Energiewende: Wenn das Stromnetz mitdenkt
Sonne und Wind scheinen beziehungsweise wehen, wann sie wollen. Das macht die Stromproduktion aus diesen Quellen recht volatil und stellt Energieversorger und Netzbetreiber vor neue Probleme: Wie das Stromnetz und die Versorgung von Privatkonsumenten und Industrie stabil halten? Möglich wären drei verschiedene Wege: der Ausbau des Stromnetzes in ein leistungsstarkes und bestenfalls grenzenüberschreitendes Verbundnetz, die Zwischenspeicherung elektrischer Energie sowie das intelligente Steuern von Angebot und Nachfrage nach Strom – Letzteres bekannt als Smart Grid, als "intelligentes Netz". Diese Aufgabe zu meistern dürfte wohl die technisch anspruchsvollste sein, wenngleich der langjährige Präsident des Bundesverbands Informationswirtschaft BITKOM, August-Wilhelm Scheer – selbst Unternehmer, Wirtschaftsinformatiker und Vater dreier Kinder – auf Konferenzen dem Publikum gern scherzhaft versichert: "Im Grundsatz ist bereits alles gelöst, genauso wie bei der Kindererziehung."
Doch der Teufel steckt im Detail und in der Umsetzung: Energieversorger freut es mittlerweile vor allem, wenn Kunden gerade Strom brauchen und gleichzeitig die Sonne lacht und eine frische Brise weht – selbst wenn diese Wetterlage in Deutschland eher selten ist. Denn dann erzeugen Fotovoltaikanlagen und Windturbinen gewaltige Mengen an Elektrizität: Dank einer mittlerweile installierten elektrischen Leistung von etwas mehr als 60 Gigawatt können Windkraft und Solarzellen bei günstigen Bedingungen rechnerisch schon heute oft den gesamten Strombedarf Deutschlands decken, der je nach Saison und Tageszeit zwischen 30 und 80 Gigawatt liegt. Immer öfter herrscht daher in deutschen Landen ein Überangebot an Elektrizität.
Infolgedessen geben an wolkenlosen oder windigen Tagen regelmäßig die Preise an der Leipziger Strombörse nach – wovon der Privatkunde jedoch oft nichts mit- oder gar abbekommt. Die deutschen Stromnetzbetreiber wissen an solchen Tagen dann aber auch nicht mehr, wohin mit dem vielen Strom und exportieren Unmengen davon in die Nachbarstaaten, oft zum Selbstkostenpreis oder gar gegen Bezahlung: Es kann dann vorkommen, dass zum Beispiel die Niederlande günstigen deutschen Windstrom erhalten und dafür auch noch Geld kassieren. Denn ohne ausreichend potente Abnehmer im Inland belastet der Strom das Netz: Die Spannungsspitzen der Wechselspannung steigen und mit ihr die Frequenz. Doch vertragen empfindliche Verbraucher oft nur ein sehr enges Spannungs- respektive Frequenzband: In Deutschland darf die Wechselspannung nicht weniger als 49,8 Mal und nicht öfter als 50,2 Mal pro Sekunde ihre Polarität wechseln – ansonsten drohen Schäden bei elektrischen Geräten. Notfalls lassen Netzwerkbetreiber zur Stabilisierung des Netzes deswegen überschüssige Stromquellen abschalten. Wegen der Trägheit der fossilen und atomaren Kraftwerke, die langwierig hoch- und runtergefahren werden müssen, betrifft das oft Windräder. Denn nicht alle dieser dezentralen Energieerzeuger sind mit modernen Wechselrichtern ausgestattet, die so genannte "Blindleistung" erzeugen können. Sie kann jedoch nur über kurze Entfernungen transportiert werden, was ihre dezentrale Produktion erforderlich macht. Und ohne Blindleistung lassen sich keine elektrischen und magnetischen Felder aufbauen, dafür entfaltet sie im Netz keine Wirkung und trägt somit zu dessen Stabilität bei.
Dezentrale Datenquelle
"Intelligente" Netze auch auf Niederspannungsebene sollen künftig helfen, derartige Kapriolen zu entschärfen. Denn die heutigen Netzleitsysteme beschränken sich nahezu ausschließlich auf die Überwachung und Steuerung der Hoch- und vielleicht noch Mittelspannungsebene. Doch befinden sich über zwei Drittel der in Deutschland installierten Fotovoltaikleistung mit ihrer unregelmäßigen Einspeisung in den Niedervoltnetzen, rechnet das Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik vor. Über deren Belastung wissen die Betreiber aber oft zu wenig.
Digitale Stromzähler in Haushalten und Betrieben könnten deswegen als Datenquellen dienen, so die Hoffnung der Ingenieure: Sie sollen zeitnah den aktuellen Strombedarf ermitteln. Zudem sollen sie die Verbraucher darüber informieren, wann Strom im Netz im Überfluss vorhanden ist. Familien, Unternehmen sowie Industrien sollen dann versuchen, ihren Verbrauch in diese Zeiten zu legen. Das kann über fernsteuerbare Geräte auch automatisiert funktionieren, Anreiz könnte ein besonders günstiger Stromtarif sein.
Nach Angaben des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) liegt das technisch über einen Tag nutzbare Leistungspotenzial derzeit bei knapp neun Gigawatt. Das entspricht dem Bedarf von etwa vier Millionen Haushalten. Und das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung taxiert die gesamtwirtschaftlichen Effekte intelligenter Netze für die deutsche Volkswirtschaft auf jährlich insgesamt knapp 56 Milliarden Euro.
