 11,5 Tonnen sind auf importierte Emissionen zurückzuführen, unter anderem vom größten Handelspartner Deutschland, aber auch aus den USA oder China.
Die deutschen Importe fallen zwar weniger stark ins Gewicht und belaufen sich bloß auf rund 1,3 Tonnen CO2-Äquivalente pro Bundesbürger. Dennoch liegt allein dieser Wert über dem CO2-Budget von einer Tonne, das jedem Menschen pro Jahr maximal zur Verfügung steht, um die Pariser Klimaziele einzuhalten. Bis Deutschland und Frankreich wirklich klimaneutral sind, ist also in beiden Ländern noch viel zu tun.
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