England: Industrialisierung setzte 100 Jahre früher ein
Mitte des 18. Jahrhunderts änderte sich das Leben vieler Menschen in England tief greifend. Es war der Beginn des Maschinenzeitalters. Mechanische Webstühle und Spinngeräte, angetrieben durch Kohle und Dampf, lösten die Handarbeit ab und ermöglichten die Massenproduktion von Textilien. Menschen, die einst ihre Arbeit als Bauern verrichteten, strömten nun in die Fabriken. Diese Entwicklung der industriellen Revolution soll laut Historikern der University of Cambridge jedoch deutlich früher begonnen haben als bislang angenommen. Bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts habe es in England und Wales sehr viel weniger Bauern gegeben als zuvor. Zugleich sei ein Anstieg in herstellenden Berufen und in der Dienstleistung zu verzeichnen gewesen. Das ergab eine Auswertung von Millionen historischer Dokumente durch ein Team des Historikers Leigh Shaw-Taylor. Ihre Erkenntnisse, über die die Fachleute seit 2003 in zahlreichen Publikationen berichten, führten sie nun auf einer Website zusammen.
»Unsere Datenbank zeigt, dass ein Anstieg von Unternehmertum und Produktivität die Wirtschaft im 17. Jahrhundert umformte«, erklärt Shaw-Taylor laut seiner Universität. »Das legte den Grundstein für die erste industrielle Wirtschaft der Welt« in England. Ihre Ergebnisse verdichtete die Forschergruppe in Grafiken und Karten, die einen Zeitraum von 1600 bis 2011 abdecken. Die Darstellungen geben wieder, wie viel Prozent der Bevölkerung – unterteilt nach Männern, Frauen und Kindern – wann in welchen Berufsfeldern tätig waren. Letztere unterteilten die Historiker in drei Sektoren: Landwirtschaft, Herstellung und Dienstleistung.
So zeigte sich, dass um 1600 ungefähr 64 Prozent der männlichen Bevölkerung in England und Wales als Bauern arbeiteten. 140 Jahre später lag der Anteil nur noch bei 42 Prozent. Im selben Zeitraum stieg demgegenüber die Zahl der Männer, die in der Herstellung – als Schreiner, Schneider, Schuhmacher, Schmied oder Stellmacher – tätig waren, von 28 auf 42 Prozent. Damals sah die Lage in den übrigen europäischen Ländern völlig anders aus: Es gab deutlich mehr Landwirte und viel weniger Menschen waren als Handwerker tätig.
Weniger Zolltarife und geringe Handelskontrolle kurbelten die Industrialisierung an
Warum die Industrialisierung gerade in England so früh ihren Anfang nahm, ist nach Ansicht der Forscherinnen und Forscher nicht ganz klar. Ein Grund könnte sein, dass es auf den Britischen Inseln kaum Zollgrenzen und damit kaum unterschiedliche Zolltarife gab. Zudem hatten Händlergilden weniger Einfluss auf die Märkte als auf dem Kontinent. Das begünstigte in England die Entstehung von Handwerksgruppen, die Güter produzierten wie »Fabriken ohne Maschinen, verteilt auf hunderte Haushalte«, so Shaw-Taylor. Diese hätten auch bald internationale Märkte bedient.
In der Zeit um 1750, die als Beginn der industriellen Revolution gilt, habe sich dann an der Verteilung der Berufsfelder nicht wirklich viel verändert. Die Männer in den herstellenden Berufen konnten jedoch mehr Güter produzieren – auf Grund der Technisierung. Ihre Zahl sei aber stagniert. Auch in der Landwirtschaft gingen kaum Jobs verloren. In einigen Regionen sei der Anteil der Bauern an der Bevölkerung sogar wieder gewachsen. All das habe an einer Verschiebung der Standorte gelegen: Die Handwerksgruppen und die Fabriken siedelten sich nun um die Kohleabbaugebiete an, also in nächste Nähe zum Energieträger für die Dampfmaschinen. Währenddessen erstarkte in anderen Teilen des Landes wieder die Landwirtschaft.
Die Forscher machten in ihren Daten auch einen dauerhaften Trend aus: Beginnend im 17. Jahrhundert bis in die Jetztzeit waren immer mehr Menschen in Dienstleistungsjobs tätig – als Händler, Ladenbesitzer, Verkäufer, Dienstboten, Anwälte, Lehrer und vor allem als Angestellte im Schiffs- und Zugverkehr. Heute sind die meisten Menschen der Industrieländer in der Dienstleistung tätig, mehr als 70 Prozent der Bevölkerungen in Europa, Nordamerika oder Japan.
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