Sechs Modellregionen erprobten deshalb im Rahmen des Förderprogramms "E-Energy" der Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft, wie das Energienetz der Zukunft aussehen könnte: Karlsruhe/Göppingen, Mannheim, Cuxhaven, Aachen, der Harz sowie das Rhein-Ruhr-Gebiet entwickelten in den vergangenen vier Jahren dazu die Kernelemente eines intelligenten Stromnetzes und sammelten Erfahrungen mit deren Betrieb. Eine wichtige Erkenntnis war, dass Gewerbebetriebe ihren Stromverbrauch in der Spitzenlast um bis zu zwanzig Prozent verschieben konnten, Privathaushalte um bis zu zehn Prozent. Experten sprechen ferner von effektiven Energieeinsparungen um die drei Prozent. Für einen Standardhaushalt mit einem Jahresverbrauch von etwa 4000 Kilowattstunden im Jahr entspräche das allerdings nur einer finanzielle Entlastung von weniger als fünf Euro monatlich.
Großer Aufwand, geringer Nutzen?
Diese Zahlen versetzen weder Kunden noch Energieversorger in Euphorie. Unterschätzt wurde offensichtlich die zeitliche Fixierung vieler Tätigkeiten: Denn wer möchte schon um Mitternacht bügeln oder Essen am Elektroherd zubereiten und welcher Bäcker seine Brötchen erst am Nachmittag backen? In allen Regionen hatte sich ferner die – wenig überraschende – Einsicht durchgesetzt, dass lokal erzeugter Strom am besten auch regional verbraucht werden sollte. So bezog die Cuxhavener Modellregion neben einigen hundert Testhaushalten auch zwei große ortsansässige Kühlhäuser, das Stadtbad sowie eine Kläranlage in die Tests mit ein. Insbesondere die großen Gewerbekunden nahmen immer dann Strom ab, wenn er gerade reichlich von den küstennahen Windturbinen produziert wurde. Als Puffer entlasteten sie damit die Übertragungsnetze.
Die "Modellstadt Mannheim" setzte zusätzlich auf Selbstorganisation. "Bislang hat man die Stromnetze zentral gesteuert", erläutert der Innovationsmanager Robert Thomann von der Mannheimer MVV Energie AG: "Wir optimieren das Energiesystem von unten nach oben." Die Mannheimer betrachteten es sozusagen als Organismus und vergleichen es mit einem Baum: Zentrale Systeme bilden den Stamm, mehrere Dutzend Gebäude bilden als Verteilnetzzellen einen "Ast", kleinste Objekte – die Blätter – sind die einzelnen Häuser.
In jedem agiert ein so genannter Energiebutler. Er übernimmt das Strommanagement für die Bewohner, die nicht ständig den Verbrauch im Auge behalten und gegebenenfalls Geräte ein- oder ausschalten können – zumal nachts, wenn die Strompreise sinken. Jede Verteilnetzzelle im Mannheimer Modell besitzt ferner einen Netz- und einen Marktmoderator, die beide Automatisierungsgeräte sind. Ersterer schaut, dass die Zelle physikalisch und logistisch einwandfrei funktioniert. Die Maschine kümmert sich ferner um den automatischen Stromausgleich mit den Nachbarzellen. Ihr sitzt ein Marktmoderator zur Seite, mit dem Kunden ihren selbst erzeugten Strom an einer Strombörse verkaufen könnten.
Durch ihr zellulares Konzept bauen die Mannheimer zudem einer weiteren Angst der Menschen vor: Viele befürchten, dass die lokalen Energieversorger mit einer sekundengenauen Stromverbrauchserfassung die Nutzungsgewohnheiten der Haushalte ausspähen wollen, weswegen es einige Ressentiments gegen diese smarten Apparaturen gibt. Vielleicht liegt es daran, dass es in einigen Feldtests schwer fiel, Kunden für das Thema zu mobilisieren. Andere haben Probleme, die neue Technik fachgerecht zu bedienen oder die neuen Produkte und Dienstleistungen zu verstehen.
Außerdem sind einer Forsa-Studie zufolge nur etwa vier Prozent der Haushalte bereit, für einen neuen digitalen Zähler, der die Basis einer intelligenten Netzsteuerung wäre, Geld zu zahlen. Das hören die Energieversorger und Netzbetreiber gar nicht gern; fordern sie doch gut einhundert Euro für den Austausch des alten, schwarzen Ferraris-Zählers und kalkulieren gleichzeitig mit höheren monatlichen Mietgebühren. Kein Wunder, dass nach besagter Forsa-Studie über 70 Prozent der Verbraucher glauben, die Versorger wollten den Umbau des Netzes im Wesentlichen dazu nutzen, die Preise zu erhöhen.
Generell dürften sich die Stromanbieter respektive Netzbetreiber daher wohl noch lange mit Akzeptanz und ökonomischen Problemen herumschlagen. Zumal wegen der zunehmenden Produktion erneuerbarer Energien seit geraumer Zeit die Erzeugungskosten für Strom sinken und die Versorger deswegen ihre Preise nur wenig senken können, wenn ansonsten alle Steuern, Abgaben sowie Netzentgelte gleich blieben. Bis sich dann die Investitionen in die neue Technik amortisiert haben, vergehen daher viele Jahre.
